Walter Benjamins berühmte Prosaminiaturen, entstanden in den Jahren 1932 bis 1938, gehören fraglos zu den großen Schlüsseltexten der Moderne. Es sind einzigartige Momentaufnahmen einer Zeit, über der bereits der Schatten des Kommenden liegt. Ihre anhaltende Faszination liegt in der eindringlichen, die autobiographischen Erfahrungen objektivierenden Sprache. Benjamin schuf sprachliche »Bilder«, an die er die Hoffnung knüpfte, sie seien »befähigt, in ihrem Innern spätere geschichtliche Erfahrung zu präformieren«.
Die nun im Rahmen der Kritischen Gesamtausgabe erscheinende Neuedition ist spektakulär: Sie versammelt erstmals alle überlieferten Stücke, Entwürfe und Notizen des Kindheitsbuchs - darunter bislang unveröffentlichtes Material -, erlaubt durch die kritische Aufarbeitung des gesamten Textbestandes endlich eine exakte Kontextualisierung und ermöglicht durch die Wiedergabe der hochkomplexen Handschriften den präzisen Nachvollzug von Benjamins Schreibarbeit. Der Kommentar schildert die wechselvolle Überlieferungsgeschichte und erschließt das Werk. 80 Jahre nach der Niederschrift und 68 Jahre nach der Erstveröffentlichung in Buchform liegt damit die definitive Gesamtedition der Berliner Kindheit vor. Ein Ereignis.
Die nun im Rahmen der Kritischen Gesamtausgabe erscheinende Neuedition ist spektakulär: Sie versammelt erstmals alle überlieferten Stücke, Entwürfe und Notizen des Kindheitsbuchs - darunter bislang unveröffentlichtes Material -, erlaubt durch die kritische Aufarbeitung des gesamten Textbestandes endlich eine exakte Kontextualisierung und ermöglicht durch die Wiedergabe der hochkomplexen Handschriften den präzisen Nachvollzug von Benjamins Schreibarbeit. Der Kommentar schildert die wechselvolle Überlieferungsgeschichte und erschließt das Werk. 80 Jahre nach der Niederschrift und 68 Jahre nach der Erstveröffentlichung in Buchform liegt damit die definitive Gesamtedition der Berliner Kindheit vor. Ein Ereignis.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 29.05.2019Das bucklichte Männlein steht immer am Schluss
Ungedruckt lässt grüßen: In Berlin wurde die textkritische Ausgabe von Walter Benjamins "Berliner Kindheit" vorgestellt
Als Walter Benjamin 1940 auf der Flucht die letzte Fassung seiner "Berliner Kindheit" Georges Bataille zur Verwahrung in der Bibliothèque Nationale anvertraute, war der jahrelange Versuch einer Buchpublikation des literarischen Herzstücks seines Werks endgültig gescheitert. Erst 1981 wurde das Manuskript dort von Giorgio Agamben wieder entdeckt. Seitdem erneuerte sich mit jeder Ausgabe die Frage, was nun "eigentlich" die "Berliner Kindheit" sei. Der Plenarsaal der Berliner Akademie der Künste ist voll besetzt, als diese Frage wieder einmal im Raum schwebt. Der Ort am Pariser Platz scheint passend, um an den Schriftsteller und Philosophen zu erinnern, der hier geboren und von hier vertrieben wurde, der früh hier seine Gedankenfäden wob und spät, schon als Erwachsener, die Kunst, sich zu verirren, übte.
Auch in den Labyrinthen der Erinnerung. Zu Beginn des Stückes "Tiergarten" heißt es: "Sich in einer Stadt nicht zurechtfinden heißt nicht viel. In einer Stadt sich aber zu verirren, wie man in einem Walde sich verirrt, braucht Schulung. (...) Diese Kunst habe ich spät erlernt."
Zusammen mit der "Berliner Chronik", die der "Berliner Kindheit um neunzehnhundert" vorausging, ist diese nun als Band 11 der von der Hamburger Stiftung zur Förderung von Wissenschaft und Kultur in Zusammenarbeit mit dem Walter Benjamin Archiv getragenen textkritischen Edition bei Suhrkamp erschienen. In zwei Halbbänden umfasst die neue Ausgabe alle zwischen 1932 und 1938 entstandenen Fassungen, Entwürfe, Notizen, Einzeldrucke und Dokumente bis zu jener als "Pariser Typoskript" bezeichneten Fassung letzter Hand vom Mai 1938, die eine einschneidende Überarbeitung, vor allem Kürzung der früheren Texte darstellt.
Souverän und anschaulich führte Nadine Werner - mit dem 2015 verstorbenen Burkhardt Lindner Herausgeberin dieses Bandes - durch das Gestrüpp der Editionsgeschichte und ihrer Darstellung, der sich als Novum die digitale Edition der betreffenden Manuskripte anschließt. Alle handschriftlichen Dokumente, welche das Berliner und das Marbacher Archiv aufbewahren, lassen sich nun am Bildschirm einsehen - ein nahezu intimer Blick in die Schreibwerkstatt Benjamins, in die Entstehung von Gedanken und Motiven, ihre Verknüpfung in unterschiedlichen Kontexten, in Akzentverschiebungen, Verweise und Verwerfungen und in immer wieder neu sich erhellende Bedeutungszusammenhänge. Paradox genug, wie erst im technisch fortgeschrittensten Medium die mit Feder und Tinte gewobene winzige, minutiöse Schrift ihres Verfassers zur Lesbarkeit gelangt. Dennoch bleibt bedauerlich, dass man in der Buchausgabe auf die Beigabe von Faksimiles völlig verzichtete.
Alles in allem schwere "Gewichte", schwer an Geschichte und Erfahrung, die doch wie mit leichter Hand an diesem Abend von den Vortragenden - dem Suhrkamp-Verleger Jonathan Landgrebe, dem Typographen Friedrich Forssman, der Lyrikerin Monika Rinck, dem vorlesenden Schauspieler Christoph Gavenda - geschoben wurden. Mit der Präsentation dieser Ausgabe wurde auch der Schriftsteller Benjamin sichtbar und hörbar, all sein poetisches Potential, das sich mit dem philosophisch-theoretischen durchdringt.
Nur Jan Philipp Reemtsma, intellektueller Mäzen der Edition, setzte mit leiser Ironie Fragezeichen an suggestiv-apodiktische Wendungen des Autors und einzelne Textstellen wie jene zur "Kunst" des Verirrens. Worum aber ging es Benjamin bei dieser gewissermaßen mnemotechnischen Übung, die er schon in der "Berliner Chronik" erwähnt, samt dem Vermerk: "Diese Irrkunst hat mich Paris gelehrt"? Ein Hinweis sei hier nachgereicht. Noch früher, in der "Einbahnstraße", ist zu lesen: "Haben wir einmal begonnen, im Ort uns zurechtzufinden, so kann jenes früheste Bild sich nie wiederherstellen." Um dieses früheste Bild, das die Zukunft berge, so Peter Szondi in einer schönen Erläuterung von 1960, geht es ihm.
Liest man Benjamin, wie längst fällig, auch als Schriftsteller, mit jenem Mehr, das jeder Kunst und Dichtung innewohnt, eröffnen sich neue Räume des Verstehens, auch für seine Geschichtstheorie und die Verbindung dieser Kindheitssuche mit dem "Passagenwerk". Einer Suche im Exil, das Vertreibung aus Land und Kindheit zugleich für ihn war. Bei der auch das "Bucklichte Männlein" aus den alten Wunderhorn-Liedern begegnet, das dem Verfasser immer wieder schicksalhaft den Weg verstellte. Als wollte er das Männlein auch für die Bruchlandschaft seines Werks und Lebens verantwortlich machen, hat Benjamin diesen Text stets ans Ende des geplanten Buches gesetzt. "Jetzt hat es seine Arbeit hinter sich", heißt es in der 1933 noch in der "Frankfurter Zeitung" publizierten Fassung. "Es hat längst abgedankt" wird es 1938 heißen. Aufgestaut in diesem "längst" ist alle bittere Ironie.
Wie das "Passagenwerk", dieser funkelnde Gedanken-Steinbruch, stellt auch die "Berliner Kindheit" sich als Torso dar. Aber ist diese Edition wirklich, wie die Mitherausgeberin meint, die Antwort auf die Frage, was nun die "Berliner Kindheit" sei? Ist Erinnerung je abschließbar? Man kann über all das weiter nachsinnen, dem scheinbar verschollenen Ton dieser Jahrhundert-Recherche nachlauschen, sich in dem Dickicht des Überlieferten vielleicht so glücklich verirren, um auf Funde zu stoßen gleich jenem "Bratapfel" (ein hier erstmals publizierter Text), den die Ofenröhre dem kleinen Walter als Trost fürs frühe Aufstehen im Winter bereithielt.
MARLEEN STOESSEL
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Ungedruckt lässt grüßen: In Berlin wurde die textkritische Ausgabe von Walter Benjamins "Berliner Kindheit" vorgestellt
Als Walter Benjamin 1940 auf der Flucht die letzte Fassung seiner "Berliner Kindheit" Georges Bataille zur Verwahrung in der Bibliothèque Nationale anvertraute, war der jahrelange Versuch einer Buchpublikation des literarischen Herzstücks seines Werks endgültig gescheitert. Erst 1981 wurde das Manuskript dort von Giorgio Agamben wieder entdeckt. Seitdem erneuerte sich mit jeder Ausgabe die Frage, was nun "eigentlich" die "Berliner Kindheit" sei. Der Plenarsaal der Berliner Akademie der Künste ist voll besetzt, als diese Frage wieder einmal im Raum schwebt. Der Ort am Pariser Platz scheint passend, um an den Schriftsteller und Philosophen zu erinnern, der hier geboren und von hier vertrieben wurde, der früh hier seine Gedankenfäden wob und spät, schon als Erwachsener, die Kunst, sich zu verirren, übte.
Auch in den Labyrinthen der Erinnerung. Zu Beginn des Stückes "Tiergarten" heißt es: "Sich in einer Stadt nicht zurechtfinden heißt nicht viel. In einer Stadt sich aber zu verirren, wie man in einem Walde sich verirrt, braucht Schulung. (...) Diese Kunst habe ich spät erlernt."
Zusammen mit der "Berliner Chronik", die der "Berliner Kindheit um neunzehnhundert" vorausging, ist diese nun als Band 11 der von der Hamburger Stiftung zur Förderung von Wissenschaft und Kultur in Zusammenarbeit mit dem Walter Benjamin Archiv getragenen textkritischen Edition bei Suhrkamp erschienen. In zwei Halbbänden umfasst die neue Ausgabe alle zwischen 1932 und 1938 entstandenen Fassungen, Entwürfe, Notizen, Einzeldrucke und Dokumente bis zu jener als "Pariser Typoskript" bezeichneten Fassung letzter Hand vom Mai 1938, die eine einschneidende Überarbeitung, vor allem Kürzung der früheren Texte darstellt.
Souverän und anschaulich führte Nadine Werner - mit dem 2015 verstorbenen Burkhardt Lindner Herausgeberin dieses Bandes - durch das Gestrüpp der Editionsgeschichte und ihrer Darstellung, der sich als Novum die digitale Edition der betreffenden Manuskripte anschließt. Alle handschriftlichen Dokumente, welche das Berliner und das Marbacher Archiv aufbewahren, lassen sich nun am Bildschirm einsehen - ein nahezu intimer Blick in die Schreibwerkstatt Benjamins, in die Entstehung von Gedanken und Motiven, ihre Verknüpfung in unterschiedlichen Kontexten, in Akzentverschiebungen, Verweise und Verwerfungen und in immer wieder neu sich erhellende Bedeutungszusammenhänge. Paradox genug, wie erst im technisch fortgeschrittensten Medium die mit Feder und Tinte gewobene winzige, minutiöse Schrift ihres Verfassers zur Lesbarkeit gelangt. Dennoch bleibt bedauerlich, dass man in der Buchausgabe auf die Beigabe von Faksimiles völlig verzichtete.
Alles in allem schwere "Gewichte", schwer an Geschichte und Erfahrung, die doch wie mit leichter Hand an diesem Abend von den Vortragenden - dem Suhrkamp-Verleger Jonathan Landgrebe, dem Typographen Friedrich Forssman, der Lyrikerin Monika Rinck, dem vorlesenden Schauspieler Christoph Gavenda - geschoben wurden. Mit der Präsentation dieser Ausgabe wurde auch der Schriftsteller Benjamin sichtbar und hörbar, all sein poetisches Potential, das sich mit dem philosophisch-theoretischen durchdringt.
Nur Jan Philipp Reemtsma, intellektueller Mäzen der Edition, setzte mit leiser Ironie Fragezeichen an suggestiv-apodiktische Wendungen des Autors und einzelne Textstellen wie jene zur "Kunst" des Verirrens. Worum aber ging es Benjamin bei dieser gewissermaßen mnemotechnischen Übung, die er schon in der "Berliner Chronik" erwähnt, samt dem Vermerk: "Diese Irrkunst hat mich Paris gelehrt"? Ein Hinweis sei hier nachgereicht. Noch früher, in der "Einbahnstraße", ist zu lesen: "Haben wir einmal begonnen, im Ort uns zurechtzufinden, so kann jenes früheste Bild sich nie wiederherstellen." Um dieses früheste Bild, das die Zukunft berge, so Peter Szondi in einer schönen Erläuterung von 1960, geht es ihm.
Liest man Benjamin, wie längst fällig, auch als Schriftsteller, mit jenem Mehr, das jeder Kunst und Dichtung innewohnt, eröffnen sich neue Räume des Verstehens, auch für seine Geschichtstheorie und die Verbindung dieser Kindheitssuche mit dem "Passagenwerk". Einer Suche im Exil, das Vertreibung aus Land und Kindheit zugleich für ihn war. Bei der auch das "Bucklichte Männlein" aus den alten Wunderhorn-Liedern begegnet, das dem Verfasser immer wieder schicksalhaft den Weg verstellte. Als wollte er das Männlein auch für die Bruchlandschaft seines Werks und Lebens verantwortlich machen, hat Benjamin diesen Text stets ans Ende des geplanten Buches gesetzt. "Jetzt hat es seine Arbeit hinter sich", heißt es in der 1933 noch in der "Frankfurter Zeitung" publizierten Fassung. "Es hat längst abgedankt" wird es 1938 heißen. Aufgestaut in diesem "längst" ist alle bittere Ironie.
Wie das "Passagenwerk", dieser funkelnde Gedanken-Steinbruch, stellt auch die "Berliner Kindheit" sich als Torso dar. Aber ist diese Edition wirklich, wie die Mitherausgeberin meint, die Antwort auf die Frage, was nun die "Berliner Kindheit" sei? Ist Erinnerung je abschließbar? Man kann über all das weiter nachsinnen, dem scheinbar verschollenen Ton dieser Jahrhundert-Recherche nachlauschen, sich in dem Dickicht des Überlieferten vielleicht so glücklich verirren, um auf Funde zu stoßen gleich jenem "Bratapfel" (ein hier erstmals publizierter Text), den die Ofenröhre dem kleinen Walter als Trost fürs frühe Aufstehen im Winter bereithielt.
MARLEEN STOESSEL
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Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
Das ist so ein Fall, wo sich die Gestalt eines Buchs - und das geschieht ja nur bei berühmten Büchern - vor lauter Philologie und Edition vollends aufzulösen scheint. Allein in der gedruckten Neuausgabe wird der Text in mehreren Fassungen abgedruckt, erläutert der erschöpft wirkende Lothar Müller. Erschienen war die "Berliner Kindheit" ja zuerst als Buch überhaupt erst 1950, in einer von Theodor W. Adorno angestoßenen Edition, zehn Jahre nach dem Tod Benjamins. Man begegne in der Neu-Edition dem Kaiserpanorama wie der Siegessäule "wie auf einem Karussell" immer wieder. Hinzukommen Fassungen, die als Vorabdrucke an Zeitschriften gegeben worden waren. Im Grunde präsentiert sich die "Berliner Kindheit" dem Rezensenten so als "gescheitertes Buch", als ein Buch, das sich nie endgültig verkörpert hat. Hinzukommt, dass es sich hier um eine "Hybridedition" handelt. Bei walter.benjamin.online kann man in weiteren Details stöbern. Und man kann das Buch als Suchmaschine nutzen. Bei all der Detailfülle fällt Müller dann doch noch das Fehlen eines Details auf: Sehr gern hätte er einzelne an Zeitungen gegebene Miniaturen als Faksimile im Kontext der damaligen Zeitungsseite gesehen, "umgeben vom Zeitklima".
© Perlentaucher Medien GmbH
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»Liest man Benjamin, wie längst fällig, auch als Schriftsteller, mit jenem Mehr, das jeder Kunst und Dichtung innewohnt, eröffnen sich neue Räume des Verstehens, auch für seine Geschichtstheorie und die Verbindung dieser Kindheitssuche mit dem Passagenwerk.« Marleen Stoessel Frankfurter Allgemeine Zeitung 20190529
»... dieses Ensemble des 'poetischen' Benjamin wird etwas ändern. ... Die geistige Welt des frühen Benjamin, aus der die Gedichte als bedeutendstes Zeugnis sprechen, die wird man noch einmal neu bedenken müssen in der ganzen lebenslangen Entwicklung dieses singulären Autors.« Wolfgang Matz Frankfurter Allgemeine Zeitung 20240910