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Zu den prägnantesten Gestalten des deutschen Geisteslebens zwischen Reformation und Aufklärung zählt Jacob Böhme (1575-1624). All jenen im 17. Jahrhundert, denen die Fesseln eines dogmatischen Christentums drückend waren und denen die Welt mit ihren Wunderdingen mehr Fragen aufgab, als im strengen Lehrgebäude der lutherischen Mauerkirche Antworten zu finden waren, ist Böhmes Leben und Werk rasch ein Begriff geworden. Seine Schriften boten weitgespannte Entwürfe, welche die Weltschöpfung ohne wissenschaftliche Terminologie und auf biblischem Fundament erschlossen. Böhmes Leser waren von seinen…mehr

Produktbeschreibung
Zu den prägnantesten Gestalten des deutschen Geisteslebens zwischen Reformation und Aufklärung zählt Jacob Böhme (1575-1624). All jenen im 17. Jahrhundert, denen die Fesseln eines dogmatischen Christentums drückend waren und denen die Welt mit ihren Wunderdingen mehr Fragen aufgab, als im strengen Lehrgebäude der lutherischen Mauerkirche Antworten zu finden waren, ist Böhmes Leben und Werk rasch ein Begriff geworden. Seine Schriften boten weitgespannte Entwürfe, welche die Weltschöpfung ohne wissenschaftliche Terminologie und auf biblischem Fundament erschlossen. Böhmes Leser waren von seinen durch Himmel und Hölle führenden Höhenflügen fasziniert und genossen seine anschaulichen Vergleiche, die Schilderungen einer göttlich durchwirkten Natur als einen neuen Zugang zur Welt. Hier fand man schließlich auch den Trost eines zum Greifen nahen Gottes, der gegenüber dem Zorngott der orthodoxen lutherischen Theologie jener Zeit ein Gott der Liebe war. Die vorliegende Ausgabe bietet Böhmes Hauptwerke, den Erstling Die Morgen-Rote im Aufgangk (1612) und das Spätwerk De Signatura Rerum (1622), in kritisch revidierten Texten mit einem umfangreichen Kommentar.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 04.11.1997

Wüter, Tober und Beweger des ganzen Leibes
Erkenntnis gibt es auch ohne Teleskop: Zwei Schriften Jakob Böhmes / Von Kurt Flasch

Am 14. April 1611 lud der römische Aristokrat Federico Cesi seine Freunde zu einem festlichen Abendessen. Es wurde ein Bankett von historischer Bedeutung. Geschichtsforscher wollten immer schon wissen, wo es stattfand. Kürzlich erst konnten sie nachweisen: Die Herren versammelten sich auf dem Hügel oberhalb von Trastevere, in der sogenannten Casa Rustica, die heute im Garten der amerikanischen Akademie steht.

Der wichtigste Gast des Abends war Galileo Galilei, und der Fürst, selbst ein namhafter Naturforscher, hatte eingeladen, um in Rom die neue Erfindung vorzuführen - das Fernrohr, das Galilei aufgrund vager Berichte 1609 nacherfunden hatte. Die Herren waren ungeduldig; schon vor dem Essen wollten sie das neue Instrument erproben. Es war auf die Stadt gerichtet, und sie konnten vom Gianicolo aus die Inschrift auf der Loggia des Laterans lesen. Nach dem Essen widmeten sie sich dem Sternenhimmel; sie sahen Jupiter und seine Monde; sie beobachteten den Saturn. Ein Teilnehmer berichtet, die Herren hätten in jener Nacht noch sieben Stunden miteinander diskutiert, ohne sich einigen zu können. Das neue Weltsystem hatte seinen Einzug in Rom gehalten, und es war sofort umstritten.

Richten wir nun den Blick ein wenig nach Norden, über die Alpen hinweg: Im selben Jahr 1611 spekulierte im damals sächsischen Görlitz ein einfacher Mann über Jupiter und Saturn: Jakob Böhme. Er besaß kein Fernrohr, und er wollte auch keines. Er sah die Sterne; er beobachtete sie nicht. Er notierte seine weltumspannenden Grübeleien, und im Jahr darauf, 1612, geriet seine Handschrift in die Öffentlichkeit: Es erschien "Die Morgenröte". Die Verwicklungen, in die Galilei durch seine Beobachtungen und seine Theorien geriet, kennt heute jeder, doch waren auch die protestantischen Landstriche kein Paradies der Geistesfreiheit. Der evangelische Lokal-Papst von Görlitz, der Oberpfarrer mit dem providentiellen Namen Richter, sah die Orthodoxie bedroht und rief nach dem weltlichen Arm. Die Urschrift von Böhmes "Morgenröte" wurde beschlagnahmt; er mußte schwören, nie mehr über Gegenstände der Religion zu schreiben. Er schwor und hielt sich fünf Jahre an seinen Eid, aber von 1618 bis zu seinem frühen Tod 1624 schrieb er wieder, zusammen etwa viertausend Seiten. Der "Platzregen" der Verfolgung setzte wieder ein; zuletzt verweigerte die Geistlichkeit ihm das christliche Begräbnis; der aufgehetzte Mob verwüstete die Grabstätte. Die Glaubensbehörden hatten für das ganze Jahrhundert zu tun, denn Böhme fand Anhänger, nicht nur in Sachsen, auch in den Niederlanden, in Frankreich und in England.

Der Planet Jupiter, den Böhme sah, war ein anderer als der, den Galilei den römischen Gelehrten zeigte. Böhmes Jupiter rotierte in einem Weltrad von sieben Planeten, und diese verkörperten ihm die sieben Quellgeister oder Urqualitäten: Sein Jupiter zeigte den göttlichen Urgrund. Dazu müßten wir ihn freilich sehen in seinem Zusammenspiel mit Saturn und Mars, mit dem Ganzen der Natur, denn die Natur sei Gottes Leib. Gott ist zu sehen; die Wahrheit über ihn steht im Buch der Natur; am deutlichsten offenbaren ihn die Wandelsterne. Sie zeigen die sieben Hauptqualitäten als die göttlichen Quellgründe, aus denen das Universum quillt. Sie stehen in erfahrbarer Entsprechung zu allem, zu Kräutern und Metallen, zu Formen, Zeiten und Farben; sie bestimmen den Prozeß des Lebens. Sie sind real wirksame Zeichen, Inneres und Äußeres umspannend. Wortbedeutungen, die wir sonst getrennt halten, fließen bei ihrer Beschreibung poetisch ineinander.

B öhmes Nachsinnen über die Planeten besteht darin, den Augenschein, den sie dem "unbewaffneten" Auge bieten, astrologisch-alchimistisch in ein kosmisches Gesamtbild einzuordnen. Auf seine Art war auch Böhme ein Empiriker; er führte im einzelnen aus, worin die Geburt lebendiger Wesen der Entstehung der Sterne entspreche. Seine Welt war beseelt, die Sonne war ihm das Herz des Weltkörpers. Die Analogie von Makrokosmos und Mikrokosmos führt das Denken von jedem Detail auf das Ganze und vom Universum zurück zum Individuum. Es besteht ein wohlproportionierter Zusammenklang der Welt; die Planetenbahnen vollziehen eine Harmonia mundi, aber niemand war weiter von Weltverklärung entfernt als Jakob Böhme. Denn sein Weltprozeß ist treibendes Leben; die leibliche Welt ist Chaos und Kerker; alles steht gegeneinander; das Leben ist Töten; die irdische Welt ist ein Haus des Todes; in ihr herrscht das Zugleich von Liebe und Grimm. Wer Saturn und Jupiter denken will, muß den Zerstörer Mars mitdenken. Die Urqualitäten gebären einander und verschlingen sich: Kalt und Hart stehen gegen Warm und Weich; die Welt ist der Prozeß ihrer wechselseitigen Beziehung und Vernichtung. Die Natur führt sichtbar vor, daß in Gott Güte sein muß und Zorn.

Die Planeten, sie waren für Böhme "die große offene Pforte Gottes". Er wußte, daß die Astronomen sie mit anderen Augen sahen. Ihnen warf er vor, sie sähen diese offene Pforte an "wie eine Kuh ein neues Scheunentor". Mit "fleischlichen Augen" sei dieses Tor nicht zu sehen, dazu bedürfe es der Augen, "in denen das Leben sich in mir gebiert". Wer mit geistigen Augen sehe, erblicke im Kosmos "die Tore der Tiefe und die Pforten des Zornes, auch die Kammer des Todes ist aufgeschlossen". Immer sieht er Gegensätzliches, denn nur im Widerstreit kommt Leben und Bewegung zustande. Daher richtet sich der denkende Blick auf Mars: "Da steht er nun als ein wueter, tober und beweger des gantzen Leibes dieser Welt, dan das ist auch sein Ampt, daß er mit seinem umbgange in dem Radt der Natur alles beweget, davon alles Leben seinen uhrsprung nimpt."

Die Welt Böhmes ist ein Organismus. Zugleich bildet Böhmes Welt auch ein System von Mechanismen, wie das Bild des Rades zeigt. Die Planeten fungieren als Motore, Mars wirkt als "wueter, tober und beweger". Jupiter entspreche im Weltall dem Hirn; er ist der Sänftiger des Zerstörers und wütenden Mars, ein Ursprung der Sanftmut in allem Leben und auch ein Ursprung des Wassers. Jupiter als Teil der äußeren Welt verkörpert anschaulich Sanftmut und Verstand. Saturn wirkt ihm entgegen; er ist "der kalte, scharffe und strenge, herbe Regent"; "er hat in seiner gewalt die kammer des todes und ist ein vertrockner aller krefte". Sein Ursprung ist "die ernstliche, herbe und strenge aengstlichkeit des gantzen Leibes dieser Welt". Er ist die Kraft der Zusammenziehung, aus der die Erde und die Steine entstehen. Das klingt nach einer Theorie der Gravitation, aber Böhme fährt fort, dadurch schaffe Saturn das "Haus des Todes", er bewirke die Einschließung des Lebens, "darinnen dan König Lucifer ist gefangen worden".

Das ist nicht nur eine andere Art von Sternenschau als die Galileis; das ist eine andere Sprache. Das ist eine andere Welt. Aber es ist auch eine Art von Ausbalancierung. Böhme denkt poetisch, assoziativ und "grün", aber nicht "wild", wie der erste Eindruck suggeriert und irrationalistische Böhme-Deuter nahelegen. Er hat eine Leitfrage, und die Betrachtung der Planeten beantwortet sie ihm. Seine Frage war: "Wie kömpts, daß sich alle Creaturen in dieser Welt mit-einander beissen, stossen und schlagen?" Das Leben, immer zugleich böse und gut, ist "ein stetiges martern, quetschen, jammern und heilen", aber es spielt in einem hierarchisierten Universum. Es gibt das Chaos, aber nur als eines der Ur-Elemente. In Böhmes Welt wimmelt es von Geistern, Engeln, Stoffen, aber sie wirken auf- und gegeneinander in einem Ganzen universaler Entsprechungen, das einen einheitlichen Grund beweist und in dem der Mensch eine zentrale Stelle einnimmt, übrigens auch als Veränderer der Natur. Böhmes Bild der Welt hat durchaus seine Logik. Freilich zersprengen es kräftige Kontraste: Das Leben ist der Kampf der Urqualitäten. Aber deren gibt es sieben, nicht mehr, wie es auch nur sieben Planeten geben kann. Ängstlichkeit und Schreck, Freude und Licht durchziehen den ganzen Leib der Welt; sie sind zugleich Weltstrukturen, Mythologeme und Seelenzustände. Das verwirrt die Post-Cartesianer, aber diese Urqualitäten "erklären" die Weltentstehung in Analogie zu Geburt und Tod der Organismen; sie erlauben universale Koordinierungen zwischen Planeten, Gefühlen, Farben und chemischen Prozessen. Sie ermöglichen eine Reform der Medizin. Überhören wir nicht Böhmes antifideistische Erkenntniszuversicht; er verwirft die Ansicht, Gott "sey ein geheymnus, das niemand erforschen kan".

Böhmes Konzept von Wissen ist epochal anders als das Galileis und Descartes'. Dies erzeugt fast zwangsläufig Mißverständnisse und verstümmelnde Aneignungen; auf Böhme beriefen sich Hegel und Baader, Ernst Bloch und Rudolph Steiner; Naziphilosophen demonstrierten an ihm die "deutsche" Denkart in ihrem Gegensatz zur westeuropäischen. Die neue Ausgabe zweier Hauptschriften Böhmes in der Bibliothek Deutscher Klassiker könnte dazu beitragen, Böhmes Bild aus dem Nebel zu retten. Ganz leicht ist dies nicht: Böhmes Sprache ist eigenwillig bis bizarr; sie führt einen Entwicklungszustand des Deutschen vor Augen, den erst Lessing, Herder und Goethe überwunden haben; dem Italiener Galilei stand eine geschmeidigere und geregeltere Sprache zur Verfügung. Böhmes Orthographie hält sich weder an die alten noch an die neuen, ja nicht einmal an seine eigenen Regeln; sein Denken impliziert die uns fremd gewordene neuplatonische Philosophie der Renaissance mit ihrer Betonung der Einheit, der wechselseitigen Durchdringung aller Wesen und der Zentralstellung des Menschen. Böhme operiert ständig mit alchimistischen und astrologischen Begriffen; er bewegt sich spielend leicht zwischen Gottesgedanken, Weltstrukturen und Seelenzuständen. "Schreck" war ihm nicht nur eine Emotion, sondern vor allem ein kosmisches Urereignis, fast so etwas wie unser "Urknall". Immer wieder läßt er die Lutherbibel anklingen, aber er legt sie auf seine freie Weise aus, da der "Buchstaben" töte.

Galilei und Descartes haben gesiegt, daher wirkt diese Prosa auf uns wie ein großes Durcheinander, wie ein heftiges Stoßen und Drängen. Der Leser muß sich anhalten, dies In-Beziehung-Setzen von allem mit allem als eine andere Art von Rationalität zu erfassen. In der Tat zeigen sich Zahlen und Proportionen als Ordnungsgründe, die dem Chaos Gesetze auferlegen, wenn sie das Urbrodeln auch nur zeitweise regulieren. Ich gebe zu, nicht alles verstanden zu haben, was da steht; aber immer, wenn ich unwillig wurde, tauchte ein poetisches Bild oder ein philosophischer Brocken auf, der mich festhielt. Da hieß es plötzlich, Gott sei das ewige Nichts; Gott sei der ewige Wille, das Nichts in Etwas einzuführen; da wird plötzlich die Freiheit definiert als das Nichts. Das gibt zu denken. Die beste Vorschule für Jakob Böhme ist die Betrachtung surrealistischer Bilder; der Leser darf keinen Motivfaden festhalten wollen, sonst verliert er alles. Ich gebe im folgenden ein unfrisiertes Beispiel eines verrückten Textes, der von den Planeten handelt. Voraus geht ihm die These: Der Geist ist das Leben, der Leib ist eine Figur des Lebens. Das versteht man wohl noch, aber dann hebt Böhme ab: "im Blut des Juenglings, wann sich seine Perle in die drey Mörder einergibt, daß sie jhr Blut in vnd mit deß Juenglings vergeusset, da der Ritter in der Hoellen stehet, und die Menschliche selbstheit vbergibet, da sich der weisse Loewe auff seinem Rosinfarben Thier lesset sehen: Allda liget das Heyl der Kranckheit und der Todt des Todes. Der Leib wird im Blut der Liebe im Tode resolviret, auß dem jrrdischen in einen himmlischen."

Wem so etwas nicht gefällt, der soll mit Böhme gar nicht anfangen, denn er würde ihn doch nur einsperren ins Gehäuse seiner eigenen Weltanschauung. Es geht bei diesem Rätseltext um Planetenbetrachtung im Hinblick auf Medizin; dazwischen gerät der philosophische Brocken vom "Tod des Todes". Ein solches Textstück ist ein Extremfall, aber welch ein Farbenspiel in dem Bild des weißen Löwen auf dem rosinfarbenen Tier. Der Stellenkommentar, der fast nur mit der Lutherbibel und dem Grimmschen Wörterbuch arbeitet, erinnert an den apokalyptischen Reiter, der auf einem weißen Pferd sitzt und dessen Kleid blutbespritzt ist, aber diese küsterhafte Bemühung im Geschmack protestantisch-deutscher Geisteswissenschaftler bringt nichts, denn der Reiter ist kein Löwe, und weiß ist nicht das Reittier, sondern der Löwe, und wo bleiben die drei Mörder, die Perle und das Blut des Jünglings? Nein, durch Bibelsprüche läßt sich Böhme nicht eindeutig machen, eher schon durch das Studium der alchimistischen, der astrologischen, der neuplatonischen und hermetischen Texte.

Gewöhnlich sagt man von Böhme, er sei der erste deutsche Philosoph und ein Schuster dazu. Das erste ist mit Sicherheit falsch, denn es gab vor ihm Albert, Dietrich von Freiberg, Meister Eckhart und Nikolaus von Kues. Die Sache mit dem Schuster trifft auch nicht recht zu, denn Böhme hat vor allem mit Leder und Garn gehandelt; wir müssen ihn uns recht wohlhabend und im ständigen Umgang mit Adligen, mit Juristen und Ärzten vorstellen. Akademische Legenden haben ihn ins Volkstümliche und Mystische stilisiert. Gewiß betont er seine Einfalt und erklärt, er habe nicht studiert, aber dieses Laienbewußtsein ist ein spätmittelalterlicher literarischer Topos; Böhme hat mit gleichem Nachdruck geschrieben, er habe viele Bücher studiert; die Kritik an den Ärzten, an Astronomen und Theologen durchzieht sein ganzes Werk; er hat der Universitätswissenschaft den Fehdehandschuh hingeworfen; er hat sie also, wenn auch indirekt, gekannt. Auch seine Terminologie ist nicht volkstümlich, sondern ein literarisches Produkt, dem er originelle Wendungen gibt.

Ein anderes Deutungsschema scheitert an den Texten: Böhme als frommer Lutheraner, als Vater des Pietismus. Dem widerspricht der Anspruch, die Gotteserkenntnis in der Natur zu lehren und die Medizin zu erneuern; dem widersprechen die philosophischen, die astrologischen und alchimistischen Motive, die keineswegs "nur" Metaphern sind, auch wenn sie als Metaphern fungieren. Böhmes "Morgenröte" will eine neue Reformation aus dem Geist einer neuen Naturanschauung, nicht die Affirmation der alten. Die protestantisch-theologische Vereinnahmung Böhmes ist so gewaltsam wie die pantheistische oder die materialistische; sie scheitern allesamt an der nachweisbaren Präsenz des Neuplatonismus.

Die neue Ausgabe zweier wichtiger Böhme-Texte ist schön und verdienstlich. Sie informiert über Böhmes Leben und Werk; sie enthält ein Variantenverzeichnis und gibt einen Stellenkommentar; sie schließt ab mit einer Bibliographie. Viele Worterklärungen sind nützlich, aber ebenso viele sind unnötig; wer zwanzig Seiten Böhme lesen kann, versteht das Wort "Antichrist" auch ohne Hilfe; ihm braucht man nicht zu erklären, daß "Regiment" soviel bedeutet wie "Herrschaft". Die Kommentierung bleibt meist bei einzelnen Vokabeln stehen; die Argumentationsweise und der ideengeschichtliche Hintergrund - Neuplatonismus, Astronomie, Alchimie und Astrologie - kommen in ihrer Bedeutung nicht recht heraus; die Verflechtungen mit dem Stand der Wissenschaften gehen über Luther und Paracelsus weit hinaus zu Cusanus, Ficino und Pico, zur arabischen und lateinischen Astrologie, Medizin, Alchimie. Durch die künstliche Beschränkung auf deutsche Texte erscheint Böhme isolierter, provinzieller und lutheranischer, als er war. Zwar wußte der verfolgte Theosoph nichts vom Teleskop und von der fürstlichen Abendgesellschaft in Rom. Zwar hatte er einen anderen, einen älteren Begriff von Wissen und Erklärung als Galilei. Dennoch gab es da einen gemeinsamen geschichtlichen Hintergrund, vor dem Unterschiede sich erst entwickelten. Auch Görlitz lag in Europa.

Jakob Böhme: "Werke". Hrsg. von Ferdinand van Ingen. Bibliothek der Frühen Neuzeit. Zweite Abteilung: Literatur im Zeitalter des Barock, Band 6. Deutscher Klassiker Verlag, Frankfurt am Main 1997. 1165 S., geb., 172,- DM.

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