»Eine Famulatur besteht ja nicht nur aus dem Zuschauen bei komplizierten Darmoperationen, aus Bauchfellaufschneiden, Lungenflügelzuklammern und Fußabsägen, sie besteht wirklich nicht nur aus Totenaugenzudrücken und aus Kinderherausziehen in die Welt.« Mit diesem Satz beginnt der erste Roman von Thomas Bernhard. Frost erschien im Jahr 1963 und bildet den Ausgangspunkt des weltliterarischen Kontinents dieses Autors. Bis zur Veröffentlichung von Frost war Thomas Bernhard nur einem kleineren Kreis vor allem als Lyriker bekannt. Sein Romandebüt kam jedoch nicht so unverhofft, wie es damals den Anschein hatte. Der Nachlaß des Autors im Thomas-Bernhard-Archiv in Gmunden zeigt, daß dem Roman, der Thomas Bernhards Weltruhm begründen wird, mehrere große Prosaversuche vorausgehen. Die Niederschrift von Frost selbst wurde Anfang 1962. begonnen und im September desselben Jahres beendet.
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 23.04.2004Leise rieselt der Schnee
Die ersten Bände der großen Thomas Bernhard-Werkausgabe
Ein Knabe geht mit drei Christkerzen durch den Wald. Unter seinen „festen Schritten knirschte der kristallene Schnee und im Mondlicht dampfte der Atem”. Die Sterne stehen strahlend am Himmel. Es ist der Abend vor Weihnachten. In einer Kirche versenkt sich das Kind in drei Heiligenfiguren. Sie führen den Jungen zu den „sieben Tannen, die die Welt bedeuten”. Während die Tannen der Schönheit, der Wahrheit, der Reinheit, der Vernunft und des Glaubens recht gesund aussehen, sind die Hoffnung und die Liebe etwas mickrig geraten. Dennoch: „Alles war wunderschön.” Der Junge beschließt, die „Liebe” und die „Hoffnung” fortan zu pflegen, und ist dadurch, wie sich das im Märchen gehört, „von allen der Glücklichste”.
Die Erzählung erscheint 1952 und 1953 fünfmal in österreichischen Tageszeitungen. Es ist der bis dahin erfolgreichste Text eines Autors, dem die Kritik später seine „radikal einseitigen” und „schwarzseherischen Ansichten”, seine Lust an der Zerstörung und „ihrer exhibitionistischen Darstellung” vorwerfen wird. Kurz: Es ist der erfolgreichste Text des frühen Thomas Bernhard.
Kristallener Schnee? Glitzernde Sterne? Romantisches Mondlicht? Liebe, Hoffnung und Glück? Wie passt das zu einem Dichter, dessen literarische Weltuntergangsbilder von verkrüppelten Geistern, inzestuösen Missgeburten und viehischer Stumpfheit dominiert werden? Wie passt die versöhnliche und süße Harmonie zum Alpen-Beckett, dessen Tiraden gegen Gott und die Welt zu den wüstesten, kraftvollsten und schönsten Hassausbrüchen der Weltliteratur gehören? Die neue Bernhard-Werkedition, betreut von Martin Huber und Wendelin Schmidt-Dengler, gibt ihren Lesern in den drei ersten Bänden solche Fragen auf und präsentiert einen neuen Bernhard.
Im doppelten Märchenwald
Zu Bernhard verhält man sich sehr schnell so, wie der Maler Straub, die Hauptfigur im Roman „Frost”, gegenüber seiner Umgebung: „Es wird einem ein Mensch vorgestellt, und man hat über diesen Menschen bereits die Akten geschlossen. Der Mensch kann dann sagen, was er will, . . . er kann nicht mehr heraus.” Es ist deshalb ein kluger Eröffnungszug der Herausgeber, dass sie die beiden Romane „Frost” und „Verstörung”, die nach dem Willen des Autors den Leser „ins Grauen hineintreiben sollen und das Bernhard-Bild nachhaltig geprägt haben, dass sie diese maßlos kalten, irritierenden Produkte einer von der Welt bedrängten und die Welt verdrängenden Phantasie mit dem vorgezogenen vierzehnten Band der Werkausgabe – „Erzählungen” und „Kurzprosa” – gemeinsam edieren. Denn dieser Band enthält Texte, die entweder wenig oder gar nicht bekannt sind und die ihr Autor nach dem Neueinsatz seines Werks zu Beginn der 1960er Jahre nicht mehr zu seinem Œuvre gezählt wissen wollte.
Die „Frühen Erzählungen” zeigen einen Schriftsteller in der klassischen Tradition novellistischen und parabelhaften Schreibens. Sie handeln von unheimlichen Himmelslichtern, die das Unglück ankündigen, von Künstlerschicksalen oder von Bekehrungen zum christlichen Glauben, geboren aus der tiefsten Verzweiflung. Ein größerer Abstand als zwischen der eingangs zitierten lieblichen Weihnachtsgeschichte und dem Sprachkosmos aus Angst, Ekel und Schmerz, den Bernhard später zu schaffen vermochte, lässt sich scheinbar kaum denken. Dennoch präludiert das Prosawerk der 1950er Jahre das folgende Werk. Letztlich nämlich sind die Winterszenerie der Weihnachtsgeschichte „Von sieben Tannen und vom Schnee . . .” und die Kältelandschaften der frühen Romane nur zwei Seiten der einen Medaille: des Märchens.
Hält man beides übereinander, dann fallen etwa in „Frost” jene Situationen auf, in denen Spaziergänger im Wald auf einsame verwunschene Hütten treffen; man bemerkt deutlicher Szenen, in denen plötzlich eine Figur hinter einem Baum hervorspringt und sich einem singenden Wanderer in den Weg stellt; es fallen die Plätze voller unheimlicher Zeichen, voller Gnomen und Zwerge auf, wo verführerische Frauen das Böse repräsentieren und junge Männer durch diese Zauberwelten hindurchgehen müssen, um sich aus deren Bann zu befreien.
Bei aller Abgeklärtheit des erwachsenen Blicks, der die Doppelbödigkeit des Lebens durchschaut und den Mitspielern die Masken herunterreißt, sind diese Zauberwelten die Angstwelten der Kinder. In „Frost” sagt Straub über sich selbst: „Meine Zukunft liegt wie in einem Wald ein Bach . . .; und der Wald ist endlos und so finster, wie man sich unwillkürlich einen Wald vorstellt in einer ganz kindlichen Vorstellung, die gleich in Düsternis übergeht und nicht mehr aus der Düsternis herauskommt”. Wie stets erweist sich Bernhard als der beste Interpret seiner selbst. Er kennt seine Obsessionen genau, darunter eben auch seine „Kindheitshölle”.
Die Ausgabe provoziert eigene Lektüregänge durch ein scheinbar bekanntes Werk, auch wenn sie keine Archivalien zutage befördern wird. Bernhard hat dies verboten. „Nach meinem Tod darf aus meinem . . . Nachlaß . . . kein Wort mehr veröffentlicht werden”, heißt es in seinem Testament. Die Edition umgeht dieses Verbot, indem sie im Kommentarteil über die Entstehungsgeschichte der Werke, über die Überlieferungslage, die Textzeugen und die Wirkungsgeschichte informiert und auf diese Weise Einblicke in den Nachlass gewährt. Der Kommentar führt uns in die Werkstätte eines Autors, dessen Auflehnung gegen ein naives Vertrauen ins Erzählen (und damit gegen das eigene Frühwerk) auch die Arbeitstechniken erfasst.
Dazu gehört die fortgesetzte Selbstkorrektur im Typoskript durch maschinen- und handschriftliche Überschreibungen, die die Zeilen aus dem linearen Verlauf herauswuchern lassen; dazu gehören Techniken des Verschiebens von Textpassagen, des Collagierens von Erzählbausteinen, die auf die Beliebigkeit und Austauschbarkeit der Elemente und eben damit auf die einheitliche Richtung der poetischen Arbeit verweist. Unaufhörlich umkreist Bernhard eine überschaubare Menge an Motiven und Themen. Diese Fixierung gehört zu einer Ästhetik des Scheiterns, die jede Formulierung per se mangelhaft findet. „Kein Aufgeschriebenes stimmt”, erklärt der Erzähler im Roman „Frost”.
Editionspuristen wird diese Werkausgabe wohl missfallen, weil die Herstellung von Mischtexten, die unterschiedlich motivierten Eingriffe und die Auswahlkriterien der Druckvorlagen einige Fragen offen lassen. Mit plausiblen Gründen wird manches an Bernhards Orthographie und Syntax als „Eigenheit” behandelt, anderes als „Fehler”. Bisweilen sind Verstöße gegen die Sprachnorm für die Editoren akzeptabel, hin und wieder aber werden Kommata eingefügt, wenn beispielsweise „durch ihr Fehlen die Lektüre unnötig behindert würde” – welche Kriterien aber entscheiden über nötige und unnötige Unterbrechung des Leseflusses?
Meistens sind die revidierten Erstausgaben maßgebend, gelegentlich die vom Autor überarbeiteten Fassungen, vereinzelt wird beides kombiniert. Man wünscht sich also den informativen und spannenden Anhang ausführlicher, gerade weil er an der Grenze des von Bernhard Intendierten entlang führt.
Wer nicht vernichtet, wird ediert
Die neue Ausgabe erhebt Bernhard editionspolitisch in den Klassikerstand. Gefördert wird sie „von der Republik Österreich, Bundeskanzleramt”. Einmal mehr also umarmt das Land einen Dichter, der seine Heimat mit aller im zur Verfügung stehenden Akribie beschimpft hat. Der letzte Wille Bernhards lautete anders: „Ausdrücklich betone ich, daß ich mit dem österreichischen Staat nichts zu tun haben will und ich verwahre mich nicht nur gegen jede Einmischung, sondern auch gegen jede Annäherung dieses österreichischen Staates an meine Person und meine Arbeit betreffend in alle Zukunft.”
Dass man allerdings dem „österreichischen Staat” nicht durch die Archivierung des eigenen Werks, die Bernhard selbst auffallend sorgfältig vorgenommen hat, sondern nur durch dessen Vernichtung entkommen würde, hätte Bernhard wissen müssen. In seiner Kurzgeschichte „Genie” kann man es nachlesen.
STEFFEN MARTUS
THOMAS BERNHARD: Werke. Band 1: Frost. Band 2: Verstörung. Band. 14: Erzählungen. Kurzprosa. Herausgegeben von Martin Huber und Wendelin Schmidt-Dengler. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2003. 380, 250 und 320 Seiten, 34,90, 29,90 und 32,90 Euro.
SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung exklusiv über www.diz-muenchen.de
Die ersten Bände der großen Thomas Bernhard-Werkausgabe
Ein Knabe geht mit drei Christkerzen durch den Wald. Unter seinen „festen Schritten knirschte der kristallene Schnee und im Mondlicht dampfte der Atem”. Die Sterne stehen strahlend am Himmel. Es ist der Abend vor Weihnachten. In einer Kirche versenkt sich das Kind in drei Heiligenfiguren. Sie führen den Jungen zu den „sieben Tannen, die die Welt bedeuten”. Während die Tannen der Schönheit, der Wahrheit, der Reinheit, der Vernunft und des Glaubens recht gesund aussehen, sind die Hoffnung und die Liebe etwas mickrig geraten. Dennoch: „Alles war wunderschön.” Der Junge beschließt, die „Liebe” und die „Hoffnung” fortan zu pflegen, und ist dadurch, wie sich das im Märchen gehört, „von allen der Glücklichste”.
Die Erzählung erscheint 1952 und 1953 fünfmal in österreichischen Tageszeitungen. Es ist der bis dahin erfolgreichste Text eines Autors, dem die Kritik später seine „radikal einseitigen” und „schwarzseherischen Ansichten”, seine Lust an der Zerstörung und „ihrer exhibitionistischen Darstellung” vorwerfen wird. Kurz: Es ist der erfolgreichste Text des frühen Thomas Bernhard.
Kristallener Schnee? Glitzernde Sterne? Romantisches Mondlicht? Liebe, Hoffnung und Glück? Wie passt das zu einem Dichter, dessen literarische Weltuntergangsbilder von verkrüppelten Geistern, inzestuösen Missgeburten und viehischer Stumpfheit dominiert werden? Wie passt die versöhnliche und süße Harmonie zum Alpen-Beckett, dessen Tiraden gegen Gott und die Welt zu den wüstesten, kraftvollsten und schönsten Hassausbrüchen der Weltliteratur gehören? Die neue Bernhard-Werkedition, betreut von Martin Huber und Wendelin Schmidt-Dengler, gibt ihren Lesern in den drei ersten Bänden solche Fragen auf und präsentiert einen neuen Bernhard.
Im doppelten Märchenwald
Zu Bernhard verhält man sich sehr schnell so, wie der Maler Straub, die Hauptfigur im Roman „Frost”, gegenüber seiner Umgebung: „Es wird einem ein Mensch vorgestellt, und man hat über diesen Menschen bereits die Akten geschlossen. Der Mensch kann dann sagen, was er will, . . . er kann nicht mehr heraus.” Es ist deshalb ein kluger Eröffnungszug der Herausgeber, dass sie die beiden Romane „Frost” und „Verstörung”, die nach dem Willen des Autors den Leser „ins Grauen hineintreiben sollen und das Bernhard-Bild nachhaltig geprägt haben, dass sie diese maßlos kalten, irritierenden Produkte einer von der Welt bedrängten und die Welt verdrängenden Phantasie mit dem vorgezogenen vierzehnten Band der Werkausgabe – „Erzählungen” und „Kurzprosa” – gemeinsam edieren. Denn dieser Band enthält Texte, die entweder wenig oder gar nicht bekannt sind und die ihr Autor nach dem Neueinsatz seines Werks zu Beginn der 1960er Jahre nicht mehr zu seinem Œuvre gezählt wissen wollte.
Die „Frühen Erzählungen” zeigen einen Schriftsteller in der klassischen Tradition novellistischen und parabelhaften Schreibens. Sie handeln von unheimlichen Himmelslichtern, die das Unglück ankündigen, von Künstlerschicksalen oder von Bekehrungen zum christlichen Glauben, geboren aus der tiefsten Verzweiflung. Ein größerer Abstand als zwischen der eingangs zitierten lieblichen Weihnachtsgeschichte und dem Sprachkosmos aus Angst, Ekel und Schmerz, den Bernhard später zu schaffen vermochte, lässt sich scheinbar kaum denken. Dennoch präludiert das Prosawerk der 1950er Jahre das folgende Werk. Letztlich nämlich sind die Winterszenerie der Weihnachtsgeschichte „Von sieben Tannen und vom Schnee . . .” und die Kältelandschaften der frühen Romane nur zwei Seiten der einen Medaille: des Märchens.
Hält man beides übereinander, dann fallen etwa in „Frost” jene Situationen auf, in denen Spaziergänger im Wald auf einsame verwunschene Hütten treffen; man bemerkt deutlicher Szenen, in denen plötzlich eine Figur hinter einem Baum hervorspringt und sich einem singenden Wanderer in den Weg stellt; es fallen die Plätze voller unheimlicher Zeichen, voller Gnomen und Zwerge auf, wo verführerische Frauen das Böse repräsentieren und junge Männer durch diese Zauberwelten hindurchgehen müssen, um sich aus deren Bann zu befreien.
Bei aller Abgeklärtheit des erwachsenen Blicks, der die Doppelbödigkeit des Lebens durchschaut und den Mitspielern die Masken herunterreißt, sind diese Zauberwelten die Angstwelten der Kinder. In „Frost” sagt Straub über sich selbst: „Meine Zukunft liegt wie in einem Wald ein Bach . . .; und der Wald ist endlos und so finster, wie man sich unwillkürlich einen Wald vorstellt in einer ganz kindlichen Vorstellung, die gleich in Düsternis übergeht und nicht mehr aus der Düsternis herauskommt”. Wie stets erweist sich Bernhard als der beste Interpret seiner selbst. Er kennt seine Obsessionen genau, darunter eben auch seine „Kindheitshölle”.
Die Ausgabe provoziert eigene Lektüregänge durch ein scheinbar bekanntes Werk, auch wenn sie keine Archivalien zutage befördern wird. Bernhard hat dies verboten. „Nach meinem Tod darf aus meinem . . . Nachlaß . . . kein Wort mehr veröffentlicht werden”, heißt es in seinem Testament. Die Edition umgeht dieses Verbot, indem sie im Kommentarteil über die Entstehungsgeschichte der Werke, über die Überlieferungslage, die Textzeugen und die Wirkungsgeschichte informiert und auf diese Weise Einblicke in den Nachlass gewährt. Der Kommentar führt uns in die Werkstätte eines Autors, dessen Auflehnung gegen ein naives Vertrauen ins Erzählen (und damit gegen das eigene Frühwerk) auch die Arbeitstechniken erfasst.
Dazu gehört die fortgesetzte Selbstkorrektur im Typoskript durch maschinen- und handschriftliche Überschreibungen, die die Zeilen aus dem linearen Verlauf herauswuchern lassen; dazu gehören Techniken des Verschiebens von Textpassagen, des Collagierens von Erzählbausteinen, die auf die Beliebigkeit und Austauschbarkeit der Elemente und eben damit auf die einheitliche Richtung der poetischen Arbeit verweist. Unaufhörlich umkreist Bernhard eine überschaubare Menge an Motiven und Themen. Diese Fixierung gehört zu einer Ästhetik des Scheiterns, die jede Formulierung per se mangelhaft findet. „Kein Aufgeschriebenes stimmt”, erklärt der Erzähler im Roman „Frost”.
Editionspuristen wird diese Werkausgabe wohl missfallen, weil die Herstellung von Mischtexten, die unterschiedlich motivierten Eingriffe und die Auswahlkriterien der Druckvorlagen einige Fragen offen lassen. Mit plausiblen Gründen wird manches an Bernhards Orthographie und Syntax als „Eigenheit” behandelt, anderes als „Fehler”. Bisweilen sind Verstöße gegen die Sprachnorm für die Editoren akzeptabel, hin und wieder aber werden Kommata eingefügt, wenn beispielsweise „durch ihr Fehlen die Lektüre unnötig behindert würde” – welche Kriterien aber entscheiden über nötige und unnötige Unterbrechung des Leseflusses?
Meistens sind die revidierten Erstausgaben maßgebend, gelegentlich die vom Autor überarbeiteten Fassungen, vereinzelt wird beides kombiniert. Man wünscht sich also den informativen und spannenden Anhang ausführlicher, gerade weil er an der Grenze des von Bernhard Intendierten entlang führt.
Wer nicht vernichtet, wird ediert
Die neue Ausgabe erhebt Bernhard editionspolitisch in den Klassikerstand. Gefördert wird sie „von der Republik Österreich, Bundeskanzleramt”. Einmal mehr also umarmt das Land einen Dichter, der seine Heimat mit aller im zur Verfügung stehenden Akribie beschimpft hat. Der letzte Wille Bernhards lautete anders: „Ausdrücklich betone ich, daß ich mit dem österreichischen Staat nichts zu tun haben will und ich verwahre mich nicht nur gegen jede Einmischung, sondern auch gegen jede Annäherung dieses österreichischen Staates an meine Person und meine Arbeit betreffend in alle Zukunft.”
Dass man allerdings dem „österreichischen Staat” nicht durch die Archivierung des eigenen Werks, die Bernhard selbst auffallend sorgfältig vorgenommen hat, sondern nur durch dessen Vernichtung entkommen würde, hätte Bernhard wissen müssen. In seiner Kurzgeschichte „Genie” kann man es nachlesen.
STEFFEN MARTUS
THOMAS BERNHARD: Werke. Band 1: Frost. Band 2: Verstörung. Band. 14: Erzählungen. Kurzprosa. Herausgegeben von Martin Huber und Wendelin Schmidt-Dengler. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2003. 380, 250 und 320 Seiten, 34,90, 29,90 und 32,90 Euro.
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 17.11.2003Eine totale Weltrevolution
Suhrkamp stellt die Thomas-Bernhard-Werkausgabe vor
WIEN, 16. November
Im Wiener Burgtheater - wo sonst? - und zur sonntäglichen Mittagsstunde präsentierte der Verlag Suhrkamp die ersten drei Bände der ersten Thomas-Bernhard-Werkausgabe: "Frost", "Verstörung" und "Kurzprosa". Zweiundzwanzig Bände mit sieben Herausgebern sollen es werden. Im geschwungenen Säulengang, zwischen Marmor und Gemälden erzählte Rainer Weiß, Programmdirektor und seit kurzem auch Mitglied der Suhrkamp-Geschäftsführung, der Wiener Bernhard-Gemeinde, wie selbstbewußt der junge Schriftsteller in seinen Wunschverlag gelangte: mit einem inzwischen berühmten Brief des Jahres 1961 an Siegfried Unseld. Von einer Ablehnung seiner Erzählung "Der Wald auf der Straße" (der Stoff sei ein wenig zu engbrüstig, befand das Suhrkamp-Lektorat) ließ sich Bernhard nicht abhalten, sondern arbeitete um so intensiver weiter. 1963, mit "Frost", kam der Durchbruch. Daß der Verleger ihm daraufhin vierzigtausend Mark Vorschuß gab, freute den "Kaufmann" Bernhard, und für den Frankfurter Verlag ging die Rechnung auch auf: Wieder war ein Schriftsteller-Kaliber, von ungeheurer Produktivität noch dazu, an den Verlag gebunden. Zwei Millionen Thomas-Bernhard-Bücher verlegte Suhrkamp für den deutschsprachigen Raum; in siebenundzwanzig Sprachen wurden seine Bücher übersetzt. Rainer Weiß nannte die Werkausgabe schlicht die "Einlösung einer Pflicht", sprach aber auch von der "Weltrevolution", von der Thomas Bernhard geredet hatte, als er einmal gefragt wurde, warum er schreibe: "Ausstrahlen! Und das nicht nur weltweit, sondern universell. Jedes Wort ein Treffer. Jedes Kapitel eine Weltanklage. Und alles zusammen eine totale Weltrevolution bis zur totalen Auslöschung."
Ehe die Schauspieler Johannes Terne und Martin Schwab Texte lasen, erläuterten die beiden Herausgeber Wendelin Schmidt-Dengler und Martin Huber ihre Arbeit, die sich an sämtliche vom Autor freigegebenen Werke hält, aber doch Neues zutage bringt: Band 14 mit Kurzprosa enthält Bernhards journalistische Arbeiten und die kaum bekannten Erzählungen der fünfziger Jahre, die, wie "Der Schweinehüter", noch an die Heimatliteratur und seinen Großvater Freumbichler anknüpfen. Faksimiles zeigen, wie besessen er seine Texte überarbeitete und so sein Werk langsam zum Umschlagpunkt trieb. Das war "Frost". Damit hatte Thomas Bernhard seinen Stil gefunden.
ERNA LACKNER
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Suhrkamp stellt die Thomas-Bernhard-Werkausgabe vor
WIEN, 16. November
Im Wiener Burgtheater - wo sonst? - und zur sonntäglichen Mittagsstunde präsentierte der Verlag Suhrkamp die ersten drei Bände der ersten Thomas-Bernhard-Werkausgabe: "Frost", "Verstörung" und "Kurzprosa". Zweiundzwanzig Bände mit sieben Herausgebern sollen es werden. Im geschwungenen Säulengang, zwischen Marmor und Gemälden erzählte Rainer Weiß, Programmdirektor und seit kurzem auch Mitglied der Suhrkamp-Geschäftsführung, der Wiener Bernhard-Gemeinde, wie selbstbewußt der junge Schriftsteller in seinen Wunschverlag gelangte: mit einem inzwischen berühmten Brief des Jahres 1961 an Siegfried Unseld. Von einer Ablehnung seiner Erzählung "Der Wald auf der Straße" (der Stoff sei ein wenig zu engbrüstig, befand das Suhrkamp-Lektorat) ließ sich Bernhard nicht abhalten, sondern arbeitete um so intensiver weiter. 1963, mit "Frost", kam der Durchbruch. Daß der Verleger ihm daraufhin vierzigtausend Mark Vorschuß gab, freute den "Kaufmann" Bernhard, und für den Frankfurter Verlag ging die Rechnung auch auf: Wieder war ein Schriftsteller-Kaliber, von ungeheurer Produktivität noch dazu, an den Verlag gebunden. Zwei Millionen Thomas-Bernhard-Bücher verlegte Suhrkamp für den deutschsprachigen Raum; in siebenundzwanzig Sprachen wurden seine Bücher übersetzt. Rainer Weiß nannte die Werkausgabe schlicht die "Einlösung einer Pflicht", sprach aber auch von der "Weltrevolution", von der Thomas Bernhard geredet hatte, als er einmal gefragt wurde, warum er schreibe: "Ausstrahlen! Und das nicht nur weltweit, sondern universell. Jedes Wort ein Treffer. Jedes Kapitel eine Weltanklage. Und alles zusammen eine totale Weltrevolution bis zur totalen Auslöschung."
Ehe die Schauspieler Johannes Terne und Martin Schwab Texte lasen, erläuterten die beiden Herausgeber Wendelin Schmidt-Dengler und Martin Huber ihre Arbeit, die sich an sämtliche vom Autor freigegebenen Werke hält, aber doch Neues zutage bringt: Band 14 mit Kurzprosa enthält Bernhards journalistische Arbeiten und die kaum bekannten Erzählungen der fünfziger Jahre, die, wie "Der Schweinehüter", noch an die Heimatliteratur und seinen Großvater Freumbichler anknüpfen. Faksimiles zeigen, wie besessen er seine Texte überarbeitete und so sein Werk langsam zum Umschlagpunkt trieb. Das war "Frost". Damit hatte Thomas Bernhard seinen Stil gefunden.
ERNA LACKNER
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Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
"Kristallener Schnee? Glitzernde Sterne? Romantisches Mondlicht? Liebe, Hoffnung und Glück?" Thomas Bernhard? Steffen Martus hat sich die Augen gerieben und ist nach anfänglichem Stutzen umso begeisterter von der Editionspraxis, die den 14. Band der Gesamtausgabe direkt neben die ersten beiden Bände, die Romane "Frost" und "Verstörung", stellt - "diese maßlos kalten, irritierenden Produkte einer von der Welt bedrängten und die Welt verdrängenden Phantasie". Jener 14. Band enthält frühe Kurzgeschichten Bernhards, die ihn Martus zufolge als "einen Schriftsteller in der klassischen Tradition novellistischen und parabelhaften Schreibens" zeigen - und als hoffnungsfähigen Geist. Nichts weniger als einen "neuen Bernhard" könne man hier kennen lernen, dank einer Ausgabe, die "eigene Lektüregänge" durch das Werk des Österreichers provoziere. Ein guter Begleiter ist nach Ansicht des Rezensenten der Kommentarteil, der tiefe Einblicke in den Schreibprozess und damit in den von Bernhard zum Tabu erklärten Nachlass eröffne. Martus vermutet zwar, dass "Editionspuristen" die Nase rümpfen könnten, "weil die Herstellung von Mischtexten, die unterschiedlich motivierten Eingriffe und die Auswahlkriterien der Druckvorlagen einige Fragen offen lassen". Trotzdem lautet sein Fazit: "Die neue Ausgabe erhebt Bernhard editionspolitisch in den Klassikerstand."
© Perlentaucher Medien GmbH
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