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Die konfessionellen Verhältnisse in Deutschland sind durch die staatliche Teilung stark verändert worden. Erstmals seit Gründung des Kaiserreichs herrschte in einem deutschen Staat konfessionelle Parität zwischen Protestanten und Katholiken. Viele Evangelische glaubten deshalb, der Protestantismus habe seine dominierende kulturelle und gesellschaftliche Stellung, die er nach 1871 errungen hatte, an den Katholizismus verloren. Der Protestantismus war unter diesen neuen Bedingungen gezwungen, seine Rolle in der westdeutschen Gesellschaft zu finden und zu behaupten. Dieser Prozeß blieb nicht frei…mehr

Produktbeschreibung
Die konfessionellen Verhältnisse in Deutschland sind durch die staatliche Teilung stark verändert worden. Erstmals seit Gründung des Kaiserreichs herrschte in einem deutschen Staat konfessionelle Parität zwischen Protestanten und Katholiken. Viele Evangelische glaubten deshalb, der Protestantismus habe seine dominierende kulturelle und gesellschaftliche Stellung, die er nach 1871 errungen hatte, an den Katholizismus verloren. Der Protestantismus war unter diesen neuen Bedingungen gezwungen, seine Rolle in der westdeutschen Gesellschaft zu finden und zu behaupten. Dieser Prozeß blieb nicht frei von tiefreichenden Spannungen zwischen unterschiedlichen kirchlichen Gruppen.
Autorenporträt
Lutz Raphael ist Professor für Neuere und Neueste Geschichte an der Universität Trier.
Anselm Doering-Manteuffel ist Professor für Neuere Geschichte und Direktor des Seminars für Zeitgeschichte der Universität Tübingen.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 23.11.1999

Tugend des Ausgleichs
Der Kronberger Kreis als Kristallisationskern "westlichen" Denkens in der evangelischen Kirche

Thomas Sauer: Westorientierung im deutschen Protestantismus? Vorstellungen und Tätigkeit des Kronberger Kreises. Ordnungssysteme. Studien zur Ideengeschichte der Neuzeit, Band 2. R. Oldenbourg Verlag, München 1999. VII, 326 Seiten, 98,- Mark.

Am 5. November 1951 kam Bundeskanzler Adenauer in Königswinter mit evangelischen Kirchenvertretern zusammen, um mit ihnen die Frage des westdeutschen Verteidigungsbeitrages zu erörtern. Besonders schwer fiel es Adenauer diesmal nicht, die Anwesenden von der Richtigkeit seiner Haltung zu überzeugen. Gegner der Wiederbewaffnungspolitik wie Gustav Heinemann und Martin Niemöller waren zu dem Treffen nicht eingeladen worden. Heinemann sah in dem Vorgehen seiner innerkirchlichen Widersacher den Versuch, in der Öffentlichkeit den Eindruck zu erwecken, zwischen der evangelischen Kirche und der Regierung sei es zur Verständigung gekommen. Dass er und seine Mitstreiter in die Defensive gedrängt werden sollten, wurde ihm vom Veranstalter des Treffens, dem Direktor der Evangelischen Akademie Bad Boll und Vorsitzenden des Leiterkreises der Evangelischen Akademien, Eberhard Müller, dann auch ausdrücklich bestätigt.

Die Entschlossenheit namhafter protestantischer Persönlichkeiten, Adenauers Kurs der Westeinbindung zu unterstützen, manifestierte sich noch im gleichen Monat in der Gründung des "Kronberger Kreises", zu dessen Voraussetzungen und Wirken Thomas Sauer eine aufschlussreiche Studie vorgelegt hat. Die Initiative zur Gründung des Kreises ging ebenfalls von Müller aus, zusammen mit Hans Lilje, damals Bischof von Hannover, und dem Kirchentagspräsidenten Reinold von Thadden-Trieglaff. Die drei brachten aus der Zeit vor 1933 mit intensiven ökumenischen Kontakten zur westeuropäischen und angelsächsischen Welt Erfahrungen mit, denen sie eine große Offenheit für die geistigen Grundlagen des Westens verdankten. Der lockere Zusammenschluss von nie mehr als 20 Teilnehmern traf sich (übrigens bis Anfang der achtziger Jahre) mehrfach im Jahr meist in Kronberg im Taunus zum Meinungsaustausch. Man verstand sich als Elite; neue Mitglieder wurden sorgfältig ausgewählt. Das verbindende Ziel war es, Einfluss auszuüben, und zwar informell: Innerhalb der evangelischen Kirche sollten die "linken" barthianischen Kräfte zurückgedrängt und im politischen Leben protestantischen Positionen mehr Gewicht verschafft werden. Besonderes Anliegen der Kronberger war es, durch den Aufbau eines Netzwerkes Protestanten auf wichtige Ämter in Staat und Gesellschaft zu bringen.

Trotz der hoch gesteckten Ziele einigte sich der Kronberger Kreis nur ein einziges Mal auf ein gemeinsames Vorgehen. Entsprechend seiner ursprünglichen Absicht brachte er Anfang 1952 die Denkschrift "Wehrbeitrag und christliches Gewissen" an die Öffentlichkeit, wobei die Autorenschaft allerdings verborgen blieb. Die, wie die Presse schrieb, Erklärung "führender evangelischer Theologen und Laien" fand viel Beachtung, Sauer nimmt sogar an, dass sie eine entscheidende Rolle im innerkirchlichen Kampf um die Wiederbewaffnung spielte.

Obgleich die Kronberger parteipolitisch unabhängig sein wollten, ist ihre Nähe zur CDU unübersehbar. Ein Sozialdemokrat gehörte niemals dazu, hingegen mit Ernst Lemmer, Gerhard Stoltenberg und Kai Uwe von Hassel zeitweise gleich drei christdemokratische Bundesminister. Im Evangelischen Arbeitskreis der CDU war man beinahe auf heimischem Terrain, trotz der anfänglichen Distanz zum langjährigen Vorsitzenden Gerhard Schröder, dem man eine zu schwache kirchliche Bindung vorwarf. Dass das Gründungsmotiv des Kronberger Kreises der Wunsch gewesen war, Adenauers Westintegrationskurs zu unterstützen, führte in den darauf folgenden Jahren nicht zu kritikloser Gefolgschaft. In ihren internen Aussprachen warfen die Kronberger Adenauer seine Konfrontationshaltung gegenüber der SPD vor, in der sie eine schwere Belastung für die junge westdeutsche Demokratie sahen. Einige von ihnen befürworteten bereits in den fünfziger Jahren eine große Koalition. Dem lag ein idealistisches Politikverständnis zugrunde. Die Kronberger, die von einem christlich geprägten Antitotalitarismus bestimmt waren, verlangten ein streng sachliches und problemorientiertes Handeln. Die Fähigkeit zum Ausgleich der verschiedenen Interessen war ihnen die höchste politische Tugend. Etwas sehr theorielastig bewertet Sauer dies als Beweis für eine "Anverwandlung" des "westlichen Ideologieangebots".

Dass auch die deutschlandpolitischen Vorstellungen der Kronberger flexibler waren als die Politik der Regierung, zeigte sich darin, dass viele von ihnen die 1965 veröffentlichte und damals sehr umstrittene Ostdenkschrift der EKD öffentlich unterstützten. Aber die sehr vorsichtig formulierte Ansicht Sauers, dass hier die Traditionslinien des lutherischen und des barthianischen Flügels wieder zusammengeflossen seien, erscheint nicht ganz stimmig. So ist die Aufteilung des deutschen Protestantismus in diese zwei Strömungen zu schematisch; es hat Barthianer unter den Lutheranern gegeben und Nichtlutheraner, die den Gedanken der Kronberger zuneigten. Und die Zustimmung zur Ostdenkschrift erfolgte aus weltanschaulich sehr verschiedener Begründung. Das beweist die weitere Entwicklung, die 20 Jahre später dazu führte, dass die in der Tradition der Bruderschaften stehende "Solidarische Kirche" behauptete, das "Menschenrechtsdenken" in sozialistischen Gesellschaften sei dem christlichen Menschenbild in vielem näher als die bürgerlich-liberale Anschauung von individueller Freiheit. Hier hat erst das Jahr 1989 zu einer Korrektur geführt.

ANNE MARTIN

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