Produktdetails
  • Aufbau Taschenbücher
  • Verlag: Aufbau TB
  • Seitenzahl: 819
  • Gewicht: 604g
  • ISBN-13: 9783746616681
  • Artikelnr.: 08990476
Autorenporträt
Martin Mosebach, geboren 1951 in Frankfurt am Main, war zunächst Jurist, dann wandte er sich dem Schreiben zu. Seit 1983 veröffentlicht er Romane, dazu Erzählungen, Gedichte, Libretti und Essays über Kunst und Literatur, über Reisen, über religiöse, historische und politische Themen. Dafür hat er zahlreiche Auszeichnungen und Preise erhalten, etwa den Heinrich-von-Kleist-Preis, den Großen Literaturpreis der Bayerischen Akademie der Schönen Künste, den Georg-Büchner-Preis und die Goethe-Plakette der Stadt Frankfurt. Er ist Mitglied der Akademie für Sprache und Dichtung, der Deutschen Akademie der Künste in Berlin-Brandenburg sowie der Bayerischen Akademie der Schönen Künste und lebt in Frankfurt am Main.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 11.04.2019

Zierrat und Entrümpelung
Das Buch zur Stadt: Im Mai liest Frankfurt Martin Mosebachs Roman "Westend"

FRANKFURT. Der ganze Bunker ist voller Möbel. Plötzlich wird Eduard Has klar, dass der herrenlose Trödel, dessen Besichtigung ihm ein Ramschhändler ermöglicht hat, an diesem Ort nur versammelt werden konnte, weil ihm ein Berg von Leichen entspricht. Das alte Frankfurt ist in den Bombennächten des Zweiten Weltkriegs untergegangen, die Besitzer vieler Frankfurter Tische, Sessel und Schränke sind tot, und dort, wo sich noch etwas erhalten hat vom Prunk und Komfort der alten Zeit, im Westend, dem großbürgerlichen Wohnviertel aus dem Kaiserreich, wird ausgekämpft, was aus Resten und Überbleibseln wird.

Der Bunkerbesuch nimmt in Martin Mosebachs "Westend" nur ein paar Zeilen ein. Aber er ist eine von unzähligen Episoden, die im Gedächtnis bleiben. Im Mai ist dem Roman, der mehrere Familien und die Zeit des Wiederaufbaus beschreibt, das Festival "Frankfurt liest ein Buch" gewidmet. Und weil der Roman knapp 900 Seiten lang ist, lohnt es sich, mit der Lektüre schon jetzt zu beginnen, auch wenn Fans des Festivals, das in diesem Jahr zum zehnten Mal stattfindet, sonst gerne warten, bis es angelaufen ist, um bei Lesungen, Gesprächen und Stadtspaziergängen angeregt über gemeinsam Gelesenes zu plaudern. Aber wenn nach dem lustigsten Roman, "Die Vollidioten" von Eckhard Henscheid, dem traurigsten, "Abschaffel" von Wilhelm Genazino, und dem bedeutendsten, "Das siebte Kreuz" von Anna Seghers, nun der deutlich längste dran ist, muss der vorausschauende Leser sich wappnen. Gestern wurde das Programm des Festivals vorgestellt, das unter www.frankfurt-liest-ein-buch.de auch im Netz zu finden ist. Die vom Hamburger Rowohlt Verlag herausgebrachte Neuausgabe des Romans ist für 20 Euro im Buchhandel erhältlich, es kann also losgehen.

Doch Vorsicht: Wer Krimis liebt und harte, wortkarge Sätze wie "Er schoss" und "Sie verblutete", wer gerne zu Fantasyromanen greift, in denen Drachen zwischendurch die halbe Belegschaft abfackeln, wird sich schwertun. Kaum ein Roman Mosebachs folgt so dezidiert dem Modell seines österreichischen Vorbilds Heimito von Doderer, in dessen Meisterwerk "Die Strudlhofstiege oder Melzer und die Tiefe der Jahre" ja bekanntlich kaum etwas geschieht, das aber wortreich. Auch in "Westend" plappern, tratschen und intrigieren sich die handelnden Personen munter durch den Alltag, ohne dass etwas Größeres geschähe. Dabei verschieben sich in Gesprächen oder Gedanken ganze Leben. Aber man merkt es kaum. Nicht einmal die Personen merken etwas, denen es widerfährt.

Alles beginnt in den späten vierziger Jahren, als der kleine Alfred, den Tante Mi und Tante Tildchen bei sich aufgenommen haben, zwischen den Trümmern zerstörter Häuser an der Schubertstraße und der ausgebrannten Ruine der Christuskirche spielt, und endet in den Sechzigern, als es den Bauunternehmern der Stadt darauf ankommt, Aufträge am rasch wachsenden Flughafen zu erhalten. Ehe Seite 895 erreicht ist, schildert dieser geräumige Frankfurter Schrank von einem Buch eine Fülle von Personen. Aber das Werk des 1951 geborenen Frankfurters Mosebach, der im Westend groß wurde und dort noch heute wohnt und schreibt, tut nur so, als sei es eines der vom Autor geliebten Häuser aus der Zeit um 1900 mit Verzierungen aus Mainsandstein. Tatsächlich arbeitet es so ökonomisch wie die schmucklosen Häuser der Nachkriegszeit.

Das dichte Netz persönlicher Beziehungen, das von den Tanten über die Putzfrau Frau Scharnhorst bis zum Kater Puccini reicht, kommt rund um Hauptpersonen wie Eduard Has immer wieder zur Ruhe, so dass der Überblick leicht zu behalten ist. Die von Has und anderen geführte Immobilienverwaltung spekuliert im Westend, was zur späteren Häuserkampfzeit überleitet, er selbst sammelt nicht mehr die Bilder der Kronberger Malerschule, mit denen er groß geworden ist, sondern die Expressionisten der Zwischenkriegszeit. Nachdrücklich stellt das Buch anhand solcher Details die Epochenbruch-Fragen der Nachkriegszeit, in der eben nicht alles weiterging wie zuvor, sondern vieles sich änderte. Es sind die Fragen von heute: Wie wollen wir leben, wohnen, bauen?

Bei seinem ersten Erscheinen im Jahr 1992 wirkte das Buch des damals fast unbekannten Autors zutiefst aus der Zeit gefallen, ja altmodisch. Jetzt passt es. Nicht etwa, weil Frankfurt sich eine neue Altstadt errichtet hat, in einer großen Geste der Künstlichkeit, wie Mosebachs Kritiker sie dem Autor immer wieder vorgeworfen haben, sondern weil die schier endlose Folge kurzer Episoden bestens aufgehoben ist in einem Jahrzehnt, in dem der kurze Tweet und die möglichst lange Fernsehserie gleichermaßen beliebt sind.

Am Schluss des Romans werden Häuser entrümpelt. Tante Mi bestellt in einem Geschäft dänische Möbel, "deren Formen sich die inneren menschlichen Organe zum Vorbild genommen hatten", Has wird um seine Kunstsammlung gebracht. Wie es dazu kommt, weiß jeder, der mit dem Buch bis zur Festivaleröffnung am 6. Mai vorangekommen ist.

FLORIAN BALKE

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Dieses Buch ist umgeben von einer ungeheuren Fama. (...) wieder verblüffend aktuell. Helmut Böttiger Deutschlandfunk Kultur 20190329