Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 19.01.2001Die Wespennester der Bibliothek
Der Intellektuelle schielt nicht: Lessings Schriften 1770 bis 1773
1770 wird Lessing Bibliothekar in Wolfenbüttel. Wohl hatte er jetzt ein Amt (was ihm zuvor nie in den Kopf wollte), ein sicheres Einkommen (was freilich gegen die aufgelaufenen Schulden nicht ankam) und eine Welt von Büchern in einer der reichsten Bibliotheken der Zeit. Aber was half das dem Unruhigen, der in eine Einöde ohne Geselligkeit und Freunde geriet, die Verbindung mit Eva König in weite Ferne gerückt sah, dem Bücherstaub Luft und Lust zur eigenen Produktion zu nehmen drohte? Die ersten Wolfenbütteler Jahre, unterbrochen nur von einer längeren Reise nach Hamburg (wo er sich verlobt) und Berlin, werden zu einer Zeit gründlichen Mißvergnügens. Das Register reicht von Hypochondrie und Galle bis zu Ekel und wildem Weltschmerz. Bestürzt äußert die Verlobte die "Furcht, Sie möchten sich verwahrlosen". Das Werk, das unter solchen Umständen gleichwohl zusammenkommt, stellt jetzt der siebte Band der Lessing-Ausgabe des Klassiker Verlags im Ensemble vor. "Disparat" nennt es der Herausgeber Klaus Bohnen, dessen unermüdliche und findige Kommentierungsarbeit keine schlechte Laune gelten läßt. Zu besichtigen ist ein erzwungenes Gruppenbild mit Dame. Das Glanzstück, die "Emilia Galotti", Produkt einer heiter aufgehellten Schaffensphase, sieht sich umringt von einer Reihe archivalischer Brotarbeiten, wie sie entlegener und zufälliger kaum sein könnten. Was hatte sich das berühmteste poetische Ingenium Deutschlands angetan, als es bibliothekarisch wurde? Schon die Freunde verbargen nur mühsam ihr Befremden. Lessing selbst war die Misere nur allzu bewußt.
Um so angestrengter verordnete er sich in Wolfenbüttel die innovatorischen Energien des Neuankömmlings und setzte seine Zeichen. "Taten der Bibliothek" lautete seine Parole, und damit hielt er sich die Kärrnerarbeit vom Leibe, Kataloge, Inventare, Handschriftenbeschreibungen. Statt dessen ging er auf Schatzsuche und präsentierte die glücklichen Funde, die sein Temperament und damit auch seinen gelernten Scharfsinn zu entzünden vermochten. So fiel ihm gleich in den ersten Tagen ein Manuskript des Berengarius Turonensis in die Hand, ein Dokument aus dem Abendmahlsstreit des elften Jahrhunderts - er machte daraus eine Abhandlung von gut einhundertzwanzig Seiten, die kein Detail der verwickelten Händel ausließ.
Freund Nicolai war entsetzt über das "Stückchen verteufelte Kirchenhistorie". "Der verdammte Berengarius!" seufzte Bruder Karl. Die Ungeduldigen wollten nicht wahrhaben, was Lessing mobilisierte. Die Fron galt der Rettung eines Ketzers und gehorchte damit einer Lieblingsfigur seines Denkens. Seit Gottfried Arnolds "Kirchen- und Ketzer-Historie" waren Ketzer im Kurs erheblich gestiegen. Auch für Lessing ist der Ketzer "ein Mensch, der mit seinen eigenen Augen wenigstens sehen wollen", und sein Name deshalb "die größte Empfehlung, die von einem Gelehrten auf die Nachwelt gebracht werden können". Nun behauptete eine "parteiische" Überlieferung freilich, der Ketzer Berengar habe klein beigegeben und sich bekehrt. Dagegen konnte Lessing triumphierend seinen Fund in Stellung bringen: Berengar war seiner Sache tatsächlich treu geblieben. Kein "Kuppler der Wahrheit", kein Opportunist, keine "trahison des clercs" kommt zu Gesicht, ein Intellektueller vielmehr, der nur eine Instanz kennt: die Wahrheit. "Ein Berengarius stirbt sicherlich, wie er lehrte."
Ebenfalls zur Verteidigung eines konsequenten Intellektuellen nutzte Lessing den weitaus bedeutenderen, aktuelleren, aber auch heikleren Fund einer Leibniz-Handschrift. Es handelte sich um die knappe Vorrede zu einer alten theologischen Schrift gegen "die ewigen Strafen der Gottlosen", in der Leibniz zu erkennen gibt, daß er unendliche Strafen sehr wohl vereinbar hält mit der Gerechtigkeit Gottes. Das war ein theologisches Wespennest. Ungerührt wehrt Lessing jeden Verdacht der Anpassung an die Orthodoxie von Leibniz ab, besteht er auf der Folgerichtigkeit des Arguments auch im System der "besten Welt", unbekümmert um den Beifall der falschen (der orthodoxen) Seite wie um die Proteste "unserer neumodischen Geistlichen" (die er noch mehr verachtet). Der Intellektuelle schielt nicht.
Seltsam genug nimmt sich die "Emilia Galotti" in solcher Nachbarschaft aus. Doch regiert nicht allenthalben der gleiche Denkstil - gleichermaßen das unerbittliche dramatische Kalkül hier wie der unnachgiebige gelehrte Diskurs dort? Licht fällt dann womöglich auch auf ein Problem, das die Interpretation des Stücks seit jeher verwirrt hat. Eine moderne, bürgerliche Virginia wollte Lessing, frei von allem Staatsinteresse? Seit Herder hat man sich daran gerieben, daß hier ein Vater den Dolch gegen seine eigene Tochter und nicht gegen den prinzlichen Schurken richtet und alles versucht, um dafür zumindest den Dolch der Tragödie ins Herz der herrschenden Verhältnisse zu stoßen, zumal Emilia Galottis Alternative "death or shame" nur noch Kopfschütteln auslöst. Auch unser Herausgeber hält wenig von der tragischen, also tragödienspezifischen Erschütterung, die noch der Hamburger Dramaturg mit größtem Aufwand eingeschärft hatte, und verpflichtet das Stück auf "die Einsicht in eine ,aus den Fugen' geratene Welt, die Empörung auslöst". Das ist politisch korrekt - mutet Lessing allerdings just jene anpasserisch-verdeckte Schreibweise zu, gegen die er in der Berengarius- wie Leibniz-Abhandlung zu Felde zieht.
HANS-JÜRGEN SCHINGS.
Gotthold Ephraim Lessing: "Werke 1770 - 1773". Herausgegeben von Klaus Bohnen. Deutscher Klassiker Verlag, Frankfurt am Main 2000. 1178 S., geb., 156,- DM.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Der Intellektuelle schielt nicht: Lessings Schriften 1770 bis 1773
1770 wird Lessing Bibliothekar in Wolfenbüttel. Wohl hatte er jetzt ein Amt (was ihm zuvor nie in den Kopf wollte), ein sicheres Einkommen (was freilich gegen die aufgelaufenen Schulden nicht ankam) und eine Welt von Büchern in einer der reichsten Bibliotheken der Zeit. Aber was half das dem Unruhigen, der in eine Einöde ohne Geselligkeit und Freunde geriet, die Verbindung mit Eva König in weite Ferne gerückt sah, dem Bücherstaub Luft und Lust zur eigenen Produktion zu nehmen drohte? Die ersten Wolfenbütteler Jahre, unterbrochen nur von einer längeren Reise nach Hamburg (wo er sich verlobt) und Berlin, werden zu einer Zeit gründlichen Mißvergnügens. Das Register reicht von Hypochondrie und Galle bis zu Ekel und wildem Weltschmerz. Bestürzt äußert die Verlobte die "Furcht, Sie möchten sich verwahrlosen". Das Werk, das unter solchen Umständen gleichwohl zusammenkommt, stellt jetzt der siebte Band der Lessing-Ausgabe des Klassiker Verlags im Ensemble vor. "Disparat" nennt es der Herausgeber Klaus Bohnen, dessen unermüdliche und findige Kommentierungsarbeit keine schlechte Laune gelten läßt. Zu besichtigen ist ein erzwungenes Gruppenbild mit Dame. Das Glanzstück, die "Emilia Galotti", Produkt einer heiter aufgehellten Schaffensphase, sieht sich umringt von einer Reihe archivalischer Brotarbeiten, wie sie entlegener und zufälliger kaum sein könnten. Was hatte sich das berühmteste poetische Ingenium Deutschlands angetan, als es bibliothekarisch wurde? Schon die Freunde verbargen nur mühsam ihr Befremden. Lessing selbst war die Misere nur allzu bewußt.
Um so angestrengter verordnete er sich in Wolfenbüttel die innovatorischen Energien des Neuankömmlings und setzte seine Zeichen. "Taten der Bibliothek" lautete seine Parole, und damit hielt er sich die Kärrnerarbeit vom Leibe, Kataloge, Inventare, Handschriftenbeschreibungen. Statt dessen ging er auf Schatzsuche und präsentierte die glücklichen Funde, die sein Temperament und damit auch seinen gelernten Scharfsinn zu entzünden vermochten. So fiel ihm gleich in den ersten Tagen ein Manuskript des Berengarius Turonensis in die Hand, ein Dokument aus dem Abendmahlsstreit des elften Jahrhunderts - er machte daraus eine Abhandlung von gut einhundertzwanzig Seiten, die kein Detail der verwickelten Händel ausließ.
Freund Nicolai war entsetzt über das "Stückchen verteufelte Kirchenhistorie". "Der verdammte Berengarius!" seufzte Bruder Karl. Die Ungeduldigen wollten nicht wahrhaben, was Lessing mobilisierte. Die Fron galt der Rettung eines Ketzers und gehorchte damit einer Lieblingsfigur seines Denkens. Seit Gottfried Arnolds "Kirchen- und Ketzer-Historie" waren Ketzer im Kurs erheblich gestiegen. Auch für Lessing ist der Ketzer "ein Mensch, der mit seinen eigenen Augen wenigstens sehen wollen", und sein Name deshalb "die größte Empfehlung, die von einem Gelehrten auf die Nachwelt gebracht werden können". Nun behauptete eine "parteiische" Überlieferung freilich, der Ketzer Berengar habe klein beigegeben und sich bekehrt. Dagegen konnte Lessing triumphierend seinen Fund in Stellung bringen: Berengar war seiner Sache tatsächlich treu geblieben. Kein "Kuppler der Wahrheit", kein Opportunist, keine "trahison des clercs" kommt zu Gesicht, ein Intellektueller vielmehr, der nur eine Instanz kennt: die Wahrheit. "Ein Berengarius stirbt sicherlich, wie er lehrte."
Ebenfalls zur Verteidigung eines konsequenten Intellektuellen nutzte Lessing den weitaus bedeutenderen, aktuelleren, aber auch heikleren Fund einer Leibniz-Handschrift. Es handelte sich um die knappe Vorrede zu einer alten theologischen Schrift gegen "die ewigen Strafen der Gottlosen", in der Leibniz zu erkennen gibt, daß er unendliche Strafen sehr wohl vereinbar hält mit der Gerechtigkeit Gottes. Das war ein theologisches Wespennest. Ungerührt wehrt Lessing jeden Verdacht der Anpassung an die Orthodoxie von Leibniz ab, besteht er auf der Folgerichtigkeit des Arguments auch im System der "besten Welt", unbekümmert um den Beifall der falschen (der orthodoxen) Seite wie um die Proteste "unserer neumodischen Geistlichen" (die er noch mehr verachtet). Der Intellektuelle schielt nicht.
Seltsam genug nimmt sich die "Emilia Galotti" in solcher Nachbarschaft aus. Doch regiert nicht allenthalben der gleiche Denkstil - gleichermaßen das unerbittliche dramatische Kalkül hier wie der unnachgiebige gelehrte Diskurs dort? Licht fällt dann womöglich auch auf ein Problem, das die Interpretation des Stücks seit jeher verwirrt hat. Eine moderne, bürgerliche Virginia wollte Lessing, frei von allem Staatsinteresse? Seit Herder hat man sich daran gerieben, daß hier ein Vater den Dolch gegen seine eigene Tochter und nicht gegen den prinzlichen Schurken richtet und alles versucht, um dafür zumindest den Dolch der Tragödie ins Herz der herrschenden Verhältnisse zu stoßen, zumal Emilia Galottis Alternative "death or shame" nur noch Kopfschütteln auslöst. Auch unser Herausgeber hält wenig von der tragischen, also tragödienspezifischen Erschütterung, die noch der Hamburger Dramaturg mit größtem Aufwand eingeschärft hatte, und verpflichtet das Stück auf "die Einsicht in eine ,aus den Fugen' geratene Welt, die Empörung auslöst". Das ist politisch korrekt - mutet Lessing allerdings just jene anpasserisch-verdeckte Schreibweise zu, gegen die er in der Berengarius- wie Leibniz-Abhandlung zu Felde zieht.
HANS-JÜRGEN SCHINGS.
Gotthold Ephraim Lessing: "Werke 1770 - 1773". Herausgegeben von Klaus Bohnen. Deutscher Klassiker Verlag, Frankfurt am Main 2000. 1178 S., geb., 156,- DM.
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