Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 25.02.1995Uns aus den Händen und in alle Lüfte
So jung, so schaumgeboren: Goethes "West-östlicher Divan", wiederhergestellt durch Hendrik Birus · Von Martin Mosebach
Eskapismus, jene Sünde, die von der modernen Moral am wenigsten vergeben wird, ist das ausdrückliche künstlerische Programm des "West-östlichen Divan", Goethes bedeutendster Gedichtsammlung: "... flüchte du, im reinen Osten / Patriarchenluft zu kosten ..." Ein an der Schwelle des Alters stehender Dichter wendet sich einem Kulturkreis zu, der ihm, bis auf die gemeinsame Tradition des Alten Testaments, bisher fremd geblieben ist. Er liest die Gedichte der persischen Dichter und Schriftzeugnisse des arabischen Altertums in deutschen, englischen, französischen und lateinischen Übersetzungen, er studiert Biographien und Werk der alten Orientalisten, er versucht sich den Sprachen des Orients selbst zu nähern, und er macht Schreibübungen in der arabischen Kalligraphie. Je mehr er in diese Welt eindringt, wird aus dem Land des Dichters Hafis, dessen Gedichte er in der Übertragung des Joseph von Hammer-Purgstall immer mit sich führt, "das Land der Dichtung" überhaupt.
So, wie Italien die Anschauung einer lebendigen Antike gewährt hatte, ist es nun wieder weniger die Bewunderung individueller Schöpferkraft als die Begegnung mit einer bis in unsere Gegenwart hinein jeden Lebensbereich poetisch stilisierenden Kultur, die dem sich ihr Unterwerfenden mühelose Bewegung in der Sprache verheißt. "Ich segne meinen Entschluß zu dieser Hegire" - dieser Pilgerfahrt nach Mekka - "denn ich bin dadurch der Zeit und dem lieben Mittel-Europa entrückt, welches für eine große Gunst des Himmels anzusehen ist", schreibt Goethe am 8. Februar 1815 an Knebel. "Die Dichtart, die ich ohne weitere Reflexion ergriffen und geübt habe" (1816 an Zelter), hält unablässige Überraschungen bereit: "Das Orientalisiren finde ich sehr gefährlich, denn ehe man sich's versieht, geht das derbste Gedicht, wie ein Luftballon für lauter rationellem und spirituellem Gas, womit es sich anfüllt, uns aus den Händen und in alle Lüfte" (am 17. April 1815 an Zelter).
Das künstlerische Ergebnis dieser Jahre zwischen 1815 und 1821, der "West-östliche Divan", ist weniger ein exakt geformter Zyklus als das Zeugnis eines Zustandes, der alles, was mit ihm in Berührung kommt, in Poesie verwandelt. Die Hingabe an eine andere Kultur befreite Goethe von allen formalen und inhaltlichen Bedenken. Wer eine fremde Sprache lernt, beginnt damit, sich in vorgegebenen Mustern zu bewegen; er muß zunächst den fremden Geist annehmen wollen, bevor er hoffen kann, sich selbst darin auszudrücken. Goethe versuchte, möglichst viel von den sprachlichen Voraussetzungen der großen persischen Literatur in Erfahrung zu bringen. Er las Märchen, Fabeln und Anekdoten, Spruchsammlungen und religiöse Texte, er behandelte den Raum, den der bewunderte Hafis bewohnte, als zukünftigen eigenen Lebensraum, in dem er atmen und sich nähren wollte. Hier war alles neu, auch das Älteste. Hier trennte keine Barriere die Schätze der archaischen von denen einer zivilisierten Welt. Jedes poetische Mittel, jeder Stoff lag zur Hand - man war ja nicht zu Haus, sondern in Persien. Zu dem Gefühl der Freiheit im Umgang mit dem Vorgefundenen trug gewiß bei, daß Goethe die persische Dichtung nur in den klassizistischen Übersetzungen von Gelehrten kennenlernte: das war Rohmaterial, dessen poetische Potenz nicht erschlossen, sondern nur zu ahnen war und das eine schöpferische Antwort nicht behinderte, sondern sie geradezu hervorrief. In Goethes Schicksal ereignete sich noch einmal das Wunder der Renaissance, als die ausgegrabenen römischen Kopien der verschollenen griechischen Bildhauerei das Werk der Donatello und Cellini inspirierten.
Die großen philosophischen Gedichte und die lockeren, spielerischen kleinen Reime, die sich im Divan wie nachlässig hingestreut aneinanderreihen, werden durch einen unverwechselbaren Ton miteinander verbunden, der gewiß die eigentliche Leistung dieser Dichtung darstellt. In einem Essay über die "Verskunst Shakespeares" rühmt T. S. Eliot Shakespeares Fähigkeit, der Umgangssprache die Kraft und das Aussehen großer Poesie zu verleihen. Für Eliot liegt darin das Meisterstück der Poesie, aber es gibt keine Bemerkung, die er in diesem Zusammenhang macht, die nicht auch auf den "West-östlichen Divan" angewandt werden könnte. Hier geht es wohlgemerkt nicht um das gebräuchliche Mittel der Collage, die Jargon-Brocken witzig untermischt und damit Kontrastreize erzeugt. Ein Zerbrechen der poetischen Atmosphäre, das, was man bei Heine gelegentlich den "lyrischen Selbstmord" genannt hat, lag Goethe am allerfernsten.
Wenn er Verse schrieb, "die zugleich Umgangssprache und große Dichtung sind" (Eliot), dann gelang das deshalb, weil er in den Sätzen umgangssprachlicher Prosa den darin verborgenen lyrischen Rhythmus heraushörte und ihn wie einen Flaschengeist befreite, indem er diesem Satz seine lyrische Umgebung schuf. Das auch den Alltag noch selbstverständlich umkleidende Formgesetz des Orients ermutigte ihn, gleichfalls in der Sphäre des Schmucklosen nach Perlen zu suchen. Keine Lyrisierung der Prosa und Prosaisierung der Lyrik war das Ziel, sondern die Suche nach einer unschuldigeren, frischeren, von ihren Lebensquellen noch unmittelbar gespeisten Kultur, in der die Gattungen der Literatur noch nicht so scharf getrennt sind, ja, in der es überhaupt noch keine allgemein empfundene Trennung zwischen poetischem und alltäglichem Sprechen gibt - die Suche nach einem Arkadien, in dem "die Sprache Gesang und der Gang Tanz" ist. Ein Gedicht aus dem Anfang des "Suleika Nameh - Buch Suleika" stehe hier für alle: "Daß Suleika von Jussuff entzückt war / ist keine Kunst, / Er war jung, Jugend hat Gunst, / Er war schön, sie sagen zum Entzücken, / schön war sie, konnten einander beglücken ..." Keine einzige Zeile steht in diesem Gedicht, die nicht genausogut als Prosa gelten könnte. Erst in ihrer Abfolge, ihrem improvisiert und provoziert erscheinenden Reimgefüge offenbart sich der lyrische Charakter, und aus den gesprächshaft beiläufigen Hebungen und Senkungen der Zeile "Daß Suleika von Jussuff entzückt war / ist keine Kunst ..." bildet sich ein neuartiger, nie zuvor vernommener Versrhythmus heraus, der Goethes alleiniges Eigentum ist. Niemals wurde mit derart winzigen Mitteln eine solche Wirkung erzielt. Es sind die ursprünglichsten Mittel der Poesie, fern von Rhetorik, Philosophie und kühnen Metaphern - was alles Goethe sehr wohl zu Gebote stand -, ein bloßes Heraushören der Form, die das anonyme Genie eines Volkes in Jahrhunderten den Wörtern seiner Sprache verliehen hat. Deshalb verkennt auch die Unterscheidung zwischen "großen" und "kleinen" Gedichten im Divan die eigentliche Qualität der Sammlung, die in der Schöpfung und Entdeckung solchen poetischen Urmaterials besteht, an dem dann alle Gebilde ihren Anteil haben.
Die Rezeption des unvergleichlichen Werks entsprach zu keiner Zeit seinem Rang. "Nun so legt euch liebe Lieder / an den Busen meinem Volke ..." - diese Zeilen aus dem Schlußgedicht "Gute Nacht" im "Chuld Nameh - Buch des Paradieses" sprechen einen Wunsch aus, der nie erfüllt wurde. Der "West-östliche Divan" blieb den Deutschen fremd. In den Tag- und Jahresheften 1818 schreibt Goethe über die Aufnahme der Vorabdrucke vieler Gedichte: "Die Zweideutigkeit: ob es Übersetzungen oder angeregte oder angeeignete Nachbildungen seien, kam dem Unternehmen nicht zu Gute; ich ließ es aber seinen Gang gehen, schon gewohnt, das deutsche Publicum erst stutzen zu sehen, eh, es empfing und genoß."
So jung, so schaumgeboren, wie der "West-östliche Divan" sich damals der Öffentlichkeit präsentierte, ist er nun wieder zu haben; die neue Ausgabe des Deutschen Klassiker Verlages, besorgt von Hendrik Birus, zeigt alle Stufen eines werdenden Werkes, die ersten Sammlungen, Vorveröffentlichungen, die Erstausgabe von 1819 und die Ausgabe letzter Hand, und wie glücklich müßte dieses Land sein, wenn die Zeit des Stutzens und des Verdutztseins nun abgelaufen wäre! Was bei vielen anderen Werken das Genießen behindert - ein ausufernder Kommentar, zahlreiche verschiedene Lesarten, beständig wechselnde Schreibweisen und Zeichensetzungen, ohne daß an einem Punkte dann schließlich einmal die schöne Sicherheit vermittelt würde, wie es sich der Dichter wohl wirklich gedacht habe -, das schenkt in diesem Fall eine ungeahnte Belebung und eine tiefere Einsicht in Goethes Vorhaben. Der Divan ist weit davon entfernt, Fragment zu sein, und steht dennoch unabgeschlossen vor uns: eine Sonne, deren Strahlen nach vielen Seiten hin noch kaum die Grenzen ihres Raumes erreicht haben.
Unmittelbar nach der Fertigstellung des Erstdrucks 1819 ließ Goethe eine neue Abschrift beginnen, in die eine Fülle neuer Gedichte eingearbeitet wurde, der "Neue Divan", der 1827 erschien. Aber zugleich steckte er in den "Noten und Abhandlungen" zum Divan die Entwicklung eines "Künftigen Divan" ab - das war, wohlverstanden, kein Arbeitsplan, sondern ein Hinweis auf den dynamischen Charakter der Sammlung, zu deren innerer Gesetzmäßigkeit eigentlich die Endlosigkeit gehörte. Wie sehr Goethe seine Dichtung als flüssige, noch nicht zur Endgültigkeit geronnene Gestalt ansah, zeigt sein Verhältnis zur "Commatisirung". Satzzeichen sind für den neueren Lyriker zu einem entscheidenden Mittel geworden, um den Vers zu rhythmisieren, das Weglassen oder Hinzufügen von Kommata wird zur Staatsaktion der Interpretation. Goethe empfand offenbar die Notwendigkeit, in Hinsicht auf die Zeichensetzung in der von ihm selbst und von Eckermann bereits korrigierten Handschrift des "Neuen Divan" noch weitere Korrekturen vornehmen zu lassen, aber er wollte sich auch wiederum nicht selbst darum kümmern und gab seinem Herausgeber Göttling "alle Macht und Gewalt", die Kommata nach Gutdünken zu setzen. Göttling verstand den Auftrag so, daß er nach den damals geltenden Kommaregeln verfahren solle, und ließ Goethes Bitte unberücksichtigt, "daß ... eine ... allzu häufige Interpunction und Commatisirung ausgelöscht und dadurch ein reiner Fluß des Vortrages bewirkt werde". Aber Goethe akzeptierte die mit korrekten Kommata übersäte Ausgabe! Man stelle sich ein ähnliches Verfahren bei Stefan George vor, um das verblüffend Lässige dieser Haltung ganz würdigen zu können.
Die neue Ausgabe hat Eckermanns und Göttlings Satzzeichen wieder entfernt und damit einen Zustand hergestellt, der von Goethes eigener Hand stammt, aber erklärtermaßen von Goethe nicht als druckfertig empfunden wurde. Wer das System, nach dem Goethe seine Zeichen setzte, erkunden möchte, der muß den Einzelfall studieren. Vor "dass" und vor Relativsätzen fehlen die Kommata oft, aber eben nicht immer. "Der reine Fluß des Vortrags" ist der Maßstab, es geht um das Heben und Senken der Stimme, um das Atmen. Die Wortsinnlichkeit des Divan fordert gleichsam biologische Kommaregeln. Vielleicht steckt in dem Verzicht Goethes, in die studienrätlichen Korrekturen seiner Herausgeber noch einmal einzugreifen, eine Scheu, solche Regeln zu definieren, die "ein reines Gemüth", wie er sich möglicherweise ausgedrückt hätte, aus sich selbst heraus zu entwickeln fähig sein müsse.
Der Kommentarband läßt die Bewunderung für den Umgang Goethes mit seinen Quellen ins ungemessene wachsen. Jetzt ist es bequem möglich, die Hafis-Gedichte in der Version Hammer-Purgstalls und viele Texte anderer Herkunft mit den Gedichten zu vergleichen, die Goethe aus ihnen gemacht hat. Immer wieder erstaunt, wie weit er sich von den philosophischen Gedanken und Redefiguren der Vorlage führen ließ, um es dann spielerisch und voll désinvolture mit persönlichster Substanz zu mischen und aus dem kalligraphischen Zirkelschluß ein Lied von neuartiger Einfachheit werden zu lassen. Der Leser kann nun den Erzählungen folgen, die hinter den immer erwähnten persischen Namen der Dichter, Heiligen und Monarchen stecken und die vorher nur als schöner Klangreiz den Vers geschmückt haben. Neben Marianne von Willemer treten die Kaiserin Maria Ludovica und der Student Paulus in Heidelberg als Anreger und Adressaten (die Kaiserin für "Geheimstes" und Paulus für Saki, den Schenken). Solche Einbettung ins Anekdotische, Biographische, Historische, die bei den meisten anderen Werken etwas Kunstfremdes wäre, ist gerade beim Divan erlaubt. Das Leben, wie es nun einmal ist, ohne es zu beschönigen, ganz in Poesie, und das heißt hier: Schönheit zu verwandeln war das Vorhaben dieses Werks, das noch größer wird, wenn man wahrnimmt, in welchem Abstand die Montgolfiere über der Erde schwebt.
Johann Wolfgang Goethe: "West-östlicher Divan". Sämtliche Werke. Briefe, Tagebücher und Gespräche, Bd. 3/I u. II. Herausgegeben von Hendrik Birus. Deutscher Klassiker Verlag, Frankfurt am Main 1994. Zus. 2072 S., geb., Subskr. 240,-/280,- DM.
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So jung, so schaumgeboren: Goethes "West-östlicher Divan", wiederhergestellt durch Hendrik Birus · Von Martin Mosebach
Eskapismus, jene Sünde, die von der modernen Moral am wenigsten vergeben wird, ist das ausdrückliche künstlerische Programm des "West-östlichen Divan", Goethes bedeutendster Gedichtsammlung: "... flüchte du, im reinen Osten / Patriarchenluft zu kosten ..." Ein an der Schwelle des Alters stehender Dichter wendet sich einem Kulturkreis zu, der ihm, bis auf die gemeinsame Tradition des Alten Testaments, bisher fremd geblieben ist. Er liest die Gedichte der persischen Dichter und Schriftzeugnisse des arabischen Altertums in deutschen, englischen, französischen und lateinischen Übersetzungen, er studiert Biographien und Werk der alten Orientalisten, er versucht sich den Sprachen des Orients selbst zu nähern, und er macht Schreibübungen in der arabischen Kalligraphie. Je mehr er in diese Welt eindringt, wird aus dem Land des Dichters Hafis, dessen Gedichte er in der Übertragung des Joseph von Hammer-Purgstall immer mit sich führt, "das Land der Dichtung" überhaupt.
So, wie Italien die Anschauung einer lebendigen Antike gewährt hatte, ist es nun wieder weniger die Bewunderung individueller Schöpferkraft als die Begegnung mit einer bis in unsere Gegenwart hinein jeden Lebensbereich poetisch stilisierenden Kultur, die dem sich ihr Unterwerfenden mühelose Bewegung in der Sprache verheißt. "Ich segne meinen Entschluß zu dieser Hegire" - dieser Pilgerfahrt nach Mekka - "denn ich bin dadurch der Zeit und dem lieben Mittel-Europa entrückt, welches für eine große Gunst des Himmels anzusehen ist", schreibt Goethe am 8. Februar 1815 an Knebel. "Die Dichtart, die ich ohne weitere Reflexion ergriffen und geübt habe" (1816 an Zelter), hält unablässige Überraschungen bereit: "Das Orientalisiren finde ich sehr gefährlich, denn ehe man sich's versieht, geht das derbste Gedicht, wie ein Luftballon für lauter rationellem und spirituellem Gas, womit es sich anfüllt, uns aus den Händen und in alle Lüfte" (am 17. April 1815 an Zelter).
Das künstlerische Ergebnis dieser Jahre zwischen 1815 und 1821, der "West-östliche Divan", ist weniger ein exakt geformter Zyklus als das Zeugnis eines Zustandes, der alles, was mit ihm in Berührung kommt, in Poesie verwandelt. Die Hingabe an eine andere Kultur befreite Goethe von allen formalen und inhaltlichen Bedenken. Wer eine fremde Sprache lernt, beginnt damit, sich in vorgegebenen Mustern zu bewegen; er muß zunächst den fremden Geist annehmen wollen, bevor er hoffen kann, sich selbst darin auszudrücken. Goethe versuchte, möglichst viel von den sprachlichen Voraussetzungen der großen persischen Literatur in Erfahrung zu bringen. Er las Märchen, Fabeln und Anekdoten, Spruchsammlungen und religiöse Texte, er behandelte den Raum, den der bewunderte Hafis bewohnte, als zukünftigen eigenen Lebensraum, in dem er atmen und sich nähren wollte. Hier war alles neu, auch das Älteste. Hier trennte keine Barriere die Schätze der archaischen von denen einer zivilisierten Welt. Jedes poetische Mittel, jeder Stoff lag zur Hand - man war ja nicht zu Haus, sondern in Persien. Zu dem Gefühl der Freiheit im Umgang mit dem Vorgefundenen trug gewiß bei, daß Goethe die persische Dichtung nur in den klassizistischen Übersetzungen von Gelehrten kennenlernte: das war Rohmaterial, dessen poetische Potenz nicht erschlossen, sondern nur zu ahnen war und das eine schöpferische Antwort nicht behinderte, sondern sie geradezu hervorrief. In Goethes Schicksal ereignete sich noch einmal das Wunder der Renaissance, als die ausgegrabenen römischen Kopien der verschollenen griechischen Bildhauerei das Werk der Donatello und Cellini inspirierten.
Die großen philosophischen Gedichte und die lockeren, spielerischen kleinen Reime, die sich im Divan wie nachlässig hingestreut aneinanderreihen, werden durch einen unverwechselbaren Ton miteinander verbunden, der gewiß die eigentliche Leistung dieser Dichtung darstellt. In einem Essay über die "Verskunst Shakespeares" rühmt T. S. Eliot Shakespeares Fähigkeit, der Umgangssprache die Kraft und das Aussehen großer Poesie zu verleihen. Für Eliot liegt darin das Meisterstück der Poesie, aber es gibt keine Bemerkung, die er in diesem Zusammenhang macht, die nicht auch auf den "West-östlichen Divan" angewandt werden könnte. Hier geht es wohlgemerkt nicht um das gebräuchliche Mittel der Collage, die Jargon-Brocken witzig untermischt und damit Kontrastreize erzeugt. Ein Zerbrechen der poetischen Atmosphäre, das, was man bei Heine gelegentlich den "lyrischen Selbstmord" genannt hat, lag Goethe am allerfernsten.
Wenn er Verse schrieb, "die zugleich Umgangssprache und große Dichtung sind" (Eliot), dann gelang das deshalb, weil er in den Sätzen umgangssprachlicher Prosa den darin verborgenen lyrischen Rhythmus heraushörte und ihn wie einen Flaschengeist befreite, indem er diesem Satz seine lyrische Umgebung schuf. Das auch den Alltag noch selbstverständlich umkleidende Formgesetz des Orients ermutigte ihn, gleichfalls in der Sphäre des Schmucklosen nach Perlen zu suchen. Keine Lyrisierung der Prosa und Prosaisierung der Lyrik war das Ziel, sondern die Suche nach einer unschuldigeren, frischeren, von ihren Lebensquellen noch unmittelbar gespeisten Kultur, in der die Gattungen der Literatur noch nicht so scharf getrennt sind, ja, in der es überhaupt noch keine allgemein empfundene Trennung zwischen poetischem und alltäglichem Sprechen gibt - die Suche nach einem Arkadien, in dem "die Sprache Gesang und der Gang Tanz" ist. Ein Gedicht aus dem Anfang des "Suleika Nameh - Buch Suleika" stehe hier für alle: "Daß Suleika von Jussuff entzückt war / ist keine Kunst, / Er war jung, Jugend hat Gunst, / Er war schön, sie sagen zum Entzücken, / schön war sie, konnten einander beglücken ..." Keine einzige Zeile steht in diesem Gedicht, die nicht genausogut als Prosa gelten könnte. Erst in ihrer Abfolge, ihrem improvisiert und provoziert erscheinenden Reimgefüge offenbart sich der lyrische Charakter, und aus den gesprächshaft beiläufigen Hebungen und Senkungen der Zeile "Daß Suleika von Jussuff entzückt war / ist keine Kunst ..." bildet sich ein neuartiger, nie zuvor vernommener Versrhythmus heraus, der Goethes alleiniges Eigentum ist. Niemals wurde mit derart winzigen Mitteln eine solche Wirkung erzielt. Es sind die ursprünglichsten Mittel der Poesie, fern von Rhetorik, Philosophie und kühnen Metaphern - was alles Goethe sehr wohl zu Gebote stand -, ein bloßes Heraushören der Form, die das anonyme Genie eines Volkes in Jahrhunderten den Wörtern seiner Sprache verliehen hat. Deshalb verkennt auch die Unterscheidung zwischen "großen" und "kleinen" Gedichten im Divan die eigentliche Qualität der Sammlung, die in der Schöpfung und Entdeckung solchen poetischen Urmaterials besteht, an dem dann alle Gebilde ihren Anteil haben.
Die Rezeption des unvergleichlichen Werks entsprach zu keiner Zeit seinem Rang. "Nun so legt euch liebe Lieder / an den Busen meinem Volke ..." - diese Zeilen aus dem Schlußgedicht "Gute Nacht" im "Chuld Nameh - Buch des Paradieses" sprechen einen Wunsch aus, der nie erfüllt wurde. Der "West-östliche Divan" blieb den Deutschen fremd. In den Tag- und Jahresheften 1818 schreibt Goethe über die Aufnahme der Vorabdrucke vieler Gedichte: "Die Zweideutigkeit: ob es Übersetzungen oder angeregte oder angeeignete Nachbildungen seien, kam dem Unternehmen nicht zu Gute; ich ließ es aber seinen Gang gehen, schon gewohnt, das deutsche Publicum erst stutzen zu sehen, eh, es empfing und genoß."
So jung, so schaumgeboren, wie der "West-östliche Divan" sich damals der Öffentlichkeit präsentierte, ist er nun wieder zu haben; die neue Ausgabe des Deutschen Klassiker Verlages, besorgt von Hendrik Birus, zeigt alle Stufen eines werdenden Werkes, die ersten Sammlungen, Vorveröffentlichungen, die Erstausgabe von 1819 und die Ausgabe letzter Hand, und wie glücklich müßte dieses Land sein, wenn die Zeit des Stutzens und des Verdutztseins nun abgelaufen wäre! Was bei vielen anderen Werken das Genießen behindert - ein ausufernder Kommentar, zahlreiche verschiedene Lesarten, beständig wechselnde Schreibweisen und Zeichensetzungen, ohne daß an einem Punkte dann schließlich einmal die schöne Sicherheit vermittelt würde, wie es sich der Dichter wohl wirklich gedacht habe -, das schenkt in diesem Fall eine ungeahnte Belebung und eine tiefere Einsicht in Goethes Vorhaben. Der Divan ist weit davon entfernt, Fragment zu sein, und steht dennoch unabgeschlossen vor uns: eine Sonne, deren Strahlen nach vielen Seiten hin noch kaum die Grenzen ihres Raumes erreicht haben.
Unmittelbar nach der Fertigstellung des Erstdrucks 1819 ließ Goethe eine neue Abschrift beginnen, in die eine Fülle neuer Gedichte eingearbeitet wurde, der "Neue Divan", der 1827 erschien. Aber zugleich steckte er in den "Noten und Abhandlungen" zum Divan die Entwicklung eines "Künftigen Divan" ab - das war, wohlverstanden, kein Arbeitsplan, sondern ein Hinweis auf den dynamischen Charakter der Sammlung, zu deren innerer Gesetzmäßigkeit eigentlich die Endlosigkeit gehörte. Wie sehr Goethe seine Dichtung als flüssige, noch nicht zur Endgültigkeit geronnene Gestalt ansah, zeigt sein Verhältnis zur "Commatisirung". Satzzeichen sind für den neueren Lyriker zu einem entscheidenden Mittel geworden, um den Vers zu rhythmisieren, das Weglassen oder Hinzufügen von Kommata wird zur Staatsaktion der Interpretation. Goethe empfand offenbar die Notwendigkeit, in Hinsicht auf die Zeichensetzung in der von ihm selbst und von Eckermann bereits korrigierten Handschrift des "Neuen Divan" noch weitere Korrekturen vornehmen zu lassen, aber er wollte sich auch wiederum nicht selbst darum kümmern und gab seinem Herausgeber Göttling "alle Macht und Gewalt", die Kommata nach Gutdünken zu setzen. Göttling verstand den Auftrag so, daß er nach den damals geltenden Kommaregeln verfahren solle, und ließ Goethes Bitte unberücksichtigt, "daß ... eine ... allzu häufige Interpunction und Commatisirung ausgelöscht und dadurch ein reiner Fluß des Vortrages bewirkt werde". Aber Goethe akzeptierte die mit korrekten Kommata übersäte Ausgabe! Man stelle sich ein ähnliches Verfahren bei Stefan George vor, um das verblüffend Lässige dieser Haltung ganz würdigen zu können.
Die neue Ausgabe hat Eckermanns und Göttlings Satzzeichen wieder entfernt und damit einen Zustand hergestellt, der von Goethes eigener Hand stammt, aber erklärtermaßen von Goethe nicht als druckfertig empfunden wurde. Wer das System, nach dem Goethe seine Zeichen setzte, erkunden möchte, der muß den Einzelfall studieren. Vor "dass" und vor Relativsätzen fehlen die Kommata oft, aber eben nicht immer. "Der reine Fluß des Vortrags" ist der Maßstab, es geht um das Heben und Senken der Stimme, um das Atmen. Die Wortsinnlichkeit des Divan fordert gleichsam biologische Kommaregeln. Vielleicht steckt in dem Verzicht Goethes, in die studienrätlichen Korrekturen seiner Herausgeber noch einmal einzugreifen, eine Scheu, solche Regeln zu definieren, die "ein reines Gemüth", wie er sich möglicherweise ausgedrückt hätte, aus sich selbst heraus zu entwickeln fähig sein müsse.
Der Kommentarband läßt die Bewunderung für den Umgang Goethes mit seinen Quellen ins ungemessene wachsen. Jetzt ist es bequem möglich, die Hafis-Gedichte in der Version Hammer-Purgstalls und viele Texte anderer Herkunft mit den Gedichten zu vergleichen, die Goethe aus ihnen gemacht hat. Immer wieder erstaunt, wie weit er sich von den philosophischen Gedanken und Redefiguren der Vorlage führen ließ, um es dann spielerisch und voll désinvolture mit persönlichster Substanz zu mischen und aus dem kalligraphischen Zirkelschluß ein Lied von neuartiger Einfachheit werden zu lassen. Der Leser kann nun den Erzählungen folgen, die hinter den immer erwähnten persischen Namen der Dichter, Heiligen und Monarchen stecken und die vorher nur als schöner Klangreiz den Vers geschmückt haben. Neben Marianne von Willemer treten die Kaiserin Maria Ludovica und der Student Paulus in Heidelberg als Anreger und Adressaten (die Kaiserin für "Geheimstes" und Paulus für Saki, den Schenken). Solche Einbettung ins Anekdotische, Biographische, Historische, die bei den meisten anderen Werken etwas Kunstfremdes wäre, ist gerade beim Divan erlaubt. Das Leben, wie es nun einmal ist, ohne es zu beschönigen, ganz in Poesie, und das heißt hier: Schönheit zu verwandeln war das Vorhaben dieses Werks, das noch größer wird, wenn man wahrnimmt, in welchem Abstand die Montgolfiere über der Erde schwebt.
Johann Wolfgang Goethe: "West-östlicher Divan". Sämtliche Werke. Briefe, Tagebücher und Gespräche, Bd. 3/I u. II. Herausgegeben von Hendrik Birus. Deutscher Klassiker Verlag, Frankfurt am Main 1994. Zus. 2072 S., geb., Subskr. 240,-/280,- DM.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main