"Es ist ein unheimliches Buch, das wie eine klassische Erzählung anfängt und den Leser ins Grauen hineintreibt, ohne dass er es merkt." So charakterisiert Thomas Bernhard seinen zweiten, 1967 publizierten Roman "Verstörung". Dessen Endfassung schrieb der Autor zwischen dem 23. September und dem 1. Oktober 1966 nieder: "Wenn ich einmal mein Arbeitstempo erreicht habe, kann mich nichts mehr ablenken. ... Vor diesem Stadium liegt aber eine Zeit, in der der geringste Zwischenfall, und sei's der Briefträger, die ganze Arbeit in Frage stellen kann." Dieser Schreibprozeß hat sein Pendant im Leseprozeß. Peter Handke zum Beispiel berichtet im Jahr 1967: "Ich war recht müde, aber das Buch ließ mir keine Ruhe. Die Krankenbesuche des Arztes, bei denen ihn sein Sohn begleitete, hatte ich schon hinter mir, nur der Besuch bei dem Fürsten von Saurau auf der Burg Hochgobernitz stand noch aus. ... Ich hatte etwas getrunken und weitergelesen. Der Fürst war ganz gegen die Wirklichkeit konstruiert. Er erfror von innen heraus. Ich las und las und las ..."
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 17.11.2003Eine totale Weltrevolution
Suhrkamp stellt die Thomas-Bernhard-Werkausgabe vor
WIEN, 16. November
Im Wiener Burgtheater - wo sonst? - und zur sonntäglichen Mittagsstunde präsentierte der Verlag Suhrkamp die ersten drei Bände der ersten Thomas-Bernhard-Werkausgabe: "Frost", "Verstörung" und "Kurzprosa". Zweiundzwanzig Bände mit sieben Herausgebern sollen es werden. Im geschwungenen Säulengang, zwischen Marmor und Gemälden erzählte Rainer Weiß, Programmdirektor und seit kurzem auch Mitglied der Suhrkamp-Geschäftsführung, der Wiener Bernhard-Gemeinde, wie selbstbewußt der junge Schriftsteller in seinen Wunschverlag gelangte: mit einem inzwischen berühmten Brief des Jahres 1961 an Siegfried Unseld. Von einer Ablehnung seiner Erzählung "Der Wald auf der Straße" (der Stoff sei ein wenig zu engbrüstig, befand das Suhrkamp-Lektorat) ließ sich Bernhard nicht abhalten, sondern arbeitete um so intensiver weiter. 1963, mit "Frost", kam der Durchbruch. Daß der Verleger ihm daraufhin vierzigtausend Mark Vorschuß gab, freute den "Kaufmann" Bernhard, und für den Frankfurter Verlag ging die Rechnung auch auf: Wieder war ein Schriftsteller-Kaliber, von ungeheurer Produktivität noch dazu, an den Verlag gebunden. Zwei Millionen Thomas-Bernhard-Bücher verlegte Suhrkamp für den deutschsprachigen Raum; in siebenundzwanzig Sprachen wurden seine Bücher übersetzt. Rainer Weiß nannte die Werkausgabe schlicht die "Einlösung einer Pflicht", sprach aber auch von der "Weltrevolution", von der Thomas Bernhard geredet hatte, als er einmal gefragt wurde, warum er schreibe: "Ausstrahlen! Und das nicht nur weltweit, sondern universell. Jedes Wort ein Treffer. Jedes Kapitel eine Weltanklage. Und alles zusammen eine totale Weltrevolution bis zur totalen Auslöschung."
Ehe die Schauspieler Johannes Terne und Martin Schwab Texte lasen, erläuterten die beiden Herausgeber Wendelin Schmidt-Dengler und Martin Huber ihre Arbeit, die sich an sämtliche vom Autor freigegebenen Werke hält, aber doch Neues zutage bringt: Band 14 mit Kurzprosa enthält Bernhards journalistische Arbeiten und die kaum bekannten Erzählungen der fünfziger Jahre, die, wie "Der Schweinehüter", noch an die Heimatliteratur und seinen Großvater Freumbichler anknüpfen. Faksimiles zeigen, wie besessen er seine Texte überarbeitete und so sein Werk langsam zum Umschlagpunkt trieb. Das war "Frost". Damit hatte Thomas Bernhard seinen Stil gefunden.
ERNA LACKNER
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Suhrkamp stellt die Thomas-Bernhard-Werkausgabe vor
WIEN, 16. November
Im Wiener Burgtheater - wo sonst? - und zur sonntäglichen Mittagsstunde präsentierte der Verlag Suhrkamp die ersten drei Bände der ersten Thomas-Bernhard-Werkausgabe: "Frost", "Verstörung" und "Kurzprosa". Zweiundzwanzig Bände mit sieben Herausgebern sollen es werden. Im geschwungenen Säulengang, zwischen Marmor und Gemälden erzählte Rainer Weiß, Programmdirektor und seit kurzem auch Mitglied der Suhrkamp-Geschäftsführung, der Wiener Bernhard-Gemeinde, wie selbstbewußt der junge Schriftsteller in seinen Wunschverlag gelangte: mit einem inzwischen berühmten Brief des Jahres 1961 an Siegfried Unseld. Von einer Ablehnung seiner Erzählung "Der Wald auf der Straße" (der Stoff sei ein wenig zu engbrüstig, befand das Suhrkamp-Lektorat) ließ sich Bernhard nicht abhalten, sondern arbeitete um so intensiver weiter. 1963, mit "Frost", kam der Durchbruch. Daß der Verleger ihm daraufhin vierzigtausend Mark Vorschuß gab, freute den "Kaufmann" Bernhard, und für den Frankfurter Verlag ging die Rechnung auch auf: Wieder war ein Schriftsteller-Kaliber, von ungeheurer Produktivität noch dazu, an den Verlag gebunden. Zwei Millionen Thomas-Bernhard-Bücher verlegte Suhrkamp für den deutschsprachigen Raum; in siebenundzwanzig Sprachen wurden seine Bücher übersetzt. Rainer Weiß nannte die Werkausgabe schlicht die "Einlösung einer Pflicht", sprach aber auch von der "Weltrevolution", von der Thomas Bernhard geredet hatte, als er einmal gefragt wurde, warum er schreibe: "Ausstrahlen! Und das nicht nur weltweit, sondern universell. Jedes Wort ein Treffer. Jedes Kapitel eine Weltanklage. Und alles zusammen eine totale Weltrevolution bis zur totalen Auslöschung."
Ehe die Schauspieler Johannes Terne und Martin Schwab Texte lasen, erläuterten die beiden Herausgeber Wendelin Schmidt-Dengler und Martin Huber ihre Arbeit, die sich an sämtliche vom Autor freigegebenen Werke hält, aber doch Neues zutage bringt: Band 14 mit Kurzprosa enthält Bernhards journalistische Arbeiten und die kaum bekannten Erzählungen der fünfziger Jahre, die, wie "Der Schweinehüter", noch an die Heimatliteratur und seinen Großvater Freumbichler anknüpfen. Faksimiles zeigen, wie besessen er seine Texte überarbeitete und so sein Werk langsam zum Umschlagpunkt trieb. Das war "Frost". Damit hatte Thomas Bernhard seinen Stil gefunden.
ERNA LACKNER
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Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
"Kristallener Schnee? Glitzernde Sterne? Romantisches Mondlicht? Liebe, Hoffnung und Glück?" Thomas Bernhard? Steffen Martus hat sich die Augen gerieben und ist nach anfänglichem Stutzen umso begeisterter von der Editionspraxis, die den 14. Band der Gesamtausgabe direkt neben die ersten beiden Bände, die Romane "Frost" und "Verstörung", stellt - "diese maßlos kalten, irritierenden Produkte einer von der Welt bedrängten und die Welt verdrängenden Phantasie". Jener 14. Band enthält frühe Kurzgeschichten Bernhards, die ihn Martus zufolge als "einen Schriftsteller in der klassischen Tradition novellistischen und parabelhaften Schreibens" zeigen - und als hoffnungsfähigen Geist. Nichts weniger als einen "neuen Bernhard" könne man hier kennen lernen, dank einer Ausgabe, die "eigene Lektüregänge" durch das Werk des Österreichers provoziere. Ein guter Begleiter ist nach Ansicht des Rezensenten der Kommentarteil, der tiefe Einblicke in den Schreibprozess und damit in den von Bernhard zum Tabu erklärten Nachlass eröffne. Martus vermutet zwar, dass "Editionspuristen" die Nase rümpfen könnten, "weil die Herstellung von Mischtexten, die unterschiedlich motivierten Eingriffe und die Auswahlkriterien der Druckvorlagen einige Fragen offen lassen". Trotzdem lautet sein Fazit: "Die neue Ausgabe erhebt Bernhard editionspolitisch in den Klassikerstand."
© Perlentaucher Medien GmbH
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