In der kritischen Ausgabe ihrer Gedichte werden erstmals alle zu Lebzeiten der Dichterin erschienenen Gedichte in der Chronologie und der Textgestalt der Erstdrucke abgedruckt. Die Anmerkungen dokumentieren die Textgeschichte jedes einzelnen Gedichts, die ermittelten Gedichtdrucke und Gedichthandschriften, meist Reinschriften, die die Dichterin häufig als Geschenk anfertigte. Kleinere Gedichtsammlungen werden vollständig abgedruckt. Aus dem Nachlaß Else Lasker-Schülers werden zahlreiche bislang noch unbekannte Gedichte veröffentlicht. Die Erläuterungen zu den Gedichten erschließen die wichtigste Quelle von Else Lasker-Schüler. Mit Hilfe der Erläuterungen können Leser die Vielfalt der oft verschlüsselten Bezüge erkennen und einbeziehen.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 10.12.2001Die Verscheuchte
Else Lasker-Schülers Prosa in der Werkausgabe
Ich hatte beide Hände halb erfroren und voll von Rissen, da ich ja erste Tage am See unter einem Baum versteckt schlief", schreibt Else Lasker-Schüler 1933 an ihre Freundin Hulda Pankok. Die Autorin hatte vorher, am 19. April des Jahres, Hals über Kopf das von ihr so geliebte Berlin verlassen, da sie sich in Deutschland von antisemitischen Übergriffen bedroht wußte. Hinter sich ließ sie die Stadt, in der sie fast vierzig Jahre lang ihr wechselvolles Leben als Autorin und Zeichnerin inmitten der Berliner Boheme verbracht hatte. Vor ihr lag eine Zeit voller Unsicherheit und Bedrängnis. In der Schweiz als erster Exilstation wurde sie mit Berufsverbot belegt und mußte wiederholt um eine Aufenthaltsgenehmigung ringen. Zwischen Zürich und Ascona reiste die 1933 bereits vierundsechzig Jahre alte Lasker-Schüler hin und her, um schließlich nach ihrer dritten Palästina-Reise im Jahr 1939 nie mehr Schweizer Boden zu betreten. Der ausgebrochene Zweite Weltkrieg verhinderte endgültig ihre Rückkehr.
Auch die Zeit vor der Emigration war für Lasker-Schüler eine wechselvolle Zeit gewesen. Die Inflation hatte ihre ewigen Geldsorgen verschärft; sie geriet ob dieser prekären Lage in Streit mit ihren Berliner Verlegern, allen voran Paul Cassirer. Ihr geliebter Sohn Paul starb 1927 an Tuberkulose. Doch es gab auch positive Entwicklungen zu verzeichnen. 1932 hatte sie den Kleist-Preis erhalten. Trotz ihres Zerwürfnisses mit Cassirer, in dessen Verlag in den Jahren 1919 bis 1920 eine zehnbändige Gesamtausgabe ihrer Werke erschienen war, konnte sie neue Verleger finden. Der Rowohlt Verlag publizierte 1932 den Prosasammelband "Konzert" und die Erzählung "Arthur Aronymus. Die Geschichte meines Vaters". Bei S. Fischer Berlin erschien im Theaterverlag die dramatische Fassung von "Arthur Aronymus". Zudem veröffentlichte Lasker-Schüler Artikel und Essays in federführenden Zeitungen wie dem "Berliner Tageblatt". Alldem setzte die Emigration ein jähes Ende.
Der nun vorliegende vierte Band der kritischen Ausgabe von Else Lasker-Schülers Werk umfaßt sämtliche publizierten und bislang unpublizierten Prosaschriften aus der Zeit von 1921 bis 1945, dem Todesjahr der Autorin. Nicht aufgenommen ist lediglich der Reisebericht "Das Hebräerland" von 1937, der aufgrund seines Umfangs und der vielfachen Überarbeitungen Lasker-Schülers gesondert im nächsten Band der kritischen Ausgabe erscheinen wird. Neben der 1925 von Lasker-Schüler selbst verlegten Streitschrift "Ich räume auf! Meine Anklage gegen meine Verleger", die ein flammender Angriff auf eine ausbeutende verlegerische Praxis ist, enthält der vorliegende Band die Erzählung "Der Wunderrabbiner von Barcelona", die Prosafassungen von "Arthur Aronymus", sämtliche, zum Teil in Tageszeitungen publizierten Prosatexte aus dem Zeitraum von "Konzert", die "Tagebuchblätter aus Zürich", Vorträge und Notizen. Editorisch waren die Herausgeber hier gegenüber der frühen Prosa im Vorteil, denn Lasker-Schüler hatte nachweislich ab 1920 damit begonnen, ihre Arbeiten systematisch in Mappen zu sammeln. Diese rettete sie ins Exil.
Durch das Erscheinen des vorliegenden Bandes kann eine Lücke in der Lasker-Schüler-Rezeption geschlossen werden. Die Prosatexte aus der Zeit des Exils sind nun endlich zugänglich. Sie waren bisher nur in Ausschnitten veröffentlicht und auf verschiedene Publikationsorte verteilt. Einen besonderen Stellenwert hat dabei der Text "Ein paar Tagebuchblätter aus Zürich", 1938/39 unmittelbar vor der Übersiedlung nach Jerusalem verfaßt. Die "Tagebuchblätter" vergegenwärtigen die Situation der Autorin im Schweizer Exil zwischen 1933 und 1939.
Bereits in den vorangegangenen Bänden hat die kritische Ausgabe dazu beigetragen, eine neue und verläßliche Basis für die Rezeption zu schaffen. Die Herausgeber Norbert Oellers, Heinz Rölleke und Itta Shedletzky ordnen die Texte chronologisch in der Reihenfolge der Erstabdrucke. Shedletzky und Karl Skrodzki, die den vierten Band bearbeitet haben, liefern einen sorgfältigen Apparatband mit allen Textzeugen der Überlieferung, den Varianten und Lesarten sowie mit (teilweise etwas zu) detaillierten Sacherläuterungen, die den zeitgeschichtlichen Kontext skizzieren. Wenn Lasker-Schüler bei der Veröffentlichung zu Lebzeiten die Texte in eine andere Reihenfolge gebracht hat, wird dies durch Auflistung vermerkt. So etwa bei "Konzert", einer Sammlung von 56 Prosastücken und 16 Gedichten. Die Reihenfolge dieser etwas ungenau mit "Feuilleton" zu bezeichnenden Textsammlung hatte Lasker-Schüler bei der Veröffentlichung nicht nach Entstehungsdaten angeordnet. "Konzert", das in lockerer Abfolge fiktionalisierte Kindheits- und Familienerinnerungen, Reflexionen über Lasker-Schülers Verhältnis zu Religion und Natur, ihr Dichtungsverständnis, daneben auch Antworten auf Rundfragen, Widmungstexte für (Künstler-)Freunde und zwei "Ulkiaden" umfaßt, hatte die Autorin selbst in eine lockere Abfolge von Prosa und Lyrik, von biographischen und reflexiven Stücken gebracht.
Problematischer als das Editionsprinzip der Chronologie ist die in der Ausgabe vorgenommene Trennung nach Gattungen. Die Schwierigkeiten liegen dabei im Werk selbst begründet, wo teilweise innerhalb eines Textes zwischen Reimen und prosaischen Schilderungen gewechselt wird. Auch ein Abgrenzen von Gebrauchstexten gegenüber poetischen Texten ist häufig nicht möglich. Bei "Konzert" haben die Herausgeber die von Lasker-Schüler integrierten Gedichte bereits im ersten Band der kritischen Ausgabe abgedruckt. So bleibt dem Leser nur der Rückgriff auf die von Friedhelm Kemp, Werner Kraft und Margarethe Kupper bearbeitete Köselsche Werkausgabe von 1961, die eine editorische Notlösung war. Dabei steht eine Auseinandersetzung mit "Konzert", zu dem bislang kaum relevante Studien vorliegen, noch aus. Aber auch für eine Interpretation des lange vernachlässigten dramatischen Alterswerks "IchundIch" und der Exillyrik liefert der vorliegende Band neue Perspektiven.
Von "Händen voll von Rissen" schreibt Lasker-Schüler aus dem Exil an die Freundin. Die Risse, die die Emigration verursacht, machen sich auch im Werk bemerkbar. Zwar hatte sich Lasker-Schüler schon zu Berliner Zeiten, in denen sie sich wechselweise in gemieteten Hotelzimmern und in Caféhäusern, allen voran dem "Romanischen Café", aufgehalten hatte, gegen bürgerliche Seßhaftigkeit gewandt: "Ich habe immer das Haus gehaßt, selbst den Palast; wer auch nur ein Gemach sein Eigentum nennt, besitzt eine Häuslichkeit, ich hasse drum auch die letzte Enge, den Sarg", heißt es 1913 in dem Briefroman "Mein Herz".
Doch die Abgeschnittenheit von der Berliner Künstler- und Verlegerszene verschärft im Exil die Situation der Autorin. In dem Text "Ein paar Tagebuchblätter aus Zürich" heißt es desillusioniert: "In unserem Romanischen Caféhaus weiland verlorenem Heimateiland, Urenkeltochter der Zürcher Selektbar, sind wir verscheuchten Dichter, Maler, Musiker und Bildhauer zu finden. Einlullende Radiomusik wiegt unsere Emigration leise ein. Und warten doch im Traume nicht mehr auf das Wunder."
Lasker-Schüler muß ihre Kunst im Exil der Verbitterung und Trauer entreißen, von der auch folgende, bislang unveröffentlichte Notiz spricht: "Haß, Stillstand, Trübung überzieht wie nie das erhabene Gottesgemälde der Erde. Aus totem Stein beten die Völker einen Götzen an. H.H.!! Das". Die Notiz endet abrupt. Hier ließe sich spekulieren, daß Lasker-Schüler, die hier auf Hitler anspielt, den Satz zwischen gepackten Taschen geschrieben hat, auf "ein liniertes Blatt Papier, herausgetrennt aus einem Schreibheft", wie es im Anmerkungsband zu diesem Fragment heißt.
Die Zerrissenheit Lasker-Schülers, der "Verscheuchten" (wie sie sich selbst in einem Exilgedicht nennt), war in der ästhetischen Konzeption der Berliner Lyrik und Prosa angelegt. Schon dort hatte die Autorin ein Spiel mit der eigenen Identität betrieben, sich mit den Figuren ihrer Werke gleichgesetzt, um damit eine Kunstauffassung zu etablieren, die sich gegen eine Trennung von Autor und Werk, von Fiktion und Faktizität richtete: Lasker-Schüler war Prinz Jussuf, sie war Tino von Bagdad, und sie betrieb ein Vexierspiel mit ihrer eigenen Biographie. So offensiv sie etwa in "Ich räume auf!" die unhaltbaren materiellen Bedingungen ihres Künstlertums darlegte, so zurückhaltend blieb sie, wenn es darum ging, ihr Alter, Fakten über ihre Kindheit, über den Vater ihres Sohnes oder über ihre frühe Ehe mit dem Arzt Berthold Lasker offenzulegen.
Im Exil gewinnen Müdigkeit und Einsamkeit Oberhand über den spielerischen Zug ihrer Kunst: "Ich glaube, wir sind alle füreinand gestorben - / Und auch gestorben unser Café in Berlin. / Arm zog ich aus, ich habe nichts erworben. / Und meine Tränen ließ ich in Berlin", heißt es in "Ein paar Tagebuchblätter aus Zürich". Der Zusammenhalt, den die Berliner Künstlerszene für Lasker-Schüler bedeutet haben muß, läßt sich nicht länger behaupten. Gegenüber dem Spiel mit verschiedenen Identitäten nimmt nun das Motiv der Ich-Spaltung, das bereits im Titel des letzten Dramas anklingt, breiteren Raum auch in der Prosa ein. Wie drastisch sich Emigration und Exil auf Lasker-Schülers Schreiben ausgewirkt haben, macht der vorliegende Band nachvollziehbar. Wie die vorangegangenen Bände ebnet auch er den Weg für eine neuerliche und neue Auseinandersetzung mit ihrem Werk.
BEATE TRÖGER
Else Lasker-Schüler: "Werke und Briefe". Kritische Ausgabe. Herausgegeben von Norbert Oellers, Heinz Rölleke und Itta Shedletzky. Band 4.1.: "Prosa 1921-1945. Nachgelassene Schriften". Band 4.2.: "Prosa 1921-1945. Nachgelassene Schriften. Anmerkungen". Bearbeitet von Karl Jürgen Skrodzki und Itta Shedletzky. Jüdischer Verlag, Frankfurt am Main 2001. 523 und 401 S., geb., zus. 296,- DM.
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Else Lasker-Schülers Prosa in der Werkausgabe
Ich hatte beide Hände halb erfroren und voll von Rissen, da ich ja erste Tage am See unter einem Baum versteckt schlief", schreibt Else Lasker-Schüler 1933 an ihre Freundin Hulda Pankok. Die Autorin hatte vorher, am 19. April des Jahres, Hals über Kopf das von ihr so geliebte Berlin verlassen, da sie sich in Deutschland von antisemitischen Übergriffen bedroht wußte. Hinter sich ließ sie die Stadt, in der sie fast vierzig Jahre lang ihr wechselvolles Leben als Autorin und Zeichnerin inmitten der Berliner Boheme verbracht hatte. Vor ihr lag eine Zeit voller Unsicherheit und Bedrängnis. In der Schweiz als erster Exilstation wurde sie mit Berufsverbot belegt und mußte wiederholt um eine Aufenthaltsgenehmigung ringen. Zwischen Zürich und Ascona reiste die 1933 bereits vierundsechzig Jahre alte Lasker-Schüler hin und her, um schließlich nach ihrer dritten Palästina-Reise im Jahr 1939 nie mehr Schweizer Boden zu betreten. Der ausgebrochene Zweite Weltkrieg verhinderte endgültig ihre Rückkehr.
Auch die Zeit vor der Emigration war für Lasker-Schüler eine wechselvolle Zeit gewesen. Die Inflation hatte ihre ewigen Geldsorgen verschärft; sie geriet ob dieser prekären Lage in Streit mit ihren Berliner Verlegern, allen voran Paul Cassirer. Ihr geliebter Sohn Paul starb 1927 an Tuberkulose. Doch es gab auch positive Entwicklungen zu verzeichnen. 1932 hatte sie den Kleist-Preis erhalten. Trotz ihres Zerwürfnisses mit Cassirer, in dessen Verlag in den Jahren 1919 bis 1920 eine zehnbändige Gesamtausgabe ihrer Werke erschienen war, konnte sie neue Verleger finden. Der Rowohlt Verlag publizierte 1932 den Prosasammelband "Konzert" und die Erzählung "Arthur Aronymus. Die Geschichte meines Vaters". Bei S. Fischer Berlin erschien im Theaterverlag die dramatische Fassung von "Arthur Aronymus". Zudem veröffentlichte Lasker-Schüler Artikel und Essays in federführenden Zeitungen wie dem "Berliner Tageblatt". Alldem setzte die Emigration ein jähes Ende.
Der nun vorliegende vierte Band der kritischen Ausgabe von Else Lasker-Schülers Werk umfaßt sämtliche publizierten und bislang unpublizierten Prosaschriften aus der Zeit von 1921 bis 1945, dem Todesjahr der Autorin. Nicht aufgenommen ist lediglich der Reisebericht "Das Hebräerland" von 1937, der aufgrund seines Umfangs und der vielfachen Überarbeitungen Lasker-Schülers gesondert im nächsten Band der kritischen Ausgabe erscheinen wird. Neben der 1925 von Lasker-Schüler selbst verlegten Streitschrift "Ich räume auf! Meine Anklage gegen meine Verleger", die ein flammender Angriff auf eine ausbeutende verlegerische Praxis ist, enthält der vorliegende Band die Erzählung "Der Wunderrabbiner von Barcelona", die Prosafassungen von "Arthur Aronymus", sämtliche, zum Teil in Tageszeitungen publizierten Prosatexte aus dem Zeitraum von "Konzert", die "Tagebuchblätter aus Zürich", Vorträge und Notizen. Editorisch waren die Herausgeber hier gegenüber der frühen Prosa im Vorteil, denn Lasker-Schüler hatte nachweislich ab 1920 damit begonnen, ihre Arbeiten systematisch in Mappen zu sammeln. Diese rettete sie ins Exil.
Durch das Erscheinen des vorliegenden Bandes kann eine Lücke in der Lasker-Schüler-Rezeption geschlossen werden. Die Prosatexte aus der Zeit des Exils sind nun endlich zugänglich. Sie waren bisher nur in Ausschnitten veröffentlicht und auf verschiedene Publikationsorte verteilt. Einen besonderen Stellenwert hat dabei der Text "Ein paar Tagebuchblätter aus Zürich", 1938/39 unmittelbar vor der Übersiedlung nach Jerusalem verfaßt. Die "Tagebuchblätter" vergegenwärtigen die Situation der Autorin im Schweizer Exil zwischen 1933 und 1939.
Bereits in den vorangegangenen Bänden hat die kritische Ausgabe dazu beigetragen, eine neue und verläßliche Basis für die Rezeption zu schaffen. Die Herausgeber Norbert Oellers, Heinz Rölleke und Itta Shedletzky ordnen die Texte chronologisch in der Reihenfolge der Erstabdrucke. Shedletzky und Karl Skrodzki, die den vierten Band bearbeitet haben, liefern einen sorgfältigen Apparatband mit allen Textzeugen der Überlieferung, den Varianten und Lesarten sowie mit (teilweise etwas zu) detaillierten Sacherläuterungen, die den zeitgeschichtlichen Kontext skizzieren. Wenn Lasker-Schüler bei der Veröffentlichung zu Lebzeiten die Texte in eine andere Reihenfolge gebracht hat, wird dies durch Auflistung vermerkt. So etwa bei "Konzert", einer Sammlung von 56 Prosastücken und 16 Gedichten. Die Reihenfolge dieser etwas ungenau mit "Feuilleton" zu bezeichnenden Textsammlung hatte Lasker-Schüler bei der Veröffentlichung nicht nach Entstehungsdaten angeordnet. "Konzert", das in lockerer Abfolge fiktionalisierte Kindheits- und Familienerinnerungen, Reflexionen über Lasker-Schülers Verhältnis zu Religion und Natur, ihr Dichtungsverständnis, daneben auch Antworten auf Rundfragen, Widmungstexte für (Künstler-)Freunde und zwei "Ulkiaden" umfaßt, hatte die Autorin selbst in eine lockere Abfolge von Prosa und Lyrik, von biographischen und reflexiven Stücken gebracht.
Problematischer als das Editionsprinzip der Chronologie ist die in der Ausgabe vorgenommene Trennung nach Gattungen. Die Schwierigkeiten liegen dabei im Werk selbst begründet, wo teilweise innerhalb eines Textes zwischen Reimen und prosaischen Schilderungen gewechselt wird. Auch ein Abgrenzen von Gebrauchstexten gegenüber poetischen Texten ist häufig nicht möglich. Bei "Konzert" haben die Herausgeber die von Lasker-Schüler integrierten Gedichte bereits im ersten Band der kritischen Ausgabe abgedruckt. So bleibt dem Leser nur der Rückgriff auf die von Friedhelm Kemp, Werner Kraft und Margarethe Kupper bearbeitete Köselsche Werkausgabe von 1961, die eine editorische Notlösung war. Dabei steht eine Auseinandersetzung mit "Konzert", zu dem bislang kaum relevante Studien vorliegen, noch aus. Aber auch für eine Interpretation des lange vernachlässigten dramatischen Alterswerks "IchundIch" und der Exillyrik liefert der vorliegende Band neue Perspektiven.
Von "Händen voll von Rissen" schreibt Lasker-Schüler aus dem Exil an die Freundin. Die Risse, die die Emigration verursacht, machen sich auch im Werk bemerkbar. Zwar hatte sich Lasker-Schüler schon zu Berliner Zeiten, in denen sie sich wechselweise in gemieteten Hotelzimmern und in Caféhäusern, allen voran dem "Romanischen Café", aufgehalten hatte, gegen bürgerliche Seßhaftigkeit gewandt: "Ich habe immer das Haus gehaßt, selbst den Palast; wer auch nur ein Gemach sein Eigentum nennt, besitzt eine Häuslichkeit, ich hasse drum auch die letzte Enge, den Sarg", heißt es 1913 in dem Briefroman "Mein Herz".
Doch die Abgeschnittenheit von der Berliner Künstler- und Verlegerszene verschärft im Exil die Situation der Autorin. In dem Text "Ein paar Tagebuchblätter aus Zürich" heißt es desillusioniert: "In unserem Romanischen Caféhaus weiland verlorenem Heimateiland, Urenkeltochter der Zürcher Selektbar, sind wir verscheuchten Dichter, Maler, Musiker und Bildhauer zu finden. Einlullende Radiomusik wiegt unsere Emigration leise ein. Und warten doch im Traume nicht mehr auf das Wunder."
Lasker-Schüler muß ihre Kunst im Exil der Verbitterung und Trauer entreißen, von der auch folgende, bislang unveröffentlichte Notiz spricht: "Haß, Stillstand, Trübung überzieht wie nie das erhabene Gottesgemälde der Erde. Aus totem Stein beten die Völker einen Götzen an. H.H.!! Das". Die Notiz endet abrupt. Hier ließe sich spekulieren, daß Lasker-Schüler, die hier auf Hitler anspielt, den Satz zwischen gepackten Taschen geschrieben hat, auf "ein liniertes Blatt Papier, herausgetrennt aus einem Schreibheft", wie es im Anmerkungsband zu diesem Fragment heißt.
Die Zerrissenheit Lasker-Schülers, der "Verscheuchten" (wie sie sich selbst in einem Exilgedicht nennt), war in der ästhetischen Konzeption der Berliner Lyrik und Prosa angelegt. Schon dort hatte die Autorin ein Spiel mit der eigenen Identität betrieben, sich mit den Figuren ihrer Werke gleichgesetzt, um damit eine Kunstauffassung zu etablieren, die sich gegen eine Trennung von Autor und Werk, von Fiktion und Faktizität richtete: Lasker-Schüler war Prinz Jussuf, sie war Tino von Bagdad, und sie betrieb ein Vexierspiel mit ihrer eigenen Biographie. So offensiv sie etwa in "Ich räume auf!" die unhaltbaren materiellen Bedingungen ihres Künstlertums darlegte, so zurückhaltend blieb sie, wenn es darum ging, ihr Alter, Fakten über ihre Kindheit, über den Vater ihres Sohnes oder über ihre frühe Ehe mit dem Arzt Berthold Lasker offenzulegen.
Im Exil gewinnen Müdigkeit und Einsamkeit Oberhand über den spielerischen Zug ihrer Kunst: "Ich glaube, wir sind alle füreinand gestorben - / Und auch gestorben unser Café in Berlin. / Arm zog ich aus, ich habe nichts erworben. / Und meine Tränen ließ ich in Berlin", heißt es in "Ein paar Tagebuchblätter aus Zürich". Der Zusammenhalt, den die Berliner Künstlerszene für Lasker-Schüler bedeutet haben muß, läßt sich nicht länger behaupten. Gegenüber dem Spiel mit verschiedenen Identitäten nimmt nun das Motiv der Ich-Spaltung, das bereits im Titel des letzten Dramas anklingt, breiteren Raum auch in der Prosa ein. Wie drastisch sich Emigration und Exil auf Lasker-Schülers Schreiben ausgewirkt haben, macht der vorliegende Band nachvollziehbar. Wie die vorangegangenen Bände ebnet auch er den Weg für eine neuerliche und neue Auseinandersetzung mit ihrem Werk.
BEATE TRÖGER
Else Lasker-Schüler: "Werke und Briefe". Kritische Ausgabe. Herausgegeben von Norbert Oellers, Heinz Rölleke und Itta Shedletzky. Band 4.1.: "Prosa 1921-1945. Nachgelassene Schriften". Band 4.2.: "Prosa 1921-1945. Nachgelassene Schriften. Anmerkungen". Bearbeitet von Karl Jürgen Skrodzki und Itta Shedletzky. Jüdischer Verlag, Frankfurt am Main 2001. 523 und 401 S., geb., zus. 296,- DM.
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