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Eine EntdeckungsreiseHeute gilt es als ganz normal, dass zwei Künstler ihr Werk zusammenschmeißen - es gibt viele berühmte Beispiele in den letzten 35 Jahren. Etwas Besonderes aber ist es, wenn sich zwei sehr unterschiedliche Charaktere miteinander verbinden, zumal wenn es schon aufgrund der unterschiedlichen Studienorte und -felder wenig wahrscheinlich zu sein scheint. Doch Matthias Wermke und Mischa Leinkauf verbindet etwas, das schon zeit ihres Lebens einer Karriere nach dem Reisbrett widersprochen hat - beide kennen sich von Jugend an aus der Ost-Berliner Sprayer-Szene. Und hier tauchen…mehr

Produktbeschreibung
Eine EntdeckungsreiseHeute gilt es als ganz normal, dass zwei Künstler ihr Werk zusammenschmeißen - es gibt viele berühmte Beispiele in den letzten 35 Jahren. Etwas Besonderes aber ist es, wenn sich zwei sehr unterschiedliche Charaktere miteinander verbinden, zumal wenn es schon aufgrund der unterschiedlichen Studienorte und -felder wenig wahrscheinlich zu sein scheint. Doch Matthias Wermke und Mischa Leinkauf verbindet etwas, das schon zeit ihres Lebens einer Karriere nach dem Reisbrett widersprochen hat - beide kennen sich von Jugend an aus der Ost-Berliner Sprayer-Szene. Und hier tauchen wir in einen wilden und spektakulären Hintergrund ein, der die Arbeit der beiden heute so unnachahmlich kennzeichnet. Nehmen wir einmal den folgenden Film der beiden jungen Künstler: Ein Mann hängt an seinen ausgestreckten Armen an irgendeiner Unterkante - einer Brücke, eines Krans oder was auch immer. Und wenn man gerade darauf eine Wette abschließen will, wie lange er das wohl noch aushaltenkann, zieht er sich wieder hoch - oder vielleicht lässt er sich einfach auch nur fallen?! In der Installation »Entscheidungen« sieht man auf zehn Monitoren immer wieder diese Situation aus verschiedenen Perspektiven und immer wieder an anderen Orten. So bekommen die Betrachter wenigsten die Chance, sich an das Ungewöhnliche des Ereignisses zu gewöhnen. Und weil Gewöhnung für gewöhnlich sehr schnell eintritt, stiftet sie ein völlig unspezifisches Interesse, zum Beispiel an Handlungen, die immer wieder ungeplant gestört werden, an Verboten, die zu Alltäglichem werden, an Beobachtungen von Handlungen, die unmöglich erscheinen. Und so tauchen plötzlich auf einmal neue Möglichkeiten auf, wie sie in der Regel nur eine »verkehrte Welt« bereithält. Es geht also, wie Matthias Wermke und Mischa Leinkauf in einer Projektskizze selbst schreiben, um eine Entdeckungsreise, um den ungewöhnlichen Umgang mit dem öffentlichen Raum, bei dem Bekanntes zu Unbekanntem wird. Der Betrachter soll einfachund ganz spontan auf - im wortwörtlichen Sinne - Freiräume aufmerksam werden, die sich die Künstler höchst artistisch und ziemlich subversiv erobert haben. Dieses Buch ist die erste Einzelpublikation des Künstlerduos und versammelt alle bisher gemeinsam durchgeführten Aktionen. 2012 haben die beiden Künstler den Columbus-Förderpreis für aktuelle Kunst erhalten.Ausstellung:Kunstverein Heilbronn, 20/7-15/9/2013
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung

Wird schon gutgehen

Nein, sagen die beiden Künstler Wermke und Leinkauf, um Adrenalin gehe es ihnen nicht, wenn sie über Brückenbögen balancieren oder auf Kirchturmspitzen Handstand machen. Worum aber dann?

Von Friedemann Bieber

Wir haben natürlich keine Genehmigung", sagt Matthias Wermke. Aber die wollen er und Mischa Leinkauf auch gar nicht. Wenn die beiden Berliner auf ein Hochhaus oder eine Kirchturmspitze klettern, dann gibt es keine Erlaubnis, kein Netz und keinen doppelten Boden. Dass sie abrutschen oder wegen Hausfriedensbruchs verhaftet werden könnten, nehmen sie in Kauf. Das klingt nach Spektakel, nach Kick und Spaßgesellschaft. Und Wermke und Leinkauf ist klar, dass Videoclips, auf denen ein junger Mann scheinbar beiläufig einen Wolkenkratzer erklimmt oder über den Bogen einer Brücke spaziert, auf Youtube ein Hit wären. Aber sie stellen ihre Aufnahmen nicht ins Netz. Genau deshalb. Sie verstehen sich als Künstler, die für einen sensiblen Umgang mit dem urbanen Raum eintreten - nicht als ein Teil der Red-Bull-Extremsportkultur.

Der Gefahr, dass ihre Arbeiten als Gag missverstanden werden könnten, begegnen sie auf zwei Arten. Erstens rücken sie durch die klare und ruhige Komposition ihrer Aufnahmen die formale Ästhetik in den Vordergrund. Der Fokus liegt nicht auf der Sensation. So entstehen poetische Bilder, in denen das Unerhörte zum Detail wird: etwa der Strauß Luftballons, der hoch oben an der Brooklyn Bridge hängt. Zweitens präsentieren sie ihre Arbeiten gewöhnlich in Galerien. Dann wird der Kunstraum zu einem "natürlichen Filter", wie sie es nennen. Auf eine massenmediale Verbreitung verzichten sie bewusst - nicht zuletzt, um zu vermeiden, dass Halbstarke die Bilder als Aufforderung missverstehen, auf Hochhäuser zu klettern.

Wermke und Leinkauf klettern schließlich auch nicht einfach auf ein Hochhaus. Die Spontaneität, die ihre Bilder ausstrahlen, steht im Kontrast zur Akribie, mit der sie ihre Aktionen vorbereiten. Mitunter vergeht von der Idee bis zur Umsetzung eine halbe Ewigkeit. Irgendwann im Jahr 2004 beispielsweise kam ihnen der Einfall, auf einer Draisine durch die Berliner U-Bahn-Schächte zu fahren. Und einmal ausgesprochen, bekamen sie ihn nicht mehr aus dem Sinn. Drei Jahre später schließlich bauten sie eine Draisine - so konstruiert, dass sie sich wie ein Rucksack transportieren ließ und im Notfall blitzschnell von den Schienen genommen werden konnte. "Wir wollen am Leben bleiben. Und sind sehr vorsichtig", betont Leinkauf. Nächtelang hätten sie die U-Bahn-Schächte inspiziert, die verkehrsberuhigten Zeiträume ermittelt und Signalzeichen studiert.

Trotzdem bleibt ein zentrales Element ihrer Arbeit, die Grenze des Erlaubten zu überschreiten. Mit lässiger Selbstverständlichkeit stellen sie Konventionen, die unsere Bewegung durch den öffentlichen Raum bestimmen, in Frage. Indem sie sich so verhalten, als gäbe es keine Regeln, verdeutlichen sie deren Kontingenz. So wäre es zwar einfacher, die Bilder mit Photoshop zu erstellen - doch würde das den Zweck verfehlen. Denn beim Betrachter weicht der erste Eindruck des Unglaubens bald der Erwägung: "Kann es vielleicht doch sein?" Nur das kann ein Überdenken der Grenzen der eigenen Freiheit bewirken.

Matthias Wermke und Mischa Leinkauf kennen sich seit Jugendtagen. Beide wurden Ende der siebziger Jahre in Ost-Berlin geboren. Im Alter von fünfzehn Jahren zogen sie in dieselbe Straße. Das unbeobachtete Durchstreifen des Stadtgebiets war schon damals eine Herausforderung - beide waren in der Graffiti-Szene aktiv. Nach der Schule trennten sich ihre Wege eine Zeitlang. Leinkauf arbeitete als Regieassistent, Wermke studierte Geschichte und Rehabilitationswissenschaften. Nur hin und wieder arbeiteten sie an gemeinsamen Projekten, bis sie 2004 eine Riesenschaukel jeweils an spektakulären Orten in Berlin aufbauten. Mit dieser Arbeit bewarben sie sich an Kunsthochschulen. Es folgten zahlreiche Gruppenausstellungen, und 2012 wurden sie sogar mit dem Columbus-Förderpreis für aktuelle Kunst ausgezeichnet. Dadurch kam es zu einer Einzelausstellung im Heilbronner Kunstverein und jetzt zur Publikation des Bildbands "Wermke Leinkauf".

Berlin ist die Heimat der beiden Künstler, doch zieht es sie auch in die Ferne. Prag, New York, Tokio - wenn sie an einen neuen Ort kommen, versuchen sie zunächst, ein Gefühl für die Stadt und ihre unmittelbare Umgebung zu entwickeln. Diese Rückkoppelung, glauben sie, ginge in einer zunehmend medial geprägten Welt immer mehr verloren. Und es formulieren die Arbeiten von Wermke und Leinkauf ja gerade eine Auffassung des urbanen Raums, die mit der Allmacht der Navigationsgeräte unvereinbar ist. Das Versprechen von Google Maps, überall und jederzeit den Weg zu weisen, hat zur Folge, dass man sich zunehmend am Display statt am Straßenbild orientiert. Darüber hinaus wirkt die Technik normativ: Wege, die auf der digitalen Karte nicht verzeichnet sind, existieren für viele Menschen nicht mehr.

Wermke und Leinkauf erkunden die Städte zunächst zu Fuß und mit dem Rad, um eine eigene Kartographie zu erstellen. Dabei halten sie sich nicht an die üblichen Beschränkungen - Hecken, Häuserwände oder Absperrgitter begreifen sie nicht als Hindernisse. So entstehen Perspektiven, die sonst unsichtbar bleiben - sei es der Blick in die Schächte der Kanalisation oder das nächtliche Panorama vom Baukran aus.

Intensiv setzen sich die beiden auch mit der Geschichte der Orte auseinander, mitunter recherchieren sie im Archiv. Einige ihrer Arbeiten nehmen explizit Bezug auf historische Ereignisse. In "Grenzgänger" durchschwimmt ein Mann am frühen Morgen die Spree - dort, wo einst die innerdeutsche Grenze verlief und heute die Bürogebäude des Bundestags einen symbolischen Brückenschlag machen. Als Kind hatte Wermke im Westfernsehen die Aufnahmen einer spektakulären Republikflucht an genau dieser Stelle gesehen. Die Arbeit "Grenzgänger" erfasst die Verwundbarkeit des einzelnen Menschen, der nackt vor der mächtigen Architektur ins eisige Wasser steigt. Zugleich bejaht sie seine Autonomie und verweist auf den historischen Wandel der Stadt.

Auch die Arbeit der beiden Künstler hat sich über die vergangenen zehn Jahre verändert. Anfangs produzierten sie klassische Kurzfilme. Dabei gab es eine feste Aufteilung: Wermke kletterte, balancierte, schwamm - und Leinkauf filmte. Davon sind sie abgekommen. Mittlerweile verlässt auch Leinkauf das sichere Terrain. Statt mit Kurzfilmen arbeiten sie mittlerweile außerdem mit Loops, Serien und Fotografien. Ausgestellt werden die Arbeiten im Rahmen von Installationen. "Im Kino bleibt man oft in der Konsumentenrolle stecken", erklärt Wermke. Sie aber möchten einen unmittelbaren Eindruck von Räumlichkeit vermitteln: Ein Betrachter, der sich verrenken muss, um durch Gucklöcher auf die Filmprojektionen hinter der Wand zu spähen, wird in eine aktive Rolle gedrängt.

Neben den Performance-Künstlern Chris Burden und Tehching Hsieh nennen Wermke und Leinkauf vor allem Gordon Matta-Clark als künstlerischen Einfluss. Der Architekt und Konzeptkünstler stand für einen unerschrockenen Umgang mit Stadtraum. In "Cuttings" etwa legte er mit der Motorsäge den Blick auf das Innere von Gebäuden frei. Auch Matta-Clark rückte dabei den performativen Akt in den Vordergrund, die Bauten freilich standen meist kurz vor dem Abriss.

Ihr nächstes großes Projekt wollen Wermke und Leinkauf in New York umsetzen. Was genau sie geplant haben, verraten sie nicht. Aus zwei Gründen: Zum einen könnte eine Ankündigung die nicht immer ganz legalen Aktionen vereiteln, zum anderen lässt sich nicht alles bis ins Detail planen. "Es gab schon Situationen, in denen auf eine Art in unsere Arbeit eingegriffen wurde, die für uns überraschend war", sagt Wermke.

In Istanbul etwa errichteten die beiden vor fünf Jahren auf einer Betonmole zwischen Europa und Asien eine Hütte. Dabei beriefen sie sich auf ein altes osmanisches Gesetz, das besagt, dass ein "über Nacht gelandetes Haus" nicht abgerissen werden dürfe. Zur Hälfte sind die Gebäude in Istanbul ohnedies genau genommen Schwarzbauten, erklärt Wermke - selbst die amerikanische Botschaft zähle dazu. Von ihrem Fluchtpunkt zwischen den Kontinenten filmten die beiden das pulsierende Leben der Stadt und die vorbeituckernden Touristenkähne. Drei Tage lebten sie in dem Holzverschlag. Kurz nachdem sie aufs Festland zurückgekehrt waren, kam ein Polizeiboot. Die Hütte mit Panoramablick wurde abgerissen. Ein abruptes Ende, das irgendwie zu ihrer Arbeit passt. Es illustriert die historischen Veränderungen und die Machtverhältnisse in einer Megastadt. Das osmanische Gesetz gilt offenbar nicht mehr. Jetzt braucht man eine Genehmigung.

"Wermke Leinkauf" mit Texten von Xander Karskens und Bettina Klein. Snoeck Verlag, Köln 2014. 136 Seiten, 250 Abbildungen. Gebunden, 29,80 Euro.

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