Als das Deutsche Reich am 28. Juni 1919 den Vertrag von Versailles unterzeichnete, gingen die überseeischen Kolonien an die Siegermächte des Ersten Weltkriegs über. Lange vergessen, kehrt die Kolonialperiode in Ländern wie Namibia, Kamerun oder Ruanda in den letzten Jahren in die Erinnerung zurück. Was bedeutet dieses Wiederauftauchen für die Bundesrepublik? Müsste in der »postkolonialen« Sichtweise nicht auch das deutsche Eroberungsstreben in Richtung Osten eine Rolle spielen? Die neue Erinnerungskultur hat gravierende Auswirkungen für das Selbstverständnis eines Landes, dessen Bevölkerung immer diverser wird. Der lange Schatten der deutschen »Kulturmission« findet sich heute etwa im Umgang mit der »Schuldenkrise«, mit Migration und Flucht und im alltäglichen Rassismus.
Mark Terkessidis, renommierter Migrations- und Rassismusforscher, macht mit seinem Blick in die Vergangenheit aktuelle Debatten nachvollziehbar und zeigt, an welchen Stellen sie in eine neue Richtung gelenkt werden müssen. Zudem macht er sichtbar, welche Fragen sich ergeben, wenn auch die Erinnerung jener zählt, die eingewandert und damit Teil der Gesellschaft geworden sind.
Mark Terkessidis, renommierter Migrations- und Rassismusforscher, macht mit seinem Blick in die Vergangenheit aktuelle Debatten nachvollziehbar und zeigt, an welchen Stellen sie in eine neue Richtung gelenkt werden müssen. Zudem macht er sichtbar, welche Fragen sich ergeben, wenn auch die Erinnerung jener zählt, die eingewandert und damit Teil der Gesellschaft geworden sind.
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 15.10.2019Das verdrängte Unrecht
Mark Terkessidis zeigt, wie Kolonialgeschichte und gegenwärtiger Rassismus zusammenhängen
Deutschland hat seine Auseinandersetzung mit der eigenen Geschichte gut organisiert. Ein System von Gedenkstätten und Gedenktagen hilft, die Altlasten zu verwalten, sie präsent zu halten und gleichzeitig zu neutralisieren. Hier der Holocaust, hier die Gräuel der Kriege, hier die DDR. Doch dieses Erinnerungswesen ist erstaunlich selektiv. Viele dunkle Episoden kommen kaum vor.
Mark Terkessidis geht es in seinem Buch „Wessen Erinnerung zählt?“ nicht darum, das eine gegen das andere aufzurechnen. Er weist nur sehr eindrücklich darauf hin, dass wir uns auch den als minder wichtig oder ungeeignet zur Seite gelegten Episoden widmen müssen, wenn wir als Gesellschaft hartnäckig sich haltende Probleme lösen wollen, das Problem des Rassismus beispielsweise.
Bis vor kurzem galt die deutsche Kolonialzeit als eines dieser vom Erinnern vergessenen Kapitel der Geschichte. Erst seit der Debatte um Humboldt-Forum und Restitution steigt diese Ära wieder aus dem Dämmer. Überrascht stellt man fest, wie relevant sie für heutige Fragen wie Migration, Globalisierung und Klimakrise ist. Doch kaum hat die Beschäftigung mit dem Kolonialismus begonnen, beginnt auch hier das Sortieren. Aus einem jahrhundertelangen Strang der Geschichte wird ein kurzer Zopf, ein überschaubares Narrativ. Terkessidis hält dagegen mit einer Geschichtsschreibung der Knoten und losen Enden, der Verfilzung und Verhedderung.
Für den Leser, der ihm vom Humboldt-Forum über die „Ostmarken“ nach Litauen und über Griechenland und das Kreuzberg der „Gastarbeiter“ wieder in die ethnologischen Museen folgen muss, ist das teils verwirrend. Doch die häufigen Spurwechsel machen die große Qualität seines Buchs aus.
Terkessidis versteht sein Buch als „Denkanstoß“, nicht als „historische Abhandlung“. Er schreibt zum einen eine sowohl räumlich als auch zeitlich stark erweiterte Geschichte des deutschen Kolonialismus. Und er schreibt, wie diese Geschichte verwoben ist mit der Geschichte des Rassismus, der produziert wurde, um koloniale oder „krypto-koloniale“ Raubzüge und Regime zu provozieren, zu legitimieren und ins deutsche Weltbild einzupassen. Der durch Kolonialsysteme bestätigt und aktualisiert wurde. Und der bis heute weiterlebt, nicht nur im Rassismus der Neonazis, sondern auch im bürgerlichen Ressentiment – gegen die angeblich schlampige polnische Putzfrau oder die Griechen, denen in Geldfragen nicht zu trauen sei.
Terkessidis’ Kolonialgeschichte beginnt mit den Plünderungsexpeditionen der Fugger und Welser im 15. Jahrhundert, erst im heutigen Kenia und Tansania, dann im heutigen Venezuela und anderswo in Südamerika. Sie setzt sich fort mit dem Sklavengeschäft, an dem Preußens Großer Kurfürst beteiligt war, dessen Kunstkammer die Macher des Humboldt-Forums gerne als historischen Ursprung ihres Projekts rühmen. Und auch Alexander von Humboldt war, wie man weiß, verstrickt in koloniale Ausbeutung.
Doch am wichtigsten ist Terkessidis der Quasi-Kolonialismus im Osten: Es war vor allem Friedrich der Große, der ab 1740 mit den Schlesischen Kriegen das Territorium des aufstrebenden Preußen erweiterte. Friedrich Wilhelm II. setzte diese Politik fort. Um die Jahrhundertwende bestand mehr als die Hälfte des Staatsgebiets aus ehemaligem polnischen Land, von den acht Millionen Preußen sprachen drei Millionen Polnisch. Für Terkessidis hatte das preußische Regime im Osten koloniale Züge. Ähnlich wie später in den Überseekolonien wurde auch hier die Bevölkerung unterworfen, das Land ausgebeutet, und auch hier erfand man sich einen elaborierten Überbau: Die „Übermacht des deutschen Stammes gegen die meisten slawischen Stämme“ sei eine „naturhistorische Thatsache“, die brutale Niederwerfung der Einheimischen und die „Peuplierung“ durch deutsche Siedler ein Akt der „Kultivierung“ – Entwicklungshilfe also. Dazu machte man die Ureinwohner des „wilden Ostens“ zu „Anderen“.
In den „Ostmarkenromanen“ des späten 19. Jahrhunderts, aber auch in Fontanes „Effi Briest“, werden die Polen als ewige Kinder, als dumpfe, nicht entwicklungsfähige Typen gezeichnet. Manche Autoren beschrieben sie sogar als dunkelhäutig und schwarzhaarig, als assoziierten sie sie mit den Kolonisierten in Afrika.
Diese Entwicklung kulminierte dann in der erneuten Annektierung Polens unter Hitler. „Was für England Indien war, wird für uns der Osten sein“, hatte er prophezeit. Man müsse dort eine „koloniale, imperiale Rechtsordnung aufbauen“, so der Generalgouverneur Hans Frank, mit dem Ziel „wirtschaftlicher Verwertung“.
„Kolonialiät“ ist in linken Diskursen zum Universalbegriff für Unrecht aller Art geworden: globales Macht- und Wohlstandsgefälle, Diskriminierung, imperialistische Politik, Kapitalismus. Terkessidis schlägt vor, die Sache umzudrehen: Er versteht Rassismus als „eines der großen Unrechtsverhältnisse der Moderne und Kolonialismus als eine spezifische Periode in diesem Verhältnis“.
Ganz anders sieht es aber in der deutschen Debatte aus. Statt das Koloniale als Grundprinzip zu verstehen und nach seiner historischen Kontinuität zu suchen, reduziert man es auf jene vierzig Jahre, in denen Deutschland tatsächlich Kolonien mit diesem Namen besaß. Man macht „eine Art Sonderthema“ daraus, einen fatalen, aber immerhin sehr kurzen Irrweg.
Damit widerspricht Terkessidis nicht nur Beschönigern der deutschen Kolonialtradition wie dem Mitinitiator des Humboldt-Forums, Horst Bredekamp. Er distanziert sich damit auch vorsichtig von der Position der schwarzen Community in Deutschland, die seit Jahrzehnten für ein Eingeständnis deutscher Kolonialverbrechen kämpft. Die Greuel der Kolonialzeit versteht sie als besonders schreckliche Episode in einer bis heute anhaltenden Geschichte der Diskriminierung von Schwarzen durch Weiße. Umgekehrt, so Terkessidis, könnte es etwa in Polen als Schmach empfunden werden, nachträglich als deutsche Kolonie bezeichnet zu werden.
Im Koalitionsvertrag machen sich die Regierungsparteien die „Aufarbeitung des Kolonialismus“ zum Ziel, als sei Geschichte eine Industriebrache, deren verseuchten Boden man lediglich abtragen müsse, bevor man dort Wohnungen bauen kann. Terkessidis zeigt klar wie keiner vor ihm, wie gerade in Deutschland der Rassismus als Grundprinzip des Kolonialismus weiterlebt, viel weniger beachtet und geächtet als in anderen Ländern. Dass diese Bewusstwerdung aus vielen Gründen schmerzhaft wird, auch für die Opfer des Rassismus, liegt auf der Hand.
JÖRG HÄNTZSCHEL
Das preußische Regime im
Osten hatte, was gern vergessen
wird, koloniale Züge
Mark Terkessidis: Wessen Erinnerung zählt.
Koloniale Vergangenheit und Rassismus heute.
Hoffmann und Campe Verlag, Hamburg 2019.
224 Seiten, 22 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Mark Terkessidis zeigt, wie Kolonialgeschichte und gegenwärtiger Rassismus zusammenhängen
Deutschland hat seine Auseinandersetzung mit der eigenen Geschichte gut organisiert. Ein System von Gedenkstätten und Gedenktagen hilft, die Altlasten zu verwalten, sie präsent zu halten und gleichzeitig zu neutralisieren. Hier der Holocaust, hier die Gräuel der Kriege, hier die DDR. Doch dieses Erinnerungswesen ist erstaunlich selektiv. Viele dunkle Episoden kommen kaum vor.
Mark Terkessidis geht es in seinem Buch „Wessen Erinnerung zählt?“ nicht darum, das eine gegen das andere aufzurechnen. Er weist nur sehr eindrücklich darauf hin, dass wir uns auch den als minder wichtig oder ungeeignet zur Seite gelegten Episoden widmen müssen, wenn wir als Gesellschaft hartnäckig sich haltende Probleme lösen wollen, das Problem des Rassismus beispielsweise.
Bis vor kurzem galt die deutsche Kolonialzeit als eines dieser vom Erinnern vergessenen Kapitel der Geschichte. Erst seit der Debatte um Humboldt-Forum und Restitution steigt diese Ära wieder aus dem Dämmer. Überrascht stellt man fest, wie relevant sie für heutige Fragen wie Migration, Globalisierung und Klimakrise ist. Doch kaum hat die Beschäftigung mit dem Kolonialismus begonnen, beginnt auch hier das Sortieren. Aus einem jahrhundertelangen Strang der Geschichte wird ein kurzer Zopf, ein überschaubares Narrativ. Terkessidis hält dagegen mit einer Geschichtsschreibung der Knoten und losen Enden, der Verfilzung und Verhedderung.
Für den Leser, der ihm vom Humboldt-Forum über die „Ostmarken“ nach Litauen und über Griechenland und das Kreuzberg der „Gastarbeiter“ wieder in die ethnologischen Museen folgen muss, ist das teils verwirrend. Doch die häufigen Spurwechsel machen die große Qualität seines Buchs aus.
Terkessidis versteht sein Buch als „Denkanstoß“, nicht als „historische Abhandlung“. Er schreibt zum einen eine sowohl räumlich als auch zeitlich stark erweiterte Geschichte des deutschen Kolonialismus. Und er schreibt, wie diese Geschichte verwoben ist mit der Geschichte des Rassismus, der produziert wurde, um koloniale oder „krypto-koloniale“ Raubzüge und Regime zu provozieren, zu legitimieren und ins deutsche Weltbild einzupassen. Der durch Kolonialsysteme bestätigt und aktualisiert wurde. Und der bis heute weiterlebt, nicht nur im Rassismus der Neonazis, sondern auch im bürgerlichen Ressentiment – gegen die angeblich schlampige polnische Putzfrau oder die Griechen, denen in Geldfragen nicht zu trauen sei.
Terkessidis’ Kolonialgeschichte beginnt mit den Plünderungsexpeditionen der Fugger und Welser im 15. Jahrhundert, erst im heutigen Kenia und Tansania, dann im heutigen Venezuela und anderswo in Südamerika. Sie setzt sich fort mit dem Sklavengeschäft, an dem Preußens Großer Kurfürst beteiligt war, dessen Kunstkammer die Macher des Humboldt-Forums gerne als historischen Ursprung ihres Projekts rühmen. Und auch Alexander von Humboldt war, wie man weiß, verstrickt in koloniale Ausbeutung.
Doch am wichtigsten ist Terkessidis der Quasi-Kolonialismus im Osten: Es war vor allem Friedrich der Große, der ab 1740 mit den Schlesischen Kriegen das Territorium des aufstrebenden Preußen erweiterte. Friedrich Wilhelm II. setzte diese Politik fort. Um die Jahrhundertwende bestand mehr als die Hälfte des Staatsgebiets aus ehemaligem polnischen Land, von den acht Millionen Preußen sprachen drei Millionen Polnisch. Für Terkessidis hatte das preußische Regime im Osten koloniale Züge. Ähnlich wie später in den Überseekolonien wurde auch hier die Bevölkerung unterworfen, das Land ausgebeutet, und auch hier erfand man sich einen elaborierten Überbau: Die „Übermacht des deutschen Stammes gegen die meisten slawischen Stämme“ sei eine „naturhistorische Thatsache“, die brutale Niederwerfung der Einheimischen und die „Peuplierung“ durch deutsche Siedler ein Akt der „Kultivierung“ – Entwicklungshilfe also. Dazu machte man die Ureinwohner des „wilden Ostens“ zu „Anderen“.
In den „Ostmarkenromanen“ des späten 19. Jahrhunderts, aber auch in Fontanes „Effi Briest“, werden die Polen als ewige Kinder, als dumpfe, nicht entwicklungsfähige Typen gezeichnet. Manche Autoren beschrieben sie sogar als dunkelhäutig und schwarzhaarig, als assoziierten sie sie mit den Kolonisierten in Afrika.
Diese Entwicklung kulminierte dann in der erneuten Annektierung Polens unter Hitler. „Was für England Indien war, wird für uns der Osten sein“, hatte er prophezeit. Man müsse dort eine „koloniale, imperiale Rechtsordnung aufbauen“, so der Generalgouverneur Hans Frank, mit dem Ziel „wirtschaftlicher Verwertung“.
„Kolonialiät“ ist in linken Diskursen zum Universalbegriff für Unrecht aller Art geworden: globales Macht- und Wohlstandsgefälle, Diskriminierung, imperialistische Politik, Kapitalismus. Terkessidis schlägt vor, die Sache umzudrehen: Er versteht Rassismus als „eines der großen Unrechtsverhältnisse der Moderne und Kolonialismus als eine spezifische Periode in diesem Verhältnis“.
Ganz anders sieht es aber in der deutschen Debatte aus. Statt das Koloniale als Grundprinzip zu verstehen und nach seiner historischen Kontinuität zu suchen, reduziert man es auf jene vierzig Jahre, in denen Deutschland tatsächlich Kolonien mit diesem Namen besaß. Man macht „eine Art Sonderthema“ daraus, einen fatalen, aber immerhin sehr kurzen Irrweg.
Damit widerspricht Terkessidis nicht nur Beschönigern der deutschen Kolonialtradition wie dem Mitinitiator des Humboldt-Forums, Horst Bredekamp. Er distanziert sich damit auch vorsichtig von der Position der schwarzen Community in Deutschland, die seit Jahrzehnten für ein Eingeständnis deutscher Kolonialverbrechen kämpft. Die Greuel der Kolonialzeit versteht sie als besonders schreckliche Episode in einer bis heute anhaltenden Geschichte der Diskriminierung von Schwarzen durch Weiße. Umgekehrt, so Terkessidis, könnte es etwa in Polen als Schmach empfunden werden, nachträglich als deutsche Kolonie bezeichnet zu werden.
Im Koalitionsvertrag machen sich die Regierungsparteien die „Aufarbeitung des Kolonialismus“ zum Ziel, als sei Geschichte eine Industriebrache, deren verseuchten Boden man lediglich abtragen müsse, bevor man dort Wohnungen bauen kann. Terkessidis zeigt klar wie keiner vor ihm, wie gerade in Deutschland der Rassismus als Grundprinzip des Kolonialismus weiterlebt, viel weniger beachtet und geächtet als in anderen Ländern. Dass diese Bewusstwerdung aus vielen Gründen schmerzhaft wird, auch für die Opfer des Rassismus, liegt auf der Hand.
JÖRG HÄNTZSCHEL
Das preußische Regime im
Osten hatte, was gern vergessen
wird, koloniale Züge
Mark Terkessidis: Wessen Erinnerung zählt.
Koloniale Vergangenheit und Rassismus heute.
Hoffmann und Campe Verlag, Hamburg 2019.
224 Seiten, 22 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 15.11.2019Kuratierte Erinnerung
Mark Terkessidis über das koloniale Erbe
Die Beschäftigung mit der kolonialen Vergangenheit Deutschlands erlebt derzeit einen kleinen Boom, angefeuert durch die Kontroversen um das Berliner Humboldt-Forum und die damit verknüpfte Frage nach der Rückgabe von in der Kolonialzeit unter oftmals dubiosen Umständen "erworbener" Kulturgüter. So mancher Veteran der Kolonialismusforschung reibt sich ein wenig verwundert die Augen, dass häufig eigentlich lange bekannte Fakten und Interpretationen nun plötzlich wiederentdeckt und breit debattiert werden.
Doch wie genau, von wem und in welcher Form soll an den Kolonialismus erinnert werden? Der Publizist Mark Terkessidis plädiert in seinem Buch für eine breite Herangehensweise, eine multiperspektivische Erinnerungskultur sowie die Notwendigkeit von Streit. Er versteht seine Studie als "Denkanstoß", und sein besonderes Augenmerk gilt dabei dem Rassismus, "eines der größten Ungleichheitsverhältnisse der Moderne". "Imperiale Ausdehnung und Kolonialherrschaft", hebt er hervor, haben "immer noch Auswirkungen darauf, wie Rassismus heute funktioniert." Daher sei für die Gestaltung der Erinnerung in Deutschland ein "antirassistisches Kuratieren" notwendig, das den Kolonialismus ebenso wie aktuelle Formen des Rassismus thematisiere.
Um die Verwobenheit von Kolonialismus und Rassismus zu skizzieren, schlägt Terkessidis einen kühnen Bogen von den Plünderungsexpeditionen der Fugger und Welser im fünfzehnten und sechzehnten Jahrhundert bis zu aktuellen Ressentiments gegen Osteuropäer oder angeblich korrupte und faule Südeuropäer, die "auf unsere Kosten" leben. Er will den deutschen Kolonialismus nicht auf die vier Jahrzehnte reduzieren, in denen Deutschland tatsächlich Kolonien in Afrika und im Pazifik besaß. Neben der zeitlichen nimmt er auch eine räumliche Erweiterung vor, indem er insbesondere auf das mit den schlesischen Kriegen ab 1740 einsetzende deutsche Expansionsstreben im Osten Europas eingeht, das schließlich in der nationalsozialistischen Eroberungs- und Kriegspolitik gipfelte.
Terkissidis räsoniert über die erheblichen Vorbehalte auf beiden Seiten, diesen Prozess als Kolonialismus zu bezeichnen. Er vermutet, in Polen könne es als Desavouierung empfunden werden, nachträglich auf einer Stufe mit außereuropäischem Kolonialbesitz zu landen. Zugleich verweist er auf die auch heute in Deutschland noch existierenden erheblichen "rassistischen Wissensbestände" über Menschen polnischer Herkunft.
Terkessidis lässt auch noch einmal die Kontroversen um das Humboldt-Forum Revue passieren, verweist darauf, das Alexander von Humboldt als Repräsentant einer "weltoffenen Beschreibung fremder Kulturen" nur bedingt taugt und skizziert in groben Zügen die Geschichte der Berliner Sammlungen. Dem Museumsbetrieb wirft er vor, angesichts der Restitutionsforderungen auf Zeit zu spielen und meint, die "Besitzwut eines Betriebes, der an seinen Objekten geradezu klebt", erkennen zu können. Dabei diskreditiere, hebt er hervor, die historische Rückschau keineswegs jede Forschungsarbeit, jede Sammlung und jedes Museum in Deutschland, sondern bilde einen durch Kolonialismus und Rassismus charakterisierten Kontext, in dem Ausstellungen heute stattfinden.
Zu Recht verweist Terkessidis darauf, dass es häufig schwarze Menschen oder "People of Colour" waren, die hierzulande die Debatte um den langen Schatten von Kolonialismus und Rassismus initiiert und eingeklagt haben. Deutschland sei ein Einwanderungsland, und in einer solchen "vielheitlichen Gesellschaft" müsse das Erbe aus vielen Erinnerungen bestehen, die jedoch nicht von Expertenrunden am grünen Tisch entwickelt werden dürften. Die Schule identifiziert der Autor als einen zentralen Ort, an dem ein solches Erbe verhandelt werden könnte. Freilich bleibt er weitere Erläuterungen über die Umsetzung dieses Anliegens schuldig.
Insgesamt sticht Terkessidis jedoch im vielstimmigen Chor jener, die derzeit über koloniale Vergangenheit reden und schreiben, durch seinen weiten Blick hervor. Dem verbreiteten Drang nach Überschaubarkeit hält er die Notwendigkeit entgegen, vielen Spuren des Kolonialismus nachzugehen und ihre Relevanz für die Gegenwart zu prüfen.
ANDREAS ECKERT
Mark Terkessidis:
"Wessen Erinnerung zählt?". Koloniale Vergangenheit und Rassismus heute.
Hoffmann und Campe Verlag, Hamburg 2019. 222 S., geb., 22,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Mark Terkessidis über das koloniale Erbe
Die Beschäftigung mit der kolonialen Vergangenheit Deutschlands erlebt derzeit einen kleinen Boom, angefeuert durch die Kontroversen um das Berliner Humboldt-Forum und die damit verknüpfte Frage nach der Rückgabe von in der Kolonialzeit unter oftmals dubiosen Umständen "erworbener" Kulturgüter. So mancher Veteran der Kolonialismusforschung reibt sich ein wenig verwundert die Augen, dass häufig eigentlich lange bekannte Fakten und Interpretationen nun plötzlich wiederentdeckt und breit debattiert werden.
Doch wie genau, von wem und in welcher Form soll an den Kolonialismus erinnert werden? Der Publizist Mark Terkessidis plädiert in seinem Buch für eine breite Herangehensweise, eine multiperspektivische Erinnerungskultur sowie die Notwendigkeit von Streit. Er versteht seine Studie als "Denkanstoß", und sein besonderes Augenmerk gilt dabei dem Rassismus, "eines der größten Ungleichheitsverhältnisse der Moderne". "Imperiale Ausdehnung und Kolonialherrschaft", hebt er hervor, haben "immer noch Auswirkungen darauf, wie Rassismus heute funktioniert." Daher sei für die Gestaltung der Erinnerung in Deutschland ein "antirassistisches Kuratieren" notwendig, das den Kolonialismus ebenso wie aktuelle Formen des Rassismus thematisiere.
Um die Verwobenheit von Kolonialismus und Rassismus zu skizzieren, schlägt Terkessidis einen kühnen Bogen von den Plünderungsexpeditionen der Fugger und Welser im fünfzehnten und sechzehnten Jahrhundert bis zu aktuellen Ressentiments gegen Osteuropäer oder angeblich korrupte und faule Südeuropäer, die "auf unsere Kosten" leben. Er will den deutschen Kolonialismus nicht auf die vier Jahrzehnte reduzieren, in denen Deutschland tatsächlich Kolonien in Afrika und im Pazifik besaß. Neben der zeitlichen nimmt er auch eine räumliche Erweiterung vor, indem er insbesondere auf das mit den schlesischen Kriegen ab 1740 einsetzende deutsche Expansionsstreben im Osten Europas eingeht, das schließlich in der nationalsozialistischen Eroberungs- und Kriegspolitik gipfelte.
Terkissidis räsoniert über die erheblichen Vorbehalte auf beiden Seiten, diesen Prozess als Kolonialismus zu bezeichnen. Er vermutet, in Polen könne es als Desavouierung empfunden werden, nachträglich auf einer Stufe mit außereuropäischem Kolonialbesitz zu landen. Zugleich verweist er auf die auch heute in Deutschland noch existierenden erheblichen "rassistischen Wissensbestände" über Menschen polnischer Herkunft.
Terkessidis lässt auch noch einmal die Kontroversen um das Humboldt-Forum Revue passieren, verweist darauf, das Alexander von Humboldt als Repräsentant einer "weltoffenen Beschreibung fremder Kulturen" nur bedingt taugt und skizziert in groben Zügen die Geschichte der Berliner Sammlungen. Dem Museumsbetrieb wirft er vor, angesichts der Restitutionsforderungen auf Zeit zu spielen und meint, die "Besitzwut eines Betriebes, der an seinen Objekten geradezu klebt", erkennen zu können. Dabei diskreditiere, hebt er hervor, die historische Rückschau keineswegs jede Forschungsarbeit, jede Sammlung und jedes Museum in Deutschland, sondern bilde einen durch Kolonialismus und Rassismus charakterisierten Kontext, in dem Ausstellungen heute stattfinden.
Zu Recht verweist Terkessidis darauf, dass es häufig schwarze Menschen oder "People of Colour" waren, die hierzulande die Debatte um den langen Schatten von Kolonialismus und Rassismus initiiert und eingeklagt haben. Deutschland sei ein Einwanderungsland, und in einer solchen "vielheitlichen Gesellschaft" müsse das Erbe aus vielen Erinnerungen bestehen, die jedoch nicht von Expertenrunden am grünen Tisch entwickelt werden dürften. Die Schule identifiziert der Autor als einen zentralen Ort, an dem ein solches Erbe verhandelt werden könnte. Freilich bleibt er weitere Erläuterungen über die Umsetzung dieses Anliegens schuldig.
Insgesamt sticht Terkessidis jedoch im vielstimmigen Chor jener, die derzeit über koloniale Vergangenheit reden und schreiben, durch seinen weiten Blick hervor. Dem verbreiteten Drang nach Überschaubarkeit hält er die Notwendigkeit entgegen, vielen Spuren des Kolonialismus nachzugehen und ihre Relevanz für die Gegenwart zu prüfen.
ANDREAS ECKERT
Mark Terkessidis:
"Wessen Erinnerung zählt?". Koloniale Vergangenheit und Rassismus heute.
Hoffmann und Campe Verlag, Hamburg 2019. 222 S., geb., 22,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
»Produktiv wie spannend.« Caroline Fetscher Der Tagesspiegel, 29.09.2019