Jüngsten Umfragen zufolge akzeptiert nur noch jeder dritte Ostdeutsche die westliche Ordnung, und jeder zweite gibt an, daß es ihm heute schlechter geht als erwartet. Dieser Unzufriedenheit spürt Daniela Dahn bei sich und anderen nach: erklärend, rechtfertigend, polemisierend. Mit verschärfter Angriffslust schildert sie aber auch die im wahrsten Wortsinn kopflose Reaktion vieler "Wessis" auf solch herausfordernden "Oststolz". Wer es wagt, Vergangenes zu verteidigen und die eigene Biographie nicht zu befreien, gilt als unverbesserliche ideologische "Altlast", womöglich sogar als Demokratie untauglich.
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 27.09.1996Ein banales Amokläufchen
"Die Summe der Repressionen ist immer gleich"
Daniela Dahn: Westwärts und nicht vergessen. Vom Unbehagen in der Einheit. Rowohlt Berlin Verlag, Berlin 1996. 208 Seiten, 32,- Mark.
Über Rüdesheim am Rhein steht, wütenden Blickes dem westlichen Erbfeind zugewandt, die Dame Germania. Die westdeutsche Nachkriegsgeneration hat in den sechziger Jahren im Zuge des deutsch-französischen Schüleraustauschs den Erbfeind in Form der hübschen Jugend aus wunderschönen französischen Dörfern und Städten kennengelernt und sich in fröhlicher Kollaboration über die Vorurteile der Vergangenheit hinweggesetzt. Praktisch konnte damals vielerorts erfahren werden, daß die Chemie unter Westeuropas jungen Leuten stimmte. Nachdem 1990 die Mehrheit der Ostdeutschen mit Blick nach Westen und historisch mit zwei Diktaturen im Rücken keinen dritten Weg mehr ertragen wollte und sich für die rasche Aufholjagd entschied, muß nun nachgeholt werden, was theoretisch schon als überholt galt. Was dabei den einen nicht rasch genug gehen kann, geht anderen viel zu schnell. Daniela Dahn, eine ehemalige DDR-Fernsehjournalistin mit Wendebiographie, reagiert mit "Osttrotz" auf die Westhetze. Was seinerzeit schon aus der DDR an Schlechtem westwärts tönte, hat sie auf Wiederverwertbarkeit geprüft. Das Ergebnis schlägt nun zu Buche.
Abgefertigt werden im Schnelldurchgang: Freya Klier, Heiner Geißler, Antonia Grunenberg, Klaus Kinkel, Hermann Lübbe, Elisabeth von Thadden, Rainer Eppelmann, Wolfgang Schäuble, Helmut Kohl, Rüdiger Safranski, Konrad Adenauer und die üblichen Verantwortlichen für das Schlechte in der Welt, insbesondere Industrie und Banken. Freundliche Worte finden sich zu PDS und Autonomen. Gegen die Sozialdemokratie spricht schon ihr Programm - "Kotau vor der Kapitallogik" - und erst recht ihre Geschichte: "Personenkult (Lassalle), Mord (Luxemburg/Liebknecht), imperiale Gelüste (Zustimmung zu den Kriegskrediten), Gewalt (Zörgiebels Blutmai) - totalitäre Ansätze auch in der SPD." Das Strickmuster ist bieder: Die "Einfachmoral Antikommunismus" soll entlarvt und der raffinierte "Gesamtplan" dahinter aufgedeckt werden. "Möge niemand behaupten, die Konkurrenz der Systeme habe sich im friedlichen, fairen Wettstreit entschieden. Daß sich hinter den Kulissen allerhand abspielte, das fürchtete oder hoffte man als DDR-Bürger, auf jeden Fall ahnte man es. Die Stasi wußte es natürlich."
Zum Zwecke der Aufklärung stellt die Autorin mitunter auch Fragen. Sollten etwa "Mehrheiten in all den Jahren ausschließlich gegen ihre Überzeugung gehandelt" haben? Könnte nicht doch ein "durchaus menschliches Harmoniebedürfnis zur Verinnerlichung gesellschaftlich vorgegebener Wege geführt" haben? Nicht auszudenken, was herauskäme, wenn man so in Hinblick auf die vorausgegangene NS-Diktatur fragen wollte. Doch dazu hat die Autorin keine Fragen, darüber weiß sie besonders gut Bescheid. Denn das eigentlich Gute an der DDR war für sie der "Antifaschismus", in dem sich die "Banalität des Guten" verpuppt hatte. Die banale Konsequenz dieser Banalität: "Der Antifaschismus ist dafür, daß er dagegen ist. Darüber hinaus braucht er kein Pro." Guten Tag, Herr Mielke, willkommen im Club.
Erfahrungen mit dem schlechten Westen ereilten die Autorin übrigens schon in frühen Mädchenjahren. Als ihre Mutter vor dem Mauerbau aus der Ehe in den Westen flüchtete und für eine Weile in Bayern Unterschlupf fand, mußte Klein Daniela dort eine Eingeborenenschule besuchen. Nicht nur, daß ihr westliche Lyrik nicht behagte - "Die Gedichte verstand ich nicht" -, christliche Mitschülerinnen verhielten sich gottgläubig und provinziell - "Sie schienen mir gänzlich ahnungslos" -, was freilich in der Provinz schon mal vorkommen soll.
Im Rückblick auf dieses Erlebnis knallt Frau Dahn heute mit der Peitsche. Jene unwissenden Zehnjährigen, die sie damals in Bayern angetroffen hatte, das sei heute die Generation, die "den ,Aufschwung Ost' kommandiert". Aus privater Oral History - wie neudeutsch die Wissenschaft vom Hörensagen heißt - ist dem Rezensenten ein gleichartiger systembedingter Fall aus Sachsen in der DDR bekannt. In einer dörflichen Schulklasse wurden dort Anfang der siebziger Jahre zwei Mädchen aus SED-Familien von ihren konfessionell gebundenen Mitschülern als Heidenkinder gehänselt und gelegentlich des Essenfassens aus der Schlange geschubst. Die Folge des Ereignisses: Die beiden Kaderkinder hegten bald den Wunsch, am Christenunterricht teilzunehmen.
Da Frau Dahn schon als Kind klüger als andere war, ging die Sache bei ihr umgekehrt aus, und es befiel sie Erleichterung, als im Sommer 1961, eine Woche nach ihrer Rückkehr in die DDR, der Mauerbau die westliche Provinz auf Nimmerwiedersehen entrückte. Fortan durfte sie statt eines Gebetes dem Unterrichtsbeginn wieder einen Fahnenappell und den Gruß der Jungen Pioniere vorausschicken. Ein aus Reih und Glied geschmettertes "Immer bereit" macht für Tatmenschen auch mehr her als ein bayerisches "Grüß Gott".
Theorie, auf die Daniela Dahn in ihrem Buch großen Wert legt, beruht übrigens nach eigener Bekundung unter anderem auf der Kenntnis von viereinhalb Bänden der Marx-Engels-Ausgabe. Das schlägt unter anderem so zu Buche: "Geld ist doch materialisiertes Denken", nur "daß Geld nicht vernünftig denkt". Zum Glück, möchte man hinzufügen, sonst würde sich niemand diese tolle Marx-Interpretation leisten können. Auch über Engels steht etwas in dem Buch; über Lenin sogar eine kleine Neuigkeit, die Frau Dahn nicht als Journalistikstudentin im roten Kloster gelernt haben kann. Lenin "stand der Moskauer Prawda nahe", weiß die Autorin. Nun soll ihr beileibe kein Vorwurf daraus gemacht werden, daß sie statt Marx/Engels/Lenin zu DDR-Zeiten lieber Erich Kästner und Heinrich Böll schmökerte oder Günter Grass, der schon früh vorgeführt hat, wie mit Trotz und Geschrei in der Geschichte passabel Figur zu machen ist. Wer sich fragt, warum eine ostdeutsche Schriftstellerin im Jahr 1996 den Drang verspürt, sich für Lenin in eine Zitatenschlacht zu schmeißen, bekommt eine Antwort, die Bände spricht: "Nun fühlte ich mich Lenin nie so verbunden wie speziell Engels oder auch Marx, aber er war mir doch als dialektischer Denker begegnet." An der Ehrenrettung Lenins liege ihr eigentlich wenig, "es ging vielmehr um mich und nebenbei um etwa dreißig Millionen osteuropäische Linke, denen nun vorgeworfen wird, sie hätten ihre Sympathien an ein paar Hohlköpfe verschwendet".
Am Ende wird, wie es sich gehört, ein Schlußstrich gezogen und abgerechnet: "Mit Blick auf die von mir erlebte poststalinistische DDR und die finanzstalinistische BRD scheint mir: Die Summe der Repressionen ist immer gleich." Damit ist zwar nicht annähernd die Summe des Unsinns aus diesem Buch gezogen, aber allen Interessierten offenbar, was in diesem Buch auf sie zukommt. Es ist allen zu empfehlen, die an der Bewußtseinsspaltung in Deutschland interessiert sind.
Alle andern geh'n besser wandern und besuchen einmal das Niederwalddenkmal am schönen Rhein oder die Erbfeinde in der Provence. Getrost kann aber auch von West nach Ost in den Spreewald, durch Dresden, Usedom und das östliche Berlin gelaufen werden, so aufgeregt oder verdrossen wie in dem besprochenen Buch geht es im Leben nämlich nicht zu.
JOCHEN STAADT
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
"Die Summe der Repressionen ist immer gleich"
Daniela Dahn: Westwärts und nicht vergessen. Vom Unbehagen in der Einheit. Rowohlt Berlin Verlag, Berlin 1996. 208 Seiten, 32,- Mark.
Über Rüdesheim am Rhein steht, wütenden Blickes dem westlichen Erbfeind zugewandt, die Dame Germania. Die westdeutsche Nachkriegsgeneration hat in den sechziger Jahren im Zuge des deutsch-französischen Schüleraustauschs den Erbfeind in Form der hübschen Jugend aus wunderschönen französischen Dörfern und Städten kennengelernt und sich in fröhlicher Kollaboration über die Vorurteile der Vergangenheit hinweggesetzt. Praktisch konnte damals vielerorts erfahren werden, daß die Chemie unter Westeuropas jungen Leuten stimmte. Nachdem 1990 die Mehrheit der Ostdeutschen mit Blick nach Westen und historisch mit zwei Diktaturen im Rücken keinen dritten Weg mehr ertragen wollte und sich für die rasche Aufholjagd entschied, muß nun nachgeholt werden, was theoretisch schon als überholt galt. Was dabei den einen nicht rasch genug gehen kann, geht anderen viel zu schnell. Daniela Dahn, eine ehemalige DDR-Fernsehjournalistin mit Wendebiographie, reagiert mit "Osttrotz" auf die Westhetze. Was seinerzeit schon aus der DDR an Schlechtem westwärts tönte, hat sie auf Wiederverwertbarkeit geprüft. Das Ergebnis schlägt nun zu Buche.
Abgefertigt werden im Schnelldurchgang: Freya Klier, Heiner Geißler, Antonia Grunenberg, Klaus Kinkel, Hermann Lübbe, Elisabeth von Thadden, Rainer Eppelmann, Wolfgang Schäuble, Helmut Kohl, Rüdiger Safranski, Konrad Adenauer und die üblichen Verantwortlichen für das Schlechte in der Welt, insbesondere Industrie und Banken. Freundliche Worte finden sich zu PDS und Autonomen. Gegen die Sozialdemokratie spricht schon ihr Programm - "Kotau vor der Kapitallogik" - und erst recht ihre Geschichte: "Personenkult (Lassalle), Mord (Luxemburg/Liebknecht), imperiale Gelüste (Zustimmung zu den Kriegskrediten), Gewalt (Zörgiebels Blutmai) - totalitäre Ansätze auch in der SPD." Das Strickmuster ist bieder: Die "Einfachmoral Antikommunismus" soll entlarvt und der raffinierte "Gesamtplan" dahinter aufgedeckt werden. "Möge niemand behaupten, die Konkurrenz der Systeme habe sich im friedlichen, fairen Wettstreit entschieden. Daß sich hinter den Kulissen allerhand abspielte, das fürchtete oder hoffte man als DDR-Bürger, auf jeden Fall ahnte man es. Die Stasi wußte es natürlich."
Zum Zwecke der Aufklärung stellt die Autorin mitunter auch Fragen. Sollten etwa "Mehrheiten in all den Jahren ausschließlich gegen ihre Überzeugung gehandelt" haben? Könnte nicht doch ein "durchaus menschliches Harmoniebedürfnis zur Verinnerlichung gesellschaftlich vorgegebener Wege geführt" haben? Nicht auszudenken, was herauskäme, wenn man so in Hinblick auf die vorausgegangene NS-Diktatur fragen wollte. Doch dazu hat die Autorin keine Fragen, darüber weiß sie besonders gut Bescheid. Denn das eigentlich Gute an der DDR war für sie der "Antifaschismus", in dem sich die "Banalität des Guten" verpuppt hatte. Die banale Konsequenz dieser Banalität: "Der Antifaschismus ist dafür, daß er dagegen ist. Darüber hinaus braucht er kein Pro." Guten Tag, Herr Mielke, willkommen im Club.
Erfahrungen mit dem schlechten Westen ereilten die Autorin übrigens schon in frühen Mädchenjahren. Als ihre Mutter vor dem Mauerbau aus der Ehe in den Westen flüchtete und für eine Weile in Bayern Unterschlupf fand, mußte Klein Daniela dort eine Eingeborenenschule besuchen. Nicht nur, daß ihr westliche Lyrik nicht behagte - "Die Gedichte verstand ich nicht" -, christliche Mitschülerinnen verhielten sich gottgläubig und provinziell - "Sie schienen mir gänzlich ahnungslos" -, was freilich in der Provinz schon mal vorkommen soll.
Im Rückblick auf dieses Erlebnis knallt Frau Dahn heute mit der Peitsche. Jene unwissenden Zehnjährigen, die sie damals in Bayern angetroffen hatte, das sei heute die Generation, die "den ,Aufschwung Ost' kommandiert". Aus privater Oral History - wie neudeutsch die Wissenschaft vom Hörensagen heißt - ist dem Rezensenten ein gleichartiger systembedingter Fall aus Sachsen in der DDR bekannt. In einer dörflichen Schulklasse wurden dort Anfang der siebziger Jahre zwei Mädchen aus SED-Familien von ihren konfessionell gebundenen Mitschülern als Heidenkinder gehänselt und gelegentlich des Essenfassens aus der Schlange geschubst. Die Folge des Ereignisses: Die beiden Kaderkinder hegten bald den Wunsch, am Christenunterricht teilzunehmen.
Da Frau Dahn schon als Kind klüger als andere war, ging die Sache bei ihr umgekehrt aus, und es befiel sie Erleichterung, als im Sommer 1961, eine Woche nach ihrer Rückkehr in die DDR, der Mauerbau die westliche Provinz auf Nimmerwiedersehen entrückte. Fortan durfte sie statt eines Gebetes dem Unterrichtsbeginn wieder einen Fahnenappell und den Gruß der Jungen Pioniere vorausschicken. Ein aus Reih und Glied geschmettertes "Immer bereit" macht für Tatmenschen auch mehr her als ein bayerisches "Grüß Gott".
Theorie, auf die Daniela Dahn in ihrem Buch großen Wert legt, beruht übrigens nach eigener Bekundung unter anderem auf der Kenntnis von viereinhalb Bänden der Marx-Engels-Ausgabe. Das schlägt unter anderem so zu Buche: "Geld ist doch materialisiertes Denken", nur "daß Geld nicht vernünftig denkt". Zum Glück, möchte man hinzufügen, sonst würde sich niemand diese tolle Marx-Interpretation leisten können. Auch über Engels steht etwas in dem Buch; über Lenin sogar eine kleine Neuigkeit, die Frau Dahn nicht als Journalistikstudentin im roten Kloster gelernt haben kann. Lenin "stand der Moskauer Prawda nahe", weiß die Autorin. Nun soll ihr beileibe kein Vorwurf daraus gemacht werden, daß sie statt Marx/Engels/Lenin zu DDR-Zeiten lieber Erich Kästner und Heinrich Böll schmökerte oder Günter Grass, der schon früh vorgeführt hat, wie mit Trotz und Geschrei in der Geschichte passabel Figur zu machen ist. Wer sich fragt, warum eine ostdeutsche Schriftstellerin im Jahr 1996 den Drang verspürt, sich für Lenin in eine Zitatenschlacht zu schmeißen, bekommt eine Antwort, die Bände spricht: "Nun fühlte ich mich Lenin nie so verbunden wie speziell Engels oder auch Marx, aber er war mir doch als dialektischer Denker begegnet." An der Ehrenrettung Lenins liege ihr eigentlich wenig, "es ging vielmehr um mich und nebenbei um etwa dreißig Millionen osteuropäische Linke, denen nun vorgeworfen wird, sie hätten ihre Sympathien an ein paar Hohlköpfe verschwendet".
Am Ende wird, wie es sich gehört, ein Schlußstrich gezogen und abgerechnet: "Mit Blick auf die von mir erlebte poststalinistische DDR und die finanzstalinistische BRD scheint mir: Die Summe der Repressionen ist immer gleich." Damit ist zwar nicht annähernd die Summe des Unsinns aus diesem Buch gezogen, aber allen Interessierten offenbar, was in diesem Buch auf sie zukommt. Es ist allen zu empfehlen, die an der Bewußtseinsspaltung in Deutschland interessiert sind.
Alle andern geh'n besser wandern und besuchen einmal das Niederwalddenkmal am schönen Rhein oder die Erbfeinde in der Provence. Getrost kann aber auch von West nach Ost in den Spreewald, durch Dresden, Usedom und das östliche Berlin gelaufen werden, so aufgeregt oder verdrossen wie in dem besprochenen Buch geht es im Leben nämlich nicht zu.
JOCHEN STAADT
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