Unbekanntes, hoch Wichtiges ist zu vermelden. Volker Braun hat, beginnend im Januar 1977, bis in die Gegenwart ein Werktagebuch geführt. Dessen erster Band, teils kurze, teils längere Notate, erlaubt nicht allein den erhellenden Einblick in die Werkstatt des "lauteren, spielwütigen Autors". Solche Mitschriften des täglichen Lebens machen erfahrbar, wie Volker Braun sich und seine Arbeit, die Kollegen und die politische Situation - in Ost und West - sieht. Und seine Beobachtungen, mal giftig, mal ironisch, Reflexionen und Erzählungen zeigen erneut die Kunst dieses Dramatikers, Lyrikers und Prosaisten: Mit jedem Satz von ihm steigert er humoristisch-traurig die Einsicht in die Verbesserungswürdigkeit und Verbesserungsnotwendigkeit unserer Lage.In diesem Lebens-, Lese- und Arbeitsbuch ist also zu erfahren, wie Volker Braun nach der Publikation der Unvollendeten Geschichte - 1975 in der DDR, 1977 in der BRD - seine Dramen zum Druck befördert und auf die Bühne bringt, wie er listig den Hinze-und Kunze-Roman zuerst in Frankfurt und dann in Halle veröffentlicht, was die im Westen so alles mit ihm anstellen, warum er 1988 das Stück Lenins Tod schreibt, und im Jahr 1989 der erste Band seiner Werkausgabe erscheint.
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 23.05.2014Im Flöz
Von der Nachwendezeit bis zur Finanzkrise:
Volker Brauns Arbeitsjournal „Werktage. 1990-2008“
VON JÖRG MAGENAU
Irgendwann hat er sich dann doch breitschlagen lassen. Der Suhrkamp Verlag drängte hartnäckig darauf, „diese Sachen“ zum Druck zu bringen, Volker Brauns „Arbeitsbuch“. Aber das, so notierte Braun im November 2005 in konsequenter Kleinschreibung, „schließe ich aus; das hieße, die identität herzugeben, meine (nicht intimste, aber) unbefangene existenz, mit der ich nur selber umgeh.“ Noch im Herbst 2008 erteilte er Cheflektor Raimund Fellinger die Absage, damit sei frühestens zehn Jahre nach seinem Tod zu rechnen, „im günstigsten Fall 2039, im ernsten fall 2019“. Schließlich muss Braun sich dann aber geradezu erpresst gefühlt haben im Kampf um die Aufzeichnungen: „nun sehe ich mich als geisel dieser notate, und der verlag nimmt die narrentexte aus dem programm, weil ich die geheimen nicht hergebe. so wäre ich zuletzt der narr im eigenen werk.“ Und also gab er nach.
Die sanfte Nötigung, die da stattgefunden haben mag, ist jedoch sehr zu begrüßen, denn sie hat ein Werk zutage gefördert, das den Dichter und Denker Volker Braun in seiner Werkstatt als Sprach-Arbeiter sichtbar werden lässt. Das erste Arbeitsbuch, das die Jahre 1977 bis 1989 und damit die Endphase der DDR umfasste, erschien 2009. Nun liegt ein zweiter, wieder exakt 1000 Seiten umfassender Band vor, der von 1990 bis 2008 reicht. Er führt aus der sogenannten Wendezeit, in der dem gelernten Sozialisten und marxistisch geschulten Theoretiker nicht nur das Denken in Bewegung und die Begriffe ins Schwanken gerieten, bis in unmittelbare Gegenwartsnähe, und einen Mann von gut fünfzig Jahren ins fortgeschrittene Alter des knapp Siebzigjährigen.
Dabei wird der Übergang in jene kapitalistische Gesellschaft nacherlebbar, die Braun wie sein Freund, der Lyriker Karl Mickel, mit Staunen und produktiver Distanz zu betrachten bemüht ist: „nach uns die warenflut“. Es ist eine Welt, die sich machtvoll um Arbeit und Geld herum organisiert. Damit verlieren Dinge und Worte ihre gewohnte Bedeutung – so wie „Schwarze Pumpe“ plötzlich nicht mehr das Braunkohlekombinat in der Lausitz bezeichnet, sondern eine „wahlfinanzierungsgesellschaft der cdu“ vermuten lässt. Und als im Sommer 1990 die Geldtransporter mit Blaulicht und Wachschutz einrollen, um die Bankfilialen zu bestücken, notierte Braun: „es ist eine okkupation, die banken marschieren bewaffnet ein.“
„Werktage“ – so der Titel der Arbeitsbücher – ist eine gewaltige Text- und Materialsammlung, die fraglos Teil des Werkes ist. Der Titel steht in der Tradition der Brechtschen „Arbeitsjournale“. Dichtung wird da nicht pathetisch als in die Welt gefallenes Werk begriffen, sondern als Produkt eines künstlerischen Arbeitsprozesses, des Dichters als Wortwerker.
Alles ist im Fluss, im Werden, und da heraus gilt es, die einzelnen Werke zu schöpfen. Es ist kein Zufall, dass Braun sich – wie vor ihm Franz Führmann – immer wieder für Bergarbeiter und Bergwerke interessiert hat. Denn dort, wo beispielsweise seine Erzählung „Die hellen Haufen“ (2011) spielt, finden nicht nur die Kämpfe um Arbeitsplätze, Zechenschließungen und Eigentum statt, der Berg ist auch so etwas wie eine Metapher für die Dichtung.
Der Dichter Braun fördert geduldig im Bergwerk der Sprache, immer auf der Suche nach historischen Gesteinsschichten und verborgenen Flözen, die Erkenntnisgewinn versprechen. Doch auch die Eigentumsfrage selbst wird dabei vielfach umbrochen. Das gibt schon das Goethe-Gedicht über das Eigentum vor, das Braun in den „Hellen Haufen“ zitiert hat und das er nun den „Werktagen“ als Motto voranstellt: „Ich weiß, dass mir nichts angehört / als der Gedanke, der ungestört / aus meiner Seele will fließen, / und jeder günstige Augenblick, / den mich ein liebendes Geschick / von Grund aus lässt genießen.“
Vieles von dem, was sich da ereignet, ist schon sehr weit in die Vergangenheit entrückt. Das Ost-West-Gezänk der Nachwendezeit, die Stasiakten und der Überwachungskomplex, die Einheitsstreitereien in der Akademie der Künste mit den Debatten um neue Präsidentschaften oder um die Publikation von Jünger-Tagebüchern in der Zeitschrift Sinn und Form – man liest das im Abstand von zwei Jahrzehnten mit einiger Verwunderung und großer Gelassenheit. Der historische Stoff, der da noch ganz aufgewühlt erscheint, ist längst auf den Grund abgesunken.
Wichtiger ist etwas anderes: zu beobachten, wie sich da ein wacher, intelligenter Zeitgenosse mit den Mitteln der Sprache ins Geschichtliche einzumischen versucht. Eigentlich, so notierte Braun im Januar 1990, war er geneigt, mit „alten chinesischen Schriften in den garten zu gehen“ und den Weg nach innen zu suchen. Doch dann kam ihm die Geschichte dazwischen, so wie sie ihm in seinem ganzen Dichterleben in der DDR und über sie hinaus immerzu dazwischen gekommen ist. Die chinesischen Schriften und der Weg nach innen sind zwar immer erkennbar, die Geschichte als Herausforderung bleibt aber auch.
Für den Marxisten ist einst der Glaube an die „gemachte geschichte“ bestimmend gewesen, als wäre die Geschichte eine Manufaktur, in der der Einzelne bestimmte Produkte herstellen kann. Sie ist aber – und zu dieser Erkenntnis gelangt Braun allmählich – eine „verwickelte, chaotische fabrik und der ausstoß nicht vorhersehbar. die überbelastung der avantgarde: als ob sie wüsste, was vorn und hinten ist.“
Geschichte lässt sich also nicht länger als etwas Machbares begreifen, ja, schlimmer noch, es ist ganz und gar unmöglich, sie zu durchschauen. Denn das Bewusstsein, das sie durchdringen will, ist ja immer schon ganz und gar von der Geschichte durchdrungen, in der es sich bewegt. Von Hans-Georg Gadamer stammt der schöne Satz: „In Wahrheit gehört die Geschichte nicht uns, sondern wir gehören der Geschichte.“ Das ist der radikale Gegensatz zum marxistischen Geschichtsoptimismus. In Brauns Arbeitsbüchern lässt sich miterleben, welche Mühe es einem Marxisten macht, diese Einsicht zu akzeptieren. Und er hat ja recht, sich dagegen zu wehren und weiter darauf zu beharren, dass die Dinge nicht ganz von selbst den Bach oder was auch immer hinuntergehen. Die Arbeit des Dichters besteht nicht zuletzt darin, so zu tun, als ob das Eingreifen und Verändern mit den Mitteln der Sprache möglich wäre.
Bei Volker Braun besteht eine Dauerspannung, ein permanentes Um- oder Überspringen von der Ebene der materiellen Arbeitskämpfe in den Bereich existenzieller Fragen. Er dichtet: „was ist osten, was ist westen: / reden wir doch von regionen. / um beschenkt mit überresten / im besonderen zu wohnen“ – und transzendiert damit den doch eher dumpfen Ost-West-Konflikt. Schließlich gelangt er zu einem Geschichtsverständnis, das zwar, mit Marx, das Glück des Einzelnen als Ziel anerkennt, dieses Glück aber gewissermaßen heideggerianisch definiert: „Geschichte ist nämlich nicht, wie es die herrschende Ideologie gerne sieht, die Hingabe des Menschen an die lineare, kontinuierliche Zeit, sondern die Befreiung des Menschen von ihr: Die Zeit der Geschichte ist der Kairos, in dem der Mensch die günstige Gelegenheit im Moment freier Entscheidung ergreift. Der wahre historische Materialist ist nicht derjenige, der in der unendlichen linearen Zeit den schwachen Schein eines kontinuierlichen Fortschritts sucht, sondern derjenige, der jederzeit imstande ist, die Zeit im Eingedenken daran stillzustellen, dass die ursprüngliche Heimat des Menschen der Genuss ist.“
Genuss, im Übrigen, ist eine Kategorie, die in Brauns Arbeitsbuch gründlich zur Geltung kommt. Feiern mit Freunden, gutes Essen und guter Wein, die Freude an der Natur und den Schönheiten der Welt, das Ergreifen von Liebesgelegenheiten: Braun hat viele Worte dafür. Freunde wie Wolfgang Fritz Haug, Christa Wolf oder Karl Mickel bekommen ihre Auftritte, der Verleger Siegfried Unseld und seine Nachfolgerin Ulla Berkewicz übernehmen wichtige Rollen, Kollegen und Wegbegleiter wie Wolfgang Hilbig und Peter Rühmkorf werden gewürdigt. Das fortschreitende Alter führt naturgemäß dazu, dass immer mehr Nachrufe zu verfassen sind. Eindrucksvoll schildert Braun das Sterben von Rudolf Bahro und das seines Freundes Karl Mickel. Die „Werktage“ sind schonungslose Aufzeichnungen über das ganze Leben, das eben nicht nur die Produktion umfasst, sondern auch das Vergehen und das Vergessen. So wie jede große Dichtung.
Der Genuss, das Feiern mit
Freunden und gutem Wein,
kommt reichlich zur Geltung
Volker Braun: Werktage. Arbeitsbuch 1990-2008. Suhrkamp Verlag,
Berlin 2014. 998 Seiten,
39,95 Euro.
Stets im Blick des Autors Volker Braun: die Bergleute. Schichtwechsel im Mansfelder Kupferbergbau-Kombinat 1973.
Foto: dpa
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Von der Nachwendezeit bis zur Finanzkrise:
Volker Brauns Arbeitsjournal „Werktage. 1990-2008“
VON JÖRG MAGENAU
Irgendwann hat er sich dann doch breitschlagen lassen. Der Suhrkamp Verlag drängte hartnäckig darauf, „diese Sachen“ zum Druck zu bringen, Volker Brauns „Arbeitsbuch“. Aber das, so notierte Braun im November 2005 in konsequenter Kleinschreibung, „schließe ich aus; das hieße, die identität herzugeben, meine (nicht intimste, aber) unbefangene existenz, mit der ich nur selber umgeh.“ Noch im Herbst 2008 erteilte er Cheflektor Raimund Fellinger die Absage, damit sei frühestens zehn Jahre nach seinem Tod zu rechnen, „im günstigsten Fall 2039, im ernsten fall 2019“. Schließlich muss Braun sich dann aber geradezu erpresst gefühlt haben im Kampf um die Aufzeichnungen: „nun sehe ich mich als geisel dieser notate, und der verlag nimmt die narrentexte aus dem programm, weil ich die geheimen nicht hergebe. so wäre ich zuletzt der narr im eigenen werk.“ Und also gab er nach.
Die sanfte Nötigung, die da stattgefunden haben mag, ist jedoch sehr zu begrüßen, denn sie hat ein Werk zutage gefördert, das den Dichter und Denker Volker Braun in seiner Werkstatt als Sprach-Arbeiter sichtbar werden lässt. Das erste Arbeitsbuch, das die Jahre 1977 bis 1989 und damit die Endphase der DDR umfasste, erschien 2009. Nun liegt ein zweiter, wieder exakt 1000 Seiten umfassender Band vor, der von 1990 bis 2008 reicht. Er führt aus der sogenannten Wendezeit, in der dem gelernten Sozialisten und marxistisch geschulten Theoretiker nicht nur das Denken in Bewegung und die Begriffe ins Schwanken gerieten, bis in unmittelbare Gegenwartsnähe, und einen Mann von gut fünfzig Jahren ins fortgeschrittene Alter des knapp Siebzigjährigen.
Dabei wird der Übergang in jene kapitalistische Gesellschaft nacherlebbar, die Braun wie sein Freund, der Lyriker Karl Mickel, mit Staunen und produktiver Distanz zu betrachten bemüht ist: „nach uns die warenflut“. Es ist eine Welt, die sich machtvoll um Arbeit und Geld herum organisiert. Damit verlieren Dinge und Worte ihre gewohnte Bedeutung – so wie „Schwarze Pumpe“ plötzlich nicht mehr das Braunkohlekombinat in der Lausitz bezeichnet, sondern eine „wahlfinanzierungsgesellschaft der cdu“ vermuten lässt. Und als im Sommer 1990 die Geldtransporter mit Blaulicht und Wachschutz einrollen, um die Bankfilialen zu bestücken, notierte Braun: „es ist eine okkupation, die banken marschieren bewaffnet ein.“
„Werktage“ – so der Titel der Arbeitsbücher – ist eine gewaltige Text- und Materialsammlung, die fraglos Teil des Werkes ist. Der Titel steht in der Tradition der Brechtschen „Arbeitsjournale“. Dichtung wird da nicht pathetisch als in die Welt gefallenes Werk begriffen, sondern als Produkt eines künstlerischen Arbeitsprozesses, des Dichters als Wortwerker.
Alles ist im Fluss, im Werden, und da heraus gilt es, die einzelnen Werke zu schöpfen. Es ist kein Zufall, dass Braun sich – wie vor ihm Franz Führmann – immer wieder für Bergarbeiter und Bergwerke interessiert hat. Denn dort, wo beispielsweise seine Erzählung „Die hellen Haufen“ (2011) spielt, finden nicht nur die Kämpfe um Arbeitsplätze, Zechenschließungen und Eigentum statt, der Berg ist auch so etwas wie eine Metapher für die Dichtung.
Der Dichter Braun fördert geduldig im Bergwerk der Sprache, immer auf der Suche nach historischen Gesteinsschichten und verborgenen Flözen, die Erkenntnisgewinn versprechen. Doch auch die Eigentumsfrage selbst wird dabei vielfach umbrochen. Das gibt schon das Goethe-Gedicht über das Eigentum vor, das Braun in den „Hellen Haufen“ zitiert hat und das er nun den „Werktagen“ als Motto voranstellt: „Ich weiß, dass mir nichts angehört / als der Gedanke, der ungestört / aus meiner Seele will fließen, / und jeder günstige Augenblick, / den mich ein liebendes Geschick / von Grund aus lässt genießen.“
Vieles von dem, was sich da ereignet, ist schon sehr weit in die Vergangenheit entrückt. Das Ost-West-Gezänk der Nachwendezeit, die Stasiakten und der Überwachungskomplex, die Einheitsstreitereien in der Akademie der Künste mit den Debatten um neue Präsidentschaften oder um die Publikation von Jünger-Tagebüchern in der Zeitschrift Sinn und Form – man liest das im Abstand von zwei Jahrzehnten mit einiger Verwunderung und großer Gelassenheit. Der historische Stoff, der da noch ganz aufgewühlt erscheint, ist längst auf den Grund abgesunken.
Wichtiger ist etwas anderes: zu beobachten, wie sich da ein wacher, intelligenter Zeitgenosse mit den Mitteln der Sprache ins Geschichtliche einzumischen versucht. Eigentlich, so notierte Braun im Januar 1990, war er geneigt, mit „alten chinesischen Schriften in den garten zu gehen“ und den Weg nach innen zu suchen. Doch dann kam ihm die Geschichte dazwischen, so wie sie ihm in seinem ganzen Dichterleben in der DDR und über sie hinaus immerzu dazwischen gekommen ist. Die chinesischen Schriften und der Weg nach innen sind zwar immer erkennbar, die Geschichte als Herausforderung bleibt aber auch.
Für den Marxisten ist einst der Glaube an die „gemachte geschichte“ bestimmend gewesen, als wäre die Geschichte eine Manufaktur, in der der Einzelne bestimmte Produkte herstellen kann. Sie ist aber – und zu dieser Erkenntnis gelangt Braun allmählich – eine „verwickelte, chaotische fabrik und der ausstoß nicht vorhersehbar. die überbelastung der avantgarde: als ob sie wüsste, was vorn und hinten ist.“
Geschichte lässt sich also nicht länger als etwas Machbares begreifen, ja, schlimmer noch, es ist ganz und gar unmöglich, sie zu durchschauen. Denn das Bewusstsein, das sie durchdringen will, ist ja immer schon ganz und gar von der Geschichte durchdrungen, in der es sich bewegt. Von Hans-Georg Gadamer stammt der schöne Satz: „In Wahrheit gehört die Geschichte nicht uns, sondern wir gehören der Geschichte.“ Das ist der radikale Gegensatz zum marxistischen Geschichtsoptimismus. In Brauns Arbeitsbüchern lässt sich miterleben, welche Mühe es einem Marxisten macht, diese Einsicht zu akzeptieren. Und er hat ja recht, sich dagegen zu wehren und weiter darauf zu beharren, dass die Dinge nicht ganz von selbst den Bach oder was auch immer hinuntergehen. Die Arbeit des Dichters besteht nicht zuletzt darin, so zu tun, als ob das Eingreifen und Verändern mit den Mitteln der Sprache möglich wäre.
Bei Volker Braun besteht eine Dauerspannung, ein permanentes Um- oder Überspringen von der Ebene der materiellen Arbeitskämpfe in den Bereich existenzieller Fragen. Er dichtet: „was ist osten, was ist westen: / reden wir doch von regionen. / um beschenkt mit überresten / im besonderen zu wohnen“ – und transzendiert damit den doch eher dumpfen Ost-West-Konflikt. Schließlich gelangt er zu einem Geschichtsverständnis, das zwar, mit Marx, das Glück des Einzelnen als Ziel anerkennt, dieses Glück aber gewissermaßen heideggerianisch definiert: „Geschichte ist nämlich nicht, wie es die herrschende Ideologie gerne sieht, die Hingabe des Menschen an die lineare, kontinuierliche Zeit, sondern die Befreiung des Menschen von ihr: Die Zeit der Geschichte ist der Kairos, in dem der Mensch die günstige Gelegenheit im Moment freier Entscheidung ergreift. Der wahre historische Materialist ist nicht derjenige, der in der unendlichen linearen Zeit den schwachen Schein eines kontinuierlichen Fortschritts sucht, sondern derjenige, der jederzeit imstande ist, die Zeit im Eingedenken daran stillzustellen, dass die ursprüngliche Heimat des Menschen der Genuss ist.“
Genuss, im Übrigen, ist eine Kategorie, die in Brauns Arbeitsbuch gründlich zur Geltung kommt. Feiern mit Freunden, gutes Essen und guter Wein, die Freude an der Natur und den Schönheiten der Welt, das Ergreifen von Liebesgelegenheiten: Braun hat viele Worte dafür. Freunde wie Wolfgang Fritz Haug, Christa Wolf oder Karl Mickel bekommen ihre Auftritte, der Verleger Siegfried Unseld und seine Nachfolgerin Ulla Berkewicz übernehmen wichtige Rollen, Kollegen und Wegbegleiter wie Wolfgang Hilbig und Peter Rühmkorf werden gewürdigt. Das fortschreitende Alter führt naturgemäß dazu, dass immer mehr Nachrufe zu verfassen sind. Eindrucksvoll schildert Braun das Sterben von Rudolf Bahro und das seines Freundes Karl Mickel. Die „Werktage“ sind schonungslose Aufzeichnungen über das ganze Leben, das eben nicht nur die Produktion umfasst, sondern auch das Vergehen und das Vergessen. So wie jede große Dichtung.
Der Genuss, das Feiern mit
Freunden und gutem Wein,
kommt reichlich zur Geltung
Volker Braun: Werktage. Arbeitsbuch 1990-2008. Suhrkamp Verlag,
Berlin 2014. 998 Seiten,
39,95 Euro.
Stets im Blick des Autors Volker Braun: die Bergleute. Schichtwechsel im Mansfelder Kupferbergbau-Kombinat 1973.
Foto: dpa
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Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
An sich natürlich eine faszinierende Sache, meint der Rezensent Jens Bisky über die Tagebuchnotizen und Werkberichte des Schriftstellers Volker Braun aus dem letzten Jahrzehnt der Deutschen Demokratischen Republik. Und in der Tat gibt es manch Interessantes zu lesen, über die Widerstände, gegen die auch ein hoch renommierter Autor wie Braun ankämpfen musste, oder Einsichten wie die über das strukturell begründete Versagen der DDR auf dem Gebiet komplexerer Technologie. Dies alles oft brillant und poetisch formuliert, auch dagegen hat der Rezensent nichts einzuwenden. Und ärgert sich doch, und zwar ziemlich, über dieses Buch. Weil er sich fast völlig alleingelassen fühlt mit diesen Alltagsnotizen. Namen werden nicht eingeordnet, Hintergründe nicht erklärt. Bleibt also nur die Ambivalenz: Faszinierend, aufschlussreich einerseits. Ein unnötig versiegeltes Buch für die meisten Leser zum andern.
© Perlentaucher Medien GmbH
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