Freuden und Tage war noch nicht erschienen, als der junge Literat Proust an einem weit ehrgeizigeren Projekt zu arbeiten begann. Die zuvor in literarischen Kleinformen erprobten Themen und Stile sollten nun im Kontinuum eines Romantextes aufgelöst werden. In enger Anlehnung an eigene Erlebnisse, an literarische und malerische Vorbilder sowie an die psychologische und soziologische Forschung seiner Zeit unternimmt es Proust, das Leben seines Helden, Jean Santeuil, als idealistisch-naturphilosophischen Entwicklungsroman zu erzählen. So entsteht zwischen 1895 und 1899 ein umfangreiches Manuskript, ohne dass es dem Autor gelänge, die einzelnen Fragmente zu einem Ganzen zusammenzufügen. 1899 hat Proust den Entwurf beiseitegelegt, um sich einem neuen Arbeitsfeld zuzuwenden. Unter dem Titel Jean Santeuil wurde das Manuskript 1952 zum ersten Mal veröffentlicht. 1971 wurde das Werk in einer zweiten, stärker auf das Fragmentarische abhebenden Ausgabe präsentiert, die außerdem zahlreiche zuvor nicht berücksichtigte Texte enthält. Die vorliegende Ausgabe folgt dem Text der zweiten Ausgabe. Im Kommentar werden das biographisch-historische Umfeld und der literarische Kontext des Werkes zum ersten Mal umfassend aufgearbeitet und ausführlich dargestellt.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 15.11.1997Als Pegasus zum Schlachter kam
Mimikry mit Fußnoten: Wolf Lepenies rettet Sainte-Beuve vor Marcel Proust · Von Thomas Steinfeld
Einer hat Pegasus durch den Fleischwolf gedreht, und der Zeichner André Gill hat dem Schlachter ein Porträt gewidmet. Von der ersten Seite der Wochenzeitschrift "L'Éclipse" lächelt im Mai 1868 der Literaturkritiker Sainte-Beuve unter seinem Samtkäppchen. Breitbeinig steht er auf der Werkstatt seines Ruhms. Die eine Hand hat den Schinken ergriffen, die andere schwingt eine Kette mit Würsten, und im Hintergrund ist zu erkennen, was von Pegasus übrigblieb - die Flügel, die nun lose neben einem aufgeblasenen Darm hängen.
"Meisterwerke und Schlachtstücke", steht an der Wand der Fleischerei. Ihr Dach besteht aus einem aufgeschlagenen Buch. "Volupté" oder "Wollust" lautet sein Titel, denn mit dieser weniger sinnlichen als sentimentalen Autobiographie wollte Sainte-Beuve als junger Mann die literarische Welt erobern. Getragen aber wird das Dach von einem Balken mit der Inschrift "Lundis": Unter dem Titel "Causeries du lundi" erschienen ab 1841 die Rezensionen und Porträts des Kritikers, zuerst im "Constitutionnel", dann im "Moniteur", jeweils am Montag, Woche für Woche, fast zwanzig Jahre lang, und dann gab es noch eine Fortsetzung in den "Nouveaux lundis". Mit dieser journalistischen Fronarbeit wurde Charles-Augustin Sainte-Beuve zur zentralen Gestalt des literarischen Lebens in Frankreich.
Man kennt ihn noch heute, auch wenn seine Werke kaum gelesen werden. Der Name des Kritikers wurde durch die Schriftsteller bewahrt, deren Romane er nicht als Meisterwerke gelten ließ, durch Stendhal, Honoré de Balzac oder Gustave Flaubert. In den Briefen der Dichter ist er eine ständig wiederkehrende Figur, und die Brüder Goncourt haben in ihren Tagebüchern alles getan, um die Erinnerung im Klatsch zu konservieren. Vor allem aber ist Sainte-Beuve durch eine Schrift von Marcel Proust bekannt. "Gegen Sainte-Beuve" heißen die Entwürfe, die zumeist im ersten Halbjahr 1909 geschrieben wurden und von denen 1954 zum ersten Mal eine Auswahl auf französisch erschienen ist.
Ein kritischer Essay hätte "Gegen Sainte-Beuve" sein sollen, eine Widerlegung des berühmten Kritikers und seiner Urteile über Balzac, Baudelaire und vielleicht auch Flaubert. Offensichtlich aber mischten sich Skizzen ganz anderer Art in den Entwurf, Erinnerungen an den Morgen, an dem die Mutter den "Figaro" mit dem ersten eigenen Artikel ans Bett brachte, Reflexionen über einen Sonnenstrahl auf dem Balkon und über den Geruch des Automobils. Sainte-Beuve habe nicht begriffen, meint Proust vierzig Jahre nach dem Tod des Kritikers, daß "sich das Ich des Schriftstellers nur in seinen Büchern" zeige. Statt dessen sei ihm die Literatur erschienen "als eine Sache der Epoche, die so viel wert ist, wie die Person wert war". Zwei Anliegen hat Proust in den Heften, die den Titel "Gegen Sainte-Beuve" tragen, vereint: die Kritik am Kritiker und die Skizzen für ein Werk, das aus dem Widerspruch eine ästhetische Konsequenz zieht. Nachdem die erste deutsche Ausgabe hat glauben lassen, man habe es hier tatsächlich mit einer fast fertigen Arbeit zu tun, ist dieser Eindruck nun revidiert worden: Der Band "Gegen Sainte-Beuve" der Frankfurter Ausgabe gibt nicht nur den heterogenen, sondern auch den fragmentarischen Charakter dieses Vorhabens wieder.
Sainte-Beuves Nachruhm selbst scheint seit der Veröffentlichung von "Gegen Sainte-Beuve" nicht mehr fortdauern zu können; er wurde zum Schatten im Lichte seiner Irrtümer. "Sainte-Beuves Methode ist nicht sehr tief", schreibt Proust, "diese Methode, die darin besteht, den Menschen nicht vom Werk zu trennen . . ., sich mit allen möglichen Auskünften über einen Schriftsteller zu umgeben, seinen Briefwechsel zu studieren, die Menschen zu befragen, die ihn gekannt haben . . ." So klang lange Zeit das letzte Wort zu Sainte-Beuve, und Marcel Proust hatte recht. Und doch kann man Sainte-Beuve nicht als vergessenen Verfechter einer literarischen Milieutheorie abtun. Man kann es nicht, weil das Genre des literarischen Porträts mit Sainte-Beuve beginnt. Und man kann es erst recht nicht, weil die Dichterbiographie nach Marcel Proust keineswegs verschwunden ist, nicht einmal in ihrer milieutheoretischen Variante. Eher ist der umgekehrte Fall eingetreten: Das Genre ist beliebter denn je, und gerade Marcel Proust blieb davon nicht verschont.
Der Soziologe Wolf Lepenies, Rektor des Berliner Wissenschaftskollegs, hat nun eine umfangreiche Monographie vorgelegt. Es ist die erste große Studie zu Sainte-Beuve seit vielen Jahren, eine Verbeugung vor einem "Bücherfresser" und eine Hommage an das Paris des neunzehnten Jahrhunderts. Vor allem aber ist es eine wissenschaftliche Arbeit, deren literarischer Kern die akademische Hülle so sehr spannt, daß sie überall zu reißen droht. Nicht nur den Tod Sainte-Beuves schreibt Lepenies als Romanszene: "Im Todeskampf hatte die Schreibhand Sainte-Beuves die Haltung eingenommen, die für sie im Leben natürlich war: Die Finger und der Daumen schlossen sich zusammen, als ob sie noch einmal eine imaginäre Feder halten wollten."
Die Geschichte des Kritikers Sainte-Beuve, von Wolf Lepenies erzählt, ist ein Fall von später Mimikry mit Fußnoten. Denn fast scheint es, als sei Prousts Einwand gegen die Biographie als kritische Methode nicht nur gegenstandslos geblieben, sondern als habe er ihre Wiederholung herausgefordert: "Wer hat die Literatur ernster genommen als Sainte-Beuve?" lautet die rhetorische Frage, an der die Autonomie des Ästhetischen neunzig Jahre nach Proust wieder zuschanden geht. Und so werden die Verhältnisse des Kritikers, die privaten wie die öffentlichen, die historischen wie die zeitgenössischen, die wirklichen wie die eingebildeten, auf einem ebenso riesigen wie kleingemusterten Teppich ausgebreitet - ein Kolossalbild des intellektuellen Milieus in Frankreich um die Mitte des neunzehnten Jahrhunderts, ein literarisches Porträt in Tausenden von Linien und Anekdoten kreuz und quer durch die Geschichte und mitten durch die Geheimnisse von Paris.
Sainte-Beuve hatte seine literarische Laufbahn als Romantiker begonnen, im "Cénacle", dem Kreis um Victor Hugo, Alfred de Vigny und Alfred de Musset, und in der Revolte gegen den Klassizismus der französischen Tradition. Romantisch ist er als Kritiker geblieben, auch wenn das Sammeln von biographischen Daten eher einem naturwissenschaftlichen denn einem musischen Ideal zu folgen scheint. Die Dichtung war auf dem Weg zur reinen Poesie zu etwas Geheimnisvollem, Unaussprechlichem, ja beinahe Religiösem geworden, und ihre Theorie hatte das Werk und den Dichter getrennt. Dem Biographen fiel nun die Aufgabe zu, beides wieder aneinanderzurücken, aber nicht als Zeitgenosse, dem die Umstände dieselben Grenzen wie dem Dichter setzen, sondern im nachhinein - mit der Überlegenheit eines Weisen, der sagen kann, was eigentlich geschah.
Wenn Sainte-Beuve von seiner Methode als einer "Botanik der Seelen" spricht, so meinte er jene Einheit des Literaten mit seinem Werk, die durch die Spiegelung von biographischen Informationen, von Briefen und Gesprächen, von Kommentaren Dritter und Lebenszeugnissen aller Art auf das Schaffen eines Poeten entsteht. Gewiß mag ihm dabei vorgeschwebt haben, er vollbringe damit im Reich der Dichtung, was ein von ihm bewunderter Naturwissenschaftler wie Carl von Linné in der Welt der Pflanzen vollbracht habe. Aber dieser Vergleich beruht nur auf einer Analogie; kein Kritiker kann sich über einen Dichter beugen, wie sich ein Botaniker einer Pflanze widmet, und wenn man von diesem vielleicht erfahren kann, was es mit einem Blütenstengel auf sich hat, so wird es der Dichter zu Recht als Anmaßung empfinden, sich von einem Kritiker sagen zu lassen, in welcher Klasse, Art und Gattung er zu erscheinen habe. Es gehört zu den irritierenden Momenten in Lepenies' Arbeit, diesen Vergleich zwischen Kritik und Botanik als Einheit in der Sache verstehen zu wollen. Eine "natürliche Theorie und natürliche Methode" kann es in den Geschäften des Geistes nicht geben.
Literarische Biographien waren auch schon vor Sainte-Beuve erschienen. Aber bei ihm geschieht es zum ersten Mal, daß ein Kritiker mit dem Anspruch letzter Souveränität auftritt: als einer, der die Literaturgeschichte im ganzen und jedes Werk im einzelnen sichtet, der von der römischen Antike über die mittelalterlichen Chronisten bis zu den romantischen Zeitgenossen die Welt geordnet in seinem Kopf trägt und der vor allem über jeden Schriftsteller eine persönliche Geschichte zu erzählen weiß, die erklären soll, warum er wurde, was er ist.
Jeder Literat fügt sich dieser Methode, bis hin zum Sozialisten Pierre-Joseph Proudhon, dem Sainte-Beuve 1865 eine Studie widmet: "Marx setzt sich wie ein bürgerlicher Literaturkritiker lediglich mit dem Autor und seinen Produkten auseinander", bemerkt Lepenies in einem Versuch, Proudhon vor dem Verdikt zu retten, das Elend in die Philosophie getragen zu haben. "Sainte-Beuve dagegen schildert Proudhon so, wie ein Marxist ihn eigentlich schildern müßte: er zeigt den Mann als Produkt seines Milieus." Dieses Milde im Urteil ist die andere Seite der angemaßten Überlegenheit des Biographen, der geduldige Moralismus eines Kritikers, der gar nicht irren kann, weil er immer erst nachher kommt. Lepenies verwechselt den Grund mit der Wirkung, indem er Sainte-Beuve zum "Genie der Mäßigung" erklärt und an seinen Studien die "Kultur des Kompromisses" lobt, die sich so sehr von den intellektuellen Exzessen des zwanzigsten Jahrhunderts unterscheide. Tatsächlich hat diese Form der Kritik seitdem nicht aufgehört zu existieren.
Aber sie ist weniger in der Wissenschaft als vielmehr im Feuilleton zu Hause. Sainte-Beuve behandelt jedes literarische Werk wie einen gesellschaftlichen Vorgang, über den man jedes auch noch so private Detail erfahren möchte. Ein Buch, ganz gleich welches, wird grundsätzlich als Schlüsselroman gelesen, und aus solchen Nachrichten entstehen die kleinen Sensationen des literarischen Lebens - sie werden jeden Montag im Abonnement geliefert. So vermischt sich das Persönliche mit dem Öffentlichen, aus dem Allgemeinen wird "le monde", und es geht nicht mehr um etwas so Anstrengendes wie eine Wahrheitsfindung oder gar ein literarisches Urteil, sondern allenfalls um eine Ermunterung an den Leser, sich auch eine Meinung zu bilden. Das meint Marcel Proust, wenn er Sainte-Beuve vorwirft, bei ihm verwandele sich jedes literarische Werk in eine gepflegte, aber unbedeutende Konversation. Wolf Lepenies schlägt sich in diesem Konflikt auf die Seite von Sainte-Beuve, und darin liegt die vielleicht bitterste und wahrste Konsequenz seiner Monographie: Von nun an muß einem das Feuilleton als Modell für die Wissenschaft erscheinen.
Sainte-Beuve war, wie Lepenies nachweist, auch darin eine Gestalt auf der "Schwelle zur Moderne", daß er der Wissenschaft vorausging. Viele seiner "portraits littéraires" sind keineswegs einfache Feuilletonstücke, sondern literarhistorische Abhandlungen und manchmal sogar Forschungsberichte wie im Fall des Abbé de Choisy oder der Madame de Caylus. Lepenies folgt diesen Geschichten, bis sie zu eigenen Historien werden, und er gefährdet damit die Romangestalt seines Buches, seine Anlage als Epochenporträt eines Kollektivsubjekts namens "der Intellektuelle" mit all seinen Haupt- und Nebengestalten. Aber die Moral ist eindeutig: "Heute beginnen Intellektuelle langsam zu erkennen, daß sie ihre Berufung keineswegs verleugnen, wenn sie sich einer Kultur des Kompromisses anschließen und einsehen, daß ein unbegrenztes Denken und ein Handeln auf mittlere Frist keine Gegensätze sein müssen." Man muß die Ansprüche senken, um wirken zu können.
Eines darf man von Wolf Lepenies nicht erwarten: ein literarisches Urteil. Er weicht sogar einer Formengeschichte der literarischen Kritik aus, die erst erkennbar gemacht hätte, welche Statur Sainte-Beuve auf seinem eigenen Terrain erreicht hat. Und es ist befremdlich, wenn Lepenies das Werk des Kritikers, weil die unendliche Reihe seiner Porträts ein "Kaleidoskop menschlicher Charaktere" bilde, neben Honoré de Balzac und Marcel Proust stellt. Einen literarischen Beweis für diesen Anspruch bleibt Lepenies schuldig. Der Leser erfährt auch nicht, welchen Grund Sainte-Beuve dafür gehabt haben mag, Alphonse de Lamartine höher zu schätzen als Gérard de Nerval, Alfred de Musset höher als Gustave Flaubert. Den Grund für die Abwesenheit des literarischen Urteils erkennt man hingegen leicht: Er liegt im Prinzip des literarischen Porträts. Denn immer siegt darin die Wirklichkeit über die Literatur.
Marcel Proust: "Gegen Sainte-Beuve". Frankfurter Ausgabe. Werke III, Band 3. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 1997. 432 S., geb., 64,- DM.
Wolf Lepenies: "Sainte-Beuve". Auf der Schwelle zur Moderne. Carl Hanser Verlag, München und Wien 1997. 646 S., 68,- DM.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Mimikry mit Fußnoten: Wolf Lepenies rettet Sainte-Beuve vor Marcel Proust · Von Thomas Steinfeld
Einer hat Pegasus durch den Fleischwolf gedreht, und der Zeichner André Gill hat dem Schlachter ein Porträt gewidmet. Von der ersten Seite der Wochenzeitschrift "L'Éclipse" lächelt im Mai 1868 der Literaturkritiker Sainte-Beuve unter seinem Samtkäppchen. Breitbeinig steht er auf der Werkstatt seines Ruhms. Die eine Hand hat den Schinken ergriffen, die andere schwingt eine Kette mit Würsten, und im Hintergrund ist zu erkennen, was von Pegasus übrigblieb - die Flügel, die nun lose neben einem aufgeblasenen Darm hängen.
"Meisterwerke und Schlachtstücke", steht an der Wand der Fleischerei. Ihr Dach besteht aus einem aufgeschlagenen Buch. "Volupté" oder "Wollust" lautet sein Titel, denn mit dieser weniger sinnlichen als sentimentalen Autobiographie wollte Sainte-Beuve als junger Mann die literarische Welt erobern. Getragen aber wird das Dach von einem Balken mit der Inschrift "Lundis": Unter dem Titel "Causeries du lundi" erschienen ab 1841 die Rezensionen und Porträts des Kritikers, zuerst im "Constitutionnel", dann im "Moniteur", jeweils am Montag, Woche für Woche, fast zwanzig Jahre lang, und dann gab es noch eine Fortsetzung in den "Nouveaux lundis". Mit dieser journalistischen Fronarbeit wurde Charles-Augustin Sainte-Beuve zur zentralen Gestalt des literarischen Lebens in Frankreich.
Man kennt ihn noch heute, auch wenn seine Werke kaum gelesen werden. Der Name des Kritikers wurde durch die Schriftsteller bewahrt, deren Romane er nicht als Meisterwerke gelten ließ, durch Stendhal, Honoré de Balzac oder Gustave Flaubert. In den Briefen der Dichter ist er eine ständig wiederkehrende Figur, und die Brüder Goncourt haben in ihren Tagebüchern alles getan, um die Erinnerung im Klatsch zu konservieren. Vor allem aber ist Sainte-Beuve durch eine Schrift von Marcel Proust bekannt. "Gegen Sainte-Beuve" heißen die Entwürfe, die zumeist im ersten Halbjahr 1909 geschrieben wurden und von denen 1954 zum ersten Mal eine Auswahl auf französisch erschienen ist.
Ein kritischer Essay hätte "Gegen Sainte-Beuve" sein sollen, eine Widerlegung des berühmten Kritikers und seiner Urteile über Balzac, Baudelaire und vielleicht auch Flaubert. Offensichtlich aber mischten sich Skizzen ganz anderer Art in den Entwurf, Erinnerungen an den Morgen, an dem die Mutter den "Figaro" mit dem ersten eigenen Artikel ans Bett brachte, Reflexionen über einen Sonnenstrahl auf dem Balkon und über den Geruch des Automobils. Sainte-Beuve habe nicht begriffen, meint Proust vierzig Jahre nach dem Tod des Kritikers, daß "sich das Ich des Schriftstellers nur in seinen Büchern" zeige. Statt dessen sei ihm die Literatur erschienen "als eine Sache der Epoche, die so viel wert ist, wie die Person wert war". Zwei Anliegen hat Proust in den Heften, die den Titel "Gegen Sainte-Beuve" tragen, vereint: die Kritik am Kritiker und die Skizzen für ein Werk, das aus dem Widerspruch eine ästhetische Konsequenz zieht. Nachdem die erste deutsche Ausgabe hat glauben lassen, man habe es hier tatsächlich mit einer fast fertigen Arbeit zu tun, ist dieser Eindruck nun revidiert worden: Der Band "Gegen Sainte-Beuve" der Frankfurter Ausgabe gibt nicht nur den heterogenen, sondern auch den fragmentarischen Charakter dieses Vorhabens wieder.
Sainte-Beuves Nachruhm selbst scheint seit der Veröffentlichung von "Gegen Sainte-Beuve" nicht mehr fortdauern zu können; er wurde zum Schatten im Lichte seiner Irrtümer. "Sainte-Beuves Methode ist nicht sehr tief", schreibt Proust, "diese Methode, die darin besteht, den Menschen nicht vom Werk zu trennen . . ., sich mit allen möglichen Auskünften über einen Schriftsteller zu umgeben, seinen Briefwechsel zu studieren, die Menschen zu befragen, die ihn gekannt haben . . ." So klang lange Zeit das letzte Wort zu Sainte-Beuve, und Marcel Proust hatte recht. Und doch kann man Sainte-Beuve nicht als vergessenen Verfechter einer literarischen Milieutheorie abtun. Man kann es nicht, weil das Genre des literarischen Porträts mit Sainte-Beuve beginnt. Und man kann es erst recht nicht, weil die Dichterbiographie nach Marcel Proust keineswegs verschwunden ist, nicht einmal in ihrer milieutheoretischen Variante. Eher ist der umgekehrte Fall eingetreten: Das Genre ist beliebter denn je, und gerade Marcel Proust blieb davon nicht verschont.
Der Soziologe Wolf Lepenies, Rektor des Berliner Wissenschaftskollegs, hat nun eine umfangreiche Monographie vorgelegt. Es ist die erste große Studie zu Sainte-Beuve seit vielen Jahren, eine Verbeugung vor einem "Bücherfresser" und eine Hommage an das Paris des neunzehnten Jahrhunderts. Vor allem aber ist es eine wissenschaftliche Arbeit, deren literarischer Kern die akademische Hülle so sehr spannt, daß sie überall zu reißen droht. Nicht nur den Tod Sainte-Beuves schreibt Lepenies als Romanszene: "Im Todeskampf hatte die Schreibhand Sainte-Beuves die Haltung eingenommen, die für sie im Leben natürlich war: Die Finger und der Daumen schlossen sich zusammen, als ob sie noch einmal eine imaginäre Feder halten wollten."
Die Geschichte des Kritikers Sainte-Beuve, von Wolf Lepenies erzählt, ist ein Fall von später Mimikry mit Fußnoten. Denn fast scheint es, als sei Prousts Einwand gegen die Biographie als kritische Methode nicht nur gegenstandslos geblieben, sondern als habe er ihre Wiederholung herausgefordert: "Wer hat die Literatur ernster genommen als Sainte-Beuve?" lautet die rhetorische Frage, an der die Autonomie des Ästhetischen neunzig Jahre nach Proust wieder zuschanden geht. Und so werden die Verhältnisse des Kritikers, die privaten wie die öffentlichen, die historischen wie die zeitgenössischen, die wirklichen wie die eingebildeten, auf einem ebenso riesigen wie kleingemusterten Teppich ausgebreitet - ein Kolossalbild des intellektuellen Milieus in Frankreich um die Mitte des neunzehnten Jahrhunderts, ein literarisches Porträt in Tausenden von Linien und Anekdoten kreuz und quer durch die Geschichte und mitten durch die Geheimnisse von Paris.
Sainte-Beuve hatte seine literarische Laufbahn als Romantiker begonnen, im "Cénacle", dem Kreis um Victor Hugo, Alfred de Vigny und Alfred de Musset, und in der Revolte gegen den Klassizismus der französischen Tradition. Romantisch ist er als Kritiker geblieben, auch wenn das Sammeln von biographischen Daten eher einem naturwissenschaftlichen denn einem musischen Ideal zu folgen scheint. Die Dichtung war auf dem Weg zur reinen Poesie zu etwas Geheimnisvollem, Unaussprechlichem, ja beinahe Religiösem geworden, und ihre Theorie hatte das Werk und den Dichter getrennt. Dem Biographen fiel nun die Aufgabe zu, beides wieder aneinanderzurücken, aber nicht als Zeitgenosse, dem die Umstände dieselben Grenzen wie dem Dichter setzen, sondern im nachhinein - mit der Überlegenheit eines Weisen, der sagen kann, was eigentlich geschah.
Wenn Sainte-Beuve von seiner Methode als einer "Botanik der Seelen" spricht, so meinte er jene Einheit des Literaten mit seinem Werk, die durch die Spiegelung von biographischen Informationen, von Briefen und Gesprächen, von Kommentaren Dritter und Lebenszeugnissen aller Art auf das Schaffen eines Poeten entsteht. Gewiß mag ihm dabei vorgeschwebt haben, er vollbringe damit im Reich der Dichtung, was ein von ihm bewunderter Naturwissenschaftler wie Carl von Linné in der Welt der Pflanzen vollbracht habe. Aber dieser Vergleich beruht nur auf einer Analogie; kein Kritiker kann sich über einen Dichter beugen, wie sich ein Botaniker einer Pflanze widmet, und wenn man von diesem vielleicht erfahren kann, was es mit einem Blütenstengel auf sich hat, so wird es der Dichter zu Recht als Anmaßung empfinden, sich von einem Kritiker sagen zu lassen, in welcher Klasse, Art und Gattung er zu erscheinen habe. Es gehört zu den irritierenden Momenten in Lepenies' Arbeit, diesen Vergleich zwischen Kritik und Botanik als Einheit in der Sache verstehen zu wollen. Eine "natürliche Theorie und natürliche Methode" kann es in den Geschäften des Geistes nicht geben.
Literarische Biographien waren auch schon vor Sainte-Beuve erschienen. Aber bei ihm geschieht es zum ersten Mal, daß ein Kritiker mit dem Anspruch letzter Souveränität auftritt: als einer, der die Literaturgeschichte im ganzen und jedes Werk im einzelnen sichtet, der von der römischen Antike über die mittelalterlichen Chronisten bis zu den romantischen Zeitgenossen die Welt geordnet in seinem Kopf trägt und der vor allem über jeden Schriftsteller eine persönliche Geschichte zu erzählen weiß, die erklären soll, warum er wurde, was er ist.
Jeder Literat fügt sich dieser Methode, bis hin zum Sozialisten Pierre-Joseph Proudhon, dem Sainte-Beuve 1865 eine Studie widmet: "Marx setzt sich wie ein bürgerlicher Literaturkritiker lediglich mit dem Autor und seinen Produkten auseinander", bemerkt Lepenies in einem Versuch, Proudhon vor dem Verdikt zu retten, das Elend in die Philosophie getragen zu haben. "Sainte-Beuve dagegen schildert Proudhon so, wie ein Marxist ihn eigentlich schildern müßte: er zeigt den Mann als Produkt seines Milieus." Dieses Milde im Urteil ist die andere Seite der angemaßten Überlegenheit des Biographen, der geduldige Moralismus eines Kritikers, der gar nicht irren kann, weil er immer erst nachher kommt. Lepenies verwechselt den Grund mit der Wirkung, indem er Sainte-Beuve zum "Genie der Mäßigung" erklärt und an seinen Studien die "Kultur des Kompromisses" lobt, die sich so sehr von den intellektuellen Exzessen des zwanzigsten Jahrhunderts unterscheide. Tatsächlich hat diese Form der Kritik seitdem nicht aufgehört zu existieren.
Aber sie ist weniger in der Wissenschaft als vielmehr im Feuilleton zu Hause. Sainte-Beuve behandelt jedes literarische Werk wie einen gesellschaftlichen Vorgang, über den man jedes auch noch so private Detail erfahren möchte. Ein Buch, ganz gleich welches, wird grundsätzlich als Schlüsselroman gelesen, und aus solchen Nachrichten entstehen die kleinen Sensationen des literarischen Lebens - sie werden jeden Montag im Abonnement geliefert. So vermischt sich das Persönliche mit dem Öffentlichen, aus dem Allgemeinen wird "le monde", und es geht nicht mehr um etwas so Anstrengendes wie eine Wahrheitsfindung oder gar ein literarisches Urteil, sondern allenfalls um eine Ermunterung an den Leser, sich auch eine Meinung zu bilden. Das meint Marcel Proust, wenn er Sainte-Beuve vorwirft, bei ihm verwandele sich jedes literarische Werk in eine gepflegte, aber unbedeutende Konversation. Wolf Lepenies schlägt sich in diesem Konflikt auf die Seite von Sainte-Beuve, und darin liegt die vielleicht bitterste und wahrste Konsequenz seiner Monographie: Von nun an muß einem das Feuilleton als Modell für die Wissenschaft erscheinen.
Sainte-Beuve war, wie Lepenies nachweist, auch darin eine Gestalt auf der "Schwelle zur Moderne", daß er der Wissenschaft vorausging. Viele seiner "portraits littéraires" sind keineswegs einfache Feuilletonstücke, sondern literarhistorische Abhandlungen und manchmal sogar Forschungsberichte wie im Fall des Abbé de Choisy oder der Madame de Caylus. Lepenies folgt diesen Geschichten, bis sie zu eigenen Historien werden, und er gefährdet damit die Romangestalt seines Buches, seine Anlage als Epochenporträt eines Kollektivsubjekts namens "der Intellektuelle" mit all seinen Haupt- und Nebengestalten. Aber die Moral ist eindeutig: "Heute beginnen Intellektuelle langsam zu erkennen, daß sie ihre Berufung keineswegs verleugnen, wenn sie sich einer Kultur des Kompromisses anschließen und einsehen, daß ein unbegrenztes Denken und ein Handeln auf mittlere Frist keine Gegensätze sein müssen." Man muß die Ansprüche senken, um wirken zu können.
Eines darf man von Wolf Lepenies nicht erwarten: ein literarisches Urteil. Er weicht sogar einer Formengeschichte der literarischen Kritik aus, die erst erkennbar gemacht hätte, welche Statur Sainte-Beuve auf seinem eigenen Terrain erreicht hat. Und es ist befremdlich, wenn Lepenies das Werk des Kritikers, weil die unendliche Reihe seiner Porträts ein "Kaleidoskop menschlicher Charaktere" bilde, neben Honoré de Balzac und Marcel Proust stellt. Einen literarischen Beweis für diesen Anspruch bleibt Lepenies schuldig. Der Leser erfährt auch nicht, welchen Grund Sainte-Beuve dafür gehabt haben mag, Alphonse de Lamartine höher zu schätzen als Gérard de Nerval, Alfred de Musset höher als Gustave Flaubert. Den Grund für die Abwesenheit des literarischen Urteils erkennt man hingegen leicht: Er liegt im Prinzip des literarischen Porträts. Denn immer siegt darin die Wirklichkeit über die Literatur.
Marcel Proust: "Gegen Sainte-Beuve". Frankfurter Ausgabe. Werke III, Band 3. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 1997. 432 S., geb., 64,- DM.
Wolf Lepenies: "Sainte-Beuve". Auf der Schwelle zur Moderne. Carl Hanser Verlag, München und Wien 1997. 646 S., 68,- DM.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main