Die Handlung fällt in die Zeit des Aufstandes gegen die deutsche Armee in Paris im August 1944. Auf den Dächern der Stadt erfüllt sich durch Verrat und Tod die Liebe zwischen einem deutschen Panzerschützen und einem kollaborierenden Milizsoldaten. Gleichzeitig wird aus der Fülle der Bilder ein einziger, verzweifelter, schmerzlicher Nachruf auf den erschossenen Freund des Dichters.
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 09.10.2001Der den Teufel zwang, Gott zu sein
Jean Genets "Tagebuch des Diebes" in neuer Übersetzung / Von Joseph Hanimann
Begriffe wie Selbstdarstellung und Autobiographie machen bei diesem Autor keinen Sinn. Das Selbst herrscht hier so absolut über alle Inspiration, daß die Realbiographie in tausend literarische Motivschnipsel zerstiebt. Die kontemplative Distanz von Subjekt und Objekt löst sich auf. Genet sehe überall sich selbst, schrieb Jean-Paul Sartre anläßlich dieses Buchs: "Noch die mattesten Oberflächen werfen ihm sein eigenes Bild zurück." Die Welt wird zum Spiegelraum seines Selbst, undurchdringlich wie Gefängnismauern. "Soviel Einsamkeit machte mich selbst zu meinem eigenen Gefährten", schreibt Genet in der fiktiven Rolle des Tagebuchautors, und der ganze Aufwand der Welt draußen habe keinen anderen Zweck als sein eigenes Ich.
Was in den früheren Romanen von den zahlreichen Erlebnisepisoden sich jeweils schließlich doch in einem losen Erzählungsrahmen setzte, bleibt in diesem "Journal" so kleinteilig in der Schwebe, daß praktisch keine zusammenhängenden Narrativspuren mehr lesbar sind. In keinem anderen Text ist Genet mit seinem Stoff so frei umgegangen, hat er seine narrative Unschärfendramaturgie des Voraus- und Zurückschweifens so weit getrieben wie in diesem Abschlußwerk seiner epischen Schaffensperiode. Insofern kommt diesem Buch ein Sonderstatus zu, der sich in Frankreich schon darin niederschlägt, daß es als einziger wichtiger Text nicht in die Gallimard-Werkausgabe aufgenommen wurde und unverändert in seiner separaten Ausgabe aus dem Jahr 1949 weiterexistiert.
So nimmt auch der durchgehende Urtext-Anspruch, der in der neuen Genet-Edition bei Merlin über die drei bisher erschienenen Bände hin jeweils alle zensurierten oder sonst gestrichenen Passagen wieder in den Text einfügte, hier paradoxe Züge an. Die Bedenken, die der Übersetzer am Schluß dieses Bandes in einer persönlichen Anmerkung gegen das Editionskonzept des Verlags anmeldet, sind berechtigt. Einen unzensurierten, unzweifelhaften "Urtext" dieses Werks gibt es eigentlich nicht, mag auch ein solches Manuskript des "Journal du voleur" unlängst auf einer Auktion in Paris versteigert worden sein. Das "Tagebuch des Diebes" ist vielmehr ein mit bald erklärenden, bald korrigierenden Fußnoten und Einschüben arbeitendes Herumretuschieren am eigenen Selbst, das alle Faktizität unterläuft, Erfahrungen anderer dem eigenen Ich leiht oder umgekehrt und Dichtung weit über Wahrheit stellt.
Ein einziger Grenzverlauf liegt absolut fest, ist haarscharf gezogen und unübertretbar: jener zwischen dem erzählenden Ich und dem "ihr" der Leser - "euer" Leben, "eure" Regeln, "eure" Welt. An dieser Grenze meldet sich denn doch so etwas wie eine authentische Autorenvita. Das zwischen erster und zweiter Person Plural auspendelnde Motivgefüge aus Erinnerung und Betrachtung von Genets Vagabundenjahren durch Spanien, Italien, Albanien, Jugoslawien, Österreich, die Tschechoslowakei, Polen, Deutschland und Belgien ergibt so das vielleicht schönste, bei allem erzählten Elend sicher aber heiterste Prosawerk dieses Autors. Dieser Eindruck wird durch Gerhard Hocks verfeinerte Neuübersetzung noch verstärkt.
Die brillant inszenierte Abstoßungsdialektik zwischen "ich" und Welt entspringt - in den Aufzeichnungen beiläufig reaktiviert durch die Betrachtung zweier Polizeifotos, von denen eines den sechzehnjährigen Waisen mit dem traurigen Blick in der Zuchtanstalt zeigt - bei Genet bekanntlich in den frühen Kinderjahren. Von der Familie im Stich gelassen, vertiefte er dieses Anderssein durch alles, was ihn noch weiter von der Gesellschaft entfernte wie Homosexualität, Diebstahl, Verbrechen: "So verwarf ich entschlossen eine Welt, die mich verworfen hatte."
Diese scharfe Dialektik der gegenseitigen Abstoßung läuft aber immer wieder an jähen Assoziationsbildern auf, die ihre Bewegung poetisch aus der Bahn werfen. Daß etwa aus dem Anblick einer auf dem Tisch liegenden Vaselintube, die dem schwulen Mithäftling von einem Polizisten aus der Hosentasche gezogen wurde, über die Assoziationen von Salbe, Öllampe, Straßenlaterne und dem darunter einst wahrgenommenen Bettlerinnengesicht ausgerechnet der Gedanke an die unbekannte Mutter auftaucht, die jene Bettlerin hätte gewesen sein können, läßt Elend und Glücksahnung untrennbar ineinander verkrusten. Die ganze Nacht lang wird die Vaselintube mitsamt der heimlich assoziierten Mutterfigur auf dem Tisch dem Gespött der Polizisten preisgegeben sein: als Gegenstand einer Art ewiger Anbetung im bösen Flackerschein der feindlich geordneten Welt.
Genets blumengeschmückte Gegenheiligkeit ist, wie dieses Buch und diese präzise Neuübersetzung noch deutlicher zeigen, nicht Theodizee des Bösen am Abgrund grübelnder Metaphysik. Sie ist gestisch nachempfundene Pose der Andacht, nur umgepolt. Im Zustand der Todsünde kommunizieren, die empfangene Hostie heftig zerkauen: Das ist die sinnlich experimentierte Gotteserfahrung bei Genet. Der ganze Weihrauch und Kerzenschein, die Gesänge und Palmenzweige, die dem Waisenknaben hinter den Eisblumen am Fenster einst erträumte Sonnenwärme und Orient verhießen, werden in ihrer ritualhaften Immanenz der Sinne belassen und moralisch einfach neu geweiht. "Diebstahl, Bettelei, Verrat, Betrug - sie sind es, die ich für mich gewählt habe, während ich doch stets von dem Gedanken an einen Mord besessen war, durch den ich unwiderruflich aus Eurer Welt ausgestoßen würde", notiert der fingierte Tagebuchschreiber.
Er muß sich damit aber durch eine komplizierte Dialektik der Werte arbeiten, die in keinem anderen Werk Genets so deutlich zum Ausdruck kommt. Verrat und Diebstahl sind nämlich gerade die beiden Elemente, die ihn auch an der französischen Gestapo faszinieren - und fügte man noch die Homosexualität hinzu, so wäre alles perfekt, denn das sind die "drei Tugenden, die ich zu Kardinaltugenden erhebe". So kommt diese Dialektik der Abstoßung leicht in Gefahr. Auf der Durchreise durch das Hitler-Deutschland der späten dreißiger Jahre spürt der vagabundierende Dieb ein Unbehagen und beeilt sich, schnell nach Belgien weiterzukommen, wo er wieder auf eine echte Moral zählen kann und eine anständige Polizei im Dienst für das Gute. Denn Deutschland war selbst ein ausgestoßenes Land in Europa, voll Lug und Betrug, ein "Volk von Dieben" - wenn er hier stehle, ahnt der Vagabund, tue er nichts Besonderes, sondern folge nur der allgemeinen Ordnung: "Der Skandal ist unmöglich, ich stehle ins Leere."
Daraus ergibt sich auch das poetologische Grundmuster des frühen Genet. Wenn seine Figur mit Vorliebe in Frankreich stiehlt, dann geschieht das aus einem Streben nach größtmöglicher Tiefe und Vollkommenheit des Diebstahls. Nur wo man die Sprache und die Gesetze in all ihren Nuancen beherrscht, wird der Akt des Stehlens zu einem wahrhaft uneigennützigen Unternehmen, zu "einer Art gelebtes und gedachtes Kunstwerk". Mehr noch: In der Gemeinsamkeit der Sprache zwischen Dieb, Opfer, Kläger, Richter, Strafvollstrecker gelangt der Akt an seine äußerste Grenze - "vielleicht wollte ich mich in meiner Sprache anklagen".
Nicht Rechtfertigung ist aber die Grundmotivation des Schreibens bei Genet, der mehr auf moralische Indifferenz als auf Gegenmoral aus war und der in jenen Jahren des Engagements und des Existentialismus unvorbereitete Gesprächspartner immer wieder mit der Versicherung verblüffte, an Weltveränderung sei er nicht interessiert. Was er über die Langeweile der Gefängniszellen hinaus in diesem "Tagebuch" als Ansporn seines Schreibens nennt, ist eine schlichte Namensgebung für all jene, die für sich und ihre Taten sonst keine passenden Namen haben. Ihnen will er sein Talent leihen: "Talent ist die Höflichkeit gegenüber der Materie, es soll dem, was stumm war, zum Gesang verhelfen. Mein Talent ist die Liebe zu dem, was die Welt der Gefängnisse und Strafkolonien ausmacht. Nicht daß ich sie verwandeln und an Euer Leben heranführen möchte - oder daß ich sie mit Schonung und Erbarmen betrachte: ich achte in den Dieben, den Verrätern, Mördern, den Schurken und Bösewichten eine tiefe Schönheit - eine umgestülpte Schönheit - die ich Euch nicht zugestehe."
Der Dienst an dieser Schönheit grenzt für Genet ans Heilige und wird mit Schmerz erkauft. Denn Heiligkeit bedeutet für ihn "den Schmerz nutzen und den Teufel zwingen, Gott zu sein". Sollte ihm nicht neues, noch größeres Unheil zustoßen, das nach neuer literarischer Bändigung verlangt, werde dieses Buch sein letztes sein, notierte der Autor im "Journal", kündigt auf der letzten Seite dann aber doch schon einen Folgeband an. Dazu ist es nie gekommen. Statt dessen kamen nach mehrjährigem Schweigen die Theaterstücke "Der Balkon", "Die Neger", "Die Wände", in denen die subtile Dialektik des Prosawerks neu anspringt und sich szenisch klappernd zu Tode läuft.
Inhaltlich bringen die hier in den Text wieder eingefügten Streichungen nichts Neues. Der Grund für die Entfernung der meist obszönen Detailangaben dürfte in der bereitwilligen Selbstzensur des Autors liegen, der bei Erscheinen des Buchs 1949 noch von Gerichtsverfahren bedroht war. Das wirft ein zusätzliches Licht auf dieses persönliche Werk: Das Streichen ist in diesem Falle, wie die nachträglichen Fußnoten, Teil des Schreibakts. Im Unterschied zu dem im letzten Winter erschienenen Roman "Das Totenfest" - auf den dazwischen liegenden vierten Band dieser Werkedition mit "Querelle de Brest" warten wir noch - machen die wiedereingefügten Passagen des "Journal" auch quantitativ wenig aus. Das im befreiten Paris 1944 spielende "Totenfest", das die Person Hitlers zur umstrittenen Romanfigur eines Päderasten mit verstümmelten Geschlechtsteilen umfunktionierte, hat in der treffenden Neuübersetzung von Marion Luckow durch die Zusätze praktisch ein Viertel an Umfang gewonnen. Auch sie bringen inhaltlich nichts spektakulär Neues.
Stilistisch lassen aber diese für deutsche Leser bisher unbekannten Textstellen, wenn etwa aus der zerschossenen russischen Ziegelsteinwand mit dem Zementstaub zugleich Erzählzeit und Geschichte herabrieselt, Genet noch deutlicher als Moralisten im französischen Wortsinn mit beinah klassischen Zügen hervortreten. Sein Prosawerk hat das Schockieren hinter sich und verrät, wo Gott und Teufel Pause machen, einen bisher kaum geahnten Sinn für die Realität.
Jean Genet: "Tagebuch des Diebes". Urfassung. Werke in Einzelbänden, Band 5. Deutsch von Gerhard Hock, mit einem Nachwort von Arnold Stadler und einer editorischen Notiz von Friedrich Flemming. Merlin Verlag, Gifkendorf 2001. 325 S., geb., 45,- DM.
Jean Genet: "Das Totenfest". Urfassung. Werke in Einzelbänden, Band 3. Deutsch und Nachwort von Marion Luckow. Mit einer editorischen Notiz von Friedrich Flemming. Merlin Verlag, Gifkendorf 2000. 435 S., geb., 45,- DM.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Jean Genets "Tagebuch des Diebes" in neuer Übersetzung / Von Joseph Hanimann
Begriffe wie Selbstdarstellung und Autobiographie machen bei diesem Autor keinen Sinn. Das Selbst herrscht hier so absolut über alle Inspiration, daß die Realbiographie in tausend literarische Motivschnipsel zerstiebt. Die kontemplative Distanz von Subjekt und Objekt löst sich auf. Genet sehe überall sich selbst, schrieb Jean-Paul Sartre anläßlich dieses Buchs: "Noch die mattesten Oberflächen werfen ihm sein eigenes Bild zurück." Die Welt wird zum Spiegelraum seines Selbst, undurchdringlich wie Gefängnismauern. "Soviel Einsamkeit machte mich selbst zu meinem eigenen Gefährten", schreibt Genet in der fiktiven Rolle des Tagebuchautors, und der ganze Aufwand der Welt draußen habe keinen anderen Zweck als sein eigenes Ich.
Was in den früheren Romanen von den zahlreichen Erlebnisepisoden sich jeweils schließlich doch in einem losen Erzählungsrahmen setzte, bleibt in diesem "Journal" so kleinteilig in der Schwebe, daß praktisch keine zusammenhängenden Narrativspuren mehr lesbar sind. In keinem anderen Text ist Genet mit seinem Stoff so frei umgegangen, hat er seine narrative Unschärfendramaturgie des Voraus- und Zurückschweifens so weit getrieben wie in diesem Abschlußwerk seiner epischen Schaffensperiode. Insofern kommt diesem Buch ein Sonderstatus zu, der sich in Frankreich schon darin niederschlägt, daß es als einziger wichtiger Text nicht in die Gallimard-Werkausgabe aufgenommen wurde und unverändert in seiner separaten Ausgabe aus dem Jahr 1949 weiterexistiert.
So nimmt auch der durchgehende Urtext-Anspruch, der in der neuen Genet-Edition bei Merlin über die drei bisher erschienenen Bände hin jeweils alle zensurierten oder sonst gestrichenen Passagen wieder in den Text einfügte, hier paradoxe Züge an. Die Bedenken, die der Übersetzer am Schluß dieses Bandes in einer persönlichen Anmerkung gegen das Editionskonzept des Verlags anmeldet, sind berechtigt. Einen unzensurierten, unzweifelhaften "Urtext" dieses Werks gibt es eigentlich nicht, mag auch ein solches Manuskript des "Journal du voleur" unlängst auf einer Auktion in Paris versteigert worden sein. Das "Tagebuch des Diebes" ist vielmehr ein mit bald erklärenden, bald korrigierenden Fußnoten und Einschüben arbeitendes Herumretuschieren am eigenen Selbst, das alle Faktizität unterläuft, Erfahrungen anderer dem eigenen Ich leiht oder umgekehrt und Dichtung weit über Wahrheit stellt.
Ein einziger Grenzverlauf liegt absolut fest, ist haarscharf gezogen und unübertretbar: jener zwischen dem erzählenden Ich und dem "ihr" der Leser - "euer" Leben, "eure" Regeln, "eure" Welt. An dieser Grenze meldet sich denn doch so etwas wie eine authentische Autorenvita. Das zwischen erster und zweiter Person Plural auspendelnde Motivgefüge aus Erinnerung und Betrachtung von Genets Vagabundenjahren durch Spanien, Italien, Albanien, Jugoslawien, Österreich, die Tschechoslowakei, Polen, Deutschland und Belgien ergibt so das vielleicht schönste, bei allem erzählten Elend sicher aber heiterste Prosawerk dieses Autors. Dieser Eindruck wird durch Gerhard Hocks verfeinerte Neuübersetzung noch verstärkt.
Die brillant inszenierte Abstoßungsdialektik zwischen "ich" und Welt entspringt - in den Aufzeichnungen beiläufig reaktiviert durch die Betrachtung zweier Polizeifotos, von denen eines den sechzehnjährigen Waisen mit dem traurigen Blick in der Zuchtanstalt zeigt - bei Genet bekanntlich in den frühen Kinderjahren. Von der Familie im Stich gelassen, vertiefte er dieses Anderssein durch alles, was ihn noch weiter von der Gesellschaft entfernte wie Homosexualität, Diebstahl, Verbrechen: "So verwarf ich entschlossen eine Welt, die mich verworfen hatte."
Diese scharfe Dialektik der gegenseitigen Abstoßung läuft aber immer wieder an jähen Assoziationsbildern auf, die ihre Bewegung poetisch aus der Bahn werfen. Daß etwa aus dem Anblick einer auf dem Tisch liegenden Vaselintube, die dem schwulen Mithäftling von einem Polizisten aus der Hosentasche gezogen wurde, über die Assoziationen von Salbe, Öllampe, Straßenlaterne und dem darunter einst wahrgenommenen Bettlerinnengesicht ausgerechnet der Gedanke an die unbekannte Mutter auftaucht, die jene Bettlerin hätte gewesen sein können, läßt Elend und Glücksahnung untrennbar ineinander verkrusten. Die ganze Nacht lang wird die Vaselintube mitsamt der heimlich assoziierten Mutterfigur auf dem Tisch dem Gespött der Polizisten preisgegeben sein: als Gegenstand einer Art ewiger Anbetung im bösen Flackerschein der feindlich geordneten Welt.
Genets blumengeschmückte Gegenheiligkeit ist, wie dieses Buch und diese präzise Neuübersetzung noch deutlicher zeigen, nicht Theodizee des Bösen am Abgrund grübelnder Metaphysik. Sie ist gestisch nachempfundene Pose der Andacht, nur umgepolt. Im Zustand der Todsünde kommunizieren, die empfangene Hostie heftig zerkauen: Das ist die sinnlich experimentierte Gotteserfahrung bei Genet. Der ganze Weihrauch und Kerzenschein, die Gesänge und Palmenzweige, die dem Waisenknaben hinter den Eisblumen am Fenster einst erträumte Sonnenwärme und Orient verhießen, werden in ihrer ritualhaften Immanenz der Sinne belassen und moralisch einfach neu geweiht. "Diebstahl, Bettelei, Verrat, Betrug - sie sind es, die ich für mich gewählt habe, während ich doch stets von dem Gedanken an einen Mord besessen war, durch den ich unwiderruflich aus Eurer Welt ausgestoßen würde", notiert der fingierte Tagebuchschreiber.
Er muß sich damit aber durch eine komplizierte Dialektik der Werte arbeiten, die in keinem anderen Werk Genets so deutlich zum Ausdruck kommt. Verrat und Diebstahl sind nämlich gerade die beiden Elemente, die ihn auch an der französischen Gestapo faszinieren - und fügte man noch die Homosexualität hinzu, so wäre alles perfekt, denn das sind die "drei Tugenden, die ich zu Kardinaltugenden erhebe". So kommt diese Dialektik der Abstoßung leicht in Gefahr. Auf der Durchreise durch das Hitler-Deutschland der späten dreißiger Jahre spürt der vagabundierende Dieb ein Unbehagen und beeilt sich, schnell nach Belgien weiterzukommen, wo er wieder auf eine echte Moral zählen kann und eine anständige Polizei im Dienst für das Gute. Denn Deutschland war selbst ein ausgestoßenes Land in Europa, voll Lug und Betrug, ein "Volk von Dieben" - wenn er hier stehle, ahnt der Vagabund, tue er nichts Besonderes, sondern folge nur der allgemeinen Ordnung: "Der Skandal ist unmöglich, ich stehle ins Leere."
Daraus ergibt sich auch das poetologische Grundmuster des frühen Genet. Wenn seine Figur mit Vorliebe in Frankreich stiehlt, dann geschieht das aus einem Streben nach größtmöglicher Tiefe und Vollkommenheit des Diebstahls. Nur wo man die Sprache und die Gesetze in all ihren Nuancen beherrscht, wird der Akt des Stehlens zu einem wahrhaft uneigennützigen Unternehmen, zu "einer Art gelebtes und gedachtes Kunstwerk". Mehr noch: In der Gemeinsamkeit der Sprache zwischen Dieb, Opfer, Kläger, Richter, Strafvollstrecker gelangt der Akt an seine äußerste Grenze - "vielleicht wollte ich mich in meiner Sprache anklagen".
Nicht Rechtfertigung ist aber die Grundmotivation des Schreibens bei Genet, der mehr auf moralische Indifferenz als auf Gegenmoral aus war und der in jenen Jahren des Engagements und des Existentialismus unvorbereitete Gesprächspartner immer wieder mit der Versicherung verblüffte, an Weltveränderung sei er nicht interessiert. Was er über die Langeweile der Gefängniszellen hinaus in diesem "Tagebuch" als Ansporn seines Schreibens nennt, ist eine schlichte Namensgebung für all jene, die für sich und ihre Taten sonst keine passenden Namen haben. Ihnen will er sein Talent leihen: "Talent ist die Höflichkeit gegenüber der Materie, es soll dem, was stumm war, zum Gesang verhelfen. Mein Talent ist die Liebe zu dem, was die Welt der Gefängnisse und Strafkolonien ausmacht. Nicht daß ich sie verwandeln und an Euer Leben heranführen möchte - oder daß ich sie mit Schonung und Erbarmen betrachte: ich achte in den Dieben, den Verrätern, Mördern, den Schurken und Bösewichten eine tiefe Schönheit - eine umgestülpte Schönheit - die ich Euch nicht zugestehe."
Der Dienst an dieser Schönheit grenzt für Genet ans Heilige und wird mit Schmerz erkauft. Denn Heiligkeit bedeutet für ihn "den Schmerz nutzen und den Teufel zwingen, Gott zu sein". Sollte ihm nicht neues, noch größeres Unheil zustoßen, das nach neuer literarischer Bändigung verlangt, werde dieses Buch sein letztes sein, notierte der Autor im "Journal", kündigt auf der letzten Seite dann aber doch schon einen Folgeband an. Dazu ist es nie gekommen. Statt dessen kamen nach mehrjährigem Schweigen die Theaterstücke "Der Balkon", "Die Neger", "Die Wände", in denen die subtile Dialektik des Prosawerks neu anspringt und sich szenisch klappernd zu Tode läuft.
Inhaltlich bringen die hier in den Text wieder eingefügten Streichungen nichts Neues. Der Grund für die Entfernung der meist obszönen Detailangaben dürfte in der bereitwilligen Selbstzensur des Autors liegen, der bei Erscheinen des Buchs 1949 noch von Gerichtsverfahren bedroht war. Das wirft ein zusätzliches Licht auf dieses persönliche Werk: Das Streichen ist in diesem Falle, wie die nachträglichen Fußnoten, Teil des Schreibakts. Im Unterschied zu dem im letzten Winter erschienenen Roman "Das Totenfest" - auf den dazwischen liegenden vierten Band dieser Werkedition mit "Querelle de Brest" warten wir noch - machen die wiedereingefügten Passagen des "Journal" auch quantitativ wenig aus. Das im befreiten Paris 1944 spielende "Totenfest", das die Person Hitlers zur umstrittenen Romanfigur eines Päderasten mit verstümmelten Geschlechtsteilen umfunktionierte, hat in der treffenden Neuübersetzung von Marion Luckow durch die Zusätze praktisch ein Viertel an Umfang gewonnen. Auch sie bringen inhaltlich nichts spektakulär Neues.
Stilistisch lassen aber diese für deutsche Leser bisher unbekannten Textstellen, wenn etwa aus der zerschossenen russischen Ziegelsteinwand mit dem Zementstaub zugleich Erzählzeit und Geschichte herabrieselt, Genet noch deutlicher als Moralisten im französischen Wortsinn mit beinah klassischen Zügen hervortreten. Sein Prosawerk hat das Schockieren hinter sich und verrät, wo Gott und Teufel Pause machen, einen bisher kaum geahnten Sinn für die Realität.
Jean Genet: "Tagebuch des Diebes". Urfassung. Werke in Einzelbänden, Band 5. Deutsch von Gerhard Hock, mit einem Nachwort von Arnold Stadler und einer editorischen Notiz von Friedrich Flemming. Merlin Verlag, Gifkendorf 2001. 325 S., geb., 45,- DM.
Jean Genet: "Das Totenfest". Urfassung. Werke in Einzelbänden, Band 3. Deutsch und Nachwort von Marion Luckow. Mit einer editorischen Notiz von Friedrich Flemming. Merlin Verlag, Gifkendorf 2000. 435 S., geb., 45,- DM.
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Perlentaucher-Notiz zur NZZ-Rezension
Bei der gegenwärtigen Flut von "Skandalliteratur" aus Frankreich heißt es, die Spreu sorgfältig vom Weizen zu trennen, findet der mit "tlx" kürzelnde Rezensent zu Recht. Genets "Totenfest" hat dabei ganz gute Karten: Nach Ansicht des Rezensenten gehört Genets Roman um ein Mitglied der prodeutschen Miliz Darnands und seinen Liebhaber, einem deutschen Soldaten, eindeutig zum Weizen. Der Roman, in dem Hitler als Päderast auftritt und ein Verhältnis mit einem französischen Jungen hat, dokumentiert Genets extremen Abscheu vor den Wertvorstellungen des bürgerlichen Frankreich, erklärt der Rezensent. Insbesondere Genets Courage, "politisch brisante Themen und erotisch-pornographische Phantasien auf einer Ebene zu behandeln", um so zu irritieren und zu provozieren, beeindruckt unseren Rezensenten. Lob gebührt nach seiner Ansicht auch dem erhellenden Nachwort der Übersetzerin Marion Luckow, das verdeutliche, dass Genets Roman die Poesie gleichsam inhärent sei.
© Perlentaucher Medien GmbH
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