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Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 14.11.2000

Wir traten ein paar Nonnen aus dem Weg
Der Verlust der Unschuld war dabei wieder unvermeidlich: Raymond Carvers Short stories / Von Marlene Streeruwitz

Die literarische Kategorie Short story wird in Raymond Carvers  "Wovon wir reden, wenn wir von Liebe reden" aufs allergenaueste erfüllt. Jede Short story ist eine kurze, der Anekdote oder Skizze verwandte Erzählung. Jede seiner Short stories ist geradlinig entwickelt. Ist hart gefügt. Punktuell-ausschnitthaft gedrängt. In jeder ist ein Geschehen schlaglichtartig der selbstverständlichen Alltäglichkeit enthoben. Und in jeder sinkt nach einem unerwarteten, unausweichlichen pointierten Schluß das Geschehen in seinen gewohnten Rahmen zurück. So steht es im Handbuch der literarischen Fachbegriffe von Otto F. Best. Und genauso baut Raymond Carver seine Short stories.

Jeder und jede, die in Amerika schreiben will, muß mit Short stories beginnen. Ohne diese Vorarbeit nimmt die Kritik nichts zur Kenntnis. Man oder frau muß sich den Einstieg in die Literatur mit mindestens einem Band Short stories verdienen. Und weil viele mit dem Schreiben beginnen wollen und den Einstieg in die Literatur schaffen wollen, werden sehr viele Short stories geschrieben. Unter dem Schild "short stories" stehen in den Filialen von "Border's" oder "Barnes & Noble" sehr viele Bücher. Zuerst die Kurzgeschichte schreiben und dann die Nachfolge von Faulkner oder Carson McCullers antreten. So ist das vorgesehen. So funktioniert das aber nicht. Und das liegt im Genre der Short story selbst begründet.

Die amerikanische Literaturszene ist ununterbrochen dabei, die nächste Generation literarischer Genies zu entdecken, und zwingt diese zu entdeckenden Genies gleichzeitig, sich mit Short stories zu ruinieren. Ohne diesen kleinen Band Short stories gibt es ja keine Zurkenntnisnahme. Die unzähligen Kurse zum Schreibenlernen forcieren die Short story noch weiter in dieser mechanistischen Vorstellung. Wenn man oder frau eine kleine Handlungseinheit erzählen könnte, dann könnte man oder frau das ausweiten auf zwei kleine Handlungseinheiten. Und dann auf drei. Und irgendwann ist dann der Roman da. Diese Schreibmode ist internationalisiert. Auch die Schreibkurse deutscher Volkshochschulen gehen so vor.

Es hat natürlich auch etwas Verschwenderisches, das Material eines Romans und eines Dramas in neun sehr groß bedruckte Seiten zu stopfen. In die Story "Sag den Frauen, daß wir wegfahren" schreibt Carver die Geschichte zweier Männer von Beginn der High School an. Es werden Frauen getauscht. Es wird geheiratet. Kinder werden geboren. Häuser gebaut. Autos gekauft.  Es werden fünf Partien Billard gespielt. Sechs Bier gesoffen. Eine Autofahrt nimmt vier der neun Seiten ein. Der Mord an zwei jungen Radfahrerinnen braucht vier Zeilen. Es handelt sich bei diesem Mord um den unerwarteten, unausweichlichen pointierten Schluß. Der gute alte Bekannte, der allwissende Erzähler, kann den Doppelmord in diese vier Zeilen pressen.

Es hat etwas Trainiertes, dieser unerwartete,  unausweichliche pointierte Schluß. Als spränge der allwissende Erzähler durch Zirkusreifen. Im Fall von "Wovon wir reden, wenn wir von Liebe reden" macht Carver das siebzehnmal. Siebzehnmal bekommt man und frau diesen kleinen Leckerbissen serviert. Nicht immer ist es ein Doppelmord. Einmal beginnt ein Mann zu handarbeiten. Der Mann stickt als unerwarteter, unausweichlich pointierter Schluß. Ein anderes Mal muß ein Ehepaar übereinander herfallen. Oder es wird eine neue Flasche aufgemacht und das Telefon klingeln gelassen.

Carvers Short stories handeln wie alle Short stories vom amerikanischen Grundmotiv. Der Verlust der Unschuld. Die Beendigung des Zustands der Unschuld  wird in der Short story als dramatischer Augenblick konstruiert. Die  erzählte Figur gewinnt einen Augenblick Autonomie in der Unmöglichkeit einer anderen Entscheidung. Der allwissende Autor stellt die Figur an den Kreuzweg. Siebzehnmal steht der Leser und die Leserin dabei, wie der allwissende Erzähler die erzählte Figur in die falsche Richtung schickt. Ja, gehen lassen muß. Denn würde Jerry den Stein nicht nehmen und die zwei Mädchen erschlagen: Es gäbe keine Short story. Die Form dieses unerwarteten, unausweichlichen pointierten Endes erzwingt den Gang in die falsche Richtung. In der Entscheidung für die Schuld und gegen die Unschuld wird Freiheit behauptet. Entscheidungsfreiheit. Auf der literarischen Ebene ist dieser Fall in die Schuld unausweichlich durch die Form bestimmt. Auf der Deutungsebene hieße das Verbleiben in der Unschuld, nichts vom Sterben wissen zu können. Die Transzendenz dieses Augenblicks wird durch die Konstruktion Short story mit der Möglichkeit von Bedeutung aufgeladen. Und gleich danach der Rückfall in die durch diese Konstruktion noch bedeutungslosere Umgebung und Zeit. Und Hierarchisierung dadurch. Abwertung des Alltags. Des Normalen. Des Banalen.

Das sind Heldenkonstruktionen, die im kultureingeschriebenen Subskript des einsam, rastlos reisenden Amerikaners funktionieren. Die Freiheit des unwissentlich männlichen Helden wird darin durch den Fall in eine vorgetäuscht selbstgeschaffene Kontingenz hergestellt. Manchmal entscheidet sich dieser amerikanische Held, dieses Skript konsequent als Massenmörder zu entziffern. Das sind dann jeweils wirklich unerwartet unausweichlich pointierte Schlüsse. Form generiert Inhalt. In diesem Fall eben Short stories. Raymond Carvers 1981 veröffentlichte Short stories sind immer nur noch ein beat aus einem Kerouac-Roman. Durch die mittlerweile allen Schreibenden aufgezwungene Leitform der Short story ist die Epik zerstört. Fragmentiert in diese dramatischen Leerstellen des unerwartet, unausweichlich pointierten Schlusses. So hat sich die Literatur einer Kultur über eine didaktische Regelung selbst beschränkt. Es wird ordentlich konstruiert. Es wird ordentlich geschrieben. Und erstaunlich wenige Autoren und Autorinnen schaffen es, dieser Selbstknebelung zu entkommen. Die noch vorhandenen Reste von feuilletonistischer Literaturkritik und Literaturbetrieb tun alles, dieses Entkommen zu verhindern.

Warum nun diese fragwürdige literarische Spielerei im Deutschen gehypt werden soll, ist nicht zu verstehen. Es sei denn, wir sähen uns das unwissentlich Männliche an dieser Konstruktion genauer an. Der in der Short story fast immer beschädigte Mann kann als Ausgangspunkt einer Erneuerung benützt werden. Der Weg führte dann von der klassischen Moderne der Short story in die vormoderne Konstruktion des unbeschädigten Helden. Der Ruf nach dem "guten Erzählen", der sich an diese Veröffentlichung anschließt, ist der Ruf nach diesem Helden und nach der Knebelung durch die formalen Kriterien, die wieder literarisches Gesetz werden sollten. Urteilsmöglichkeit in der Hand der Kritik. Politik halt. Wenn es um Ordnungmachen in der deutschen Literatur geht, dann sollte das gesagt und sollten nicht Raymond Carvers Short stories vorgeschützt werden. Dies sind gute Short stories. Wie unzählige andere auch. Sie erfüllen diese formalen Ansprüche.

Es hilft dem Lesen allerdings nicht, daß der Alkoholismus des Autors und seine Überwindung mittels einer neuen "ebenso intensiven glücklichen Arbeits-und Liebesbeziehung" im Klappentext berichtet wird. Auch das fördert den Rückschritt in vormoderne biographische Lesarten. Ist das Verlagsprogramm? Dieser Import englischsprachiger Literaturversatzstücke, die dann als "richtige" Literatur verkauft werden? Soll eine "ordentliche" Literatur befördert werden? Zur Förderung einer Intoleranz gegenüber den letzten Resten formaler Versuche in der deutschen Literatur? Weil alle diese Versuche, ja alle Strömungen von Moderne und Postmoderne gegen den vormodernen Helden in dieser "ordentlichen" Literatur gerichtet waren (und das höchstens in unwissentlichem Feminismus)?

Aber: Die Transplantation Carvers scheitert zuallererst an der Übersetzung. Und vielleicht ist diese so spezifisch amerikanische Literaturform dann eben nur auf amerikanisch zu verstehen. Spätestens, wenn auf Seite 54 von 175 Seiten der Satz "Wir traten ein paar Nonnen aus dem Weg, die zum Einchecken hasteten" zu lesen ist, stellt sich Unbehagen gegenüber dem Unternehmen Raymond Carver auf deutsch ein.

Ich ging noch um zehn Uhr in der Nacht die Walton Street in Chicago hinauf und kaufte bei Border's drei Bände Carver Short stories im Original. Ich las sie auf einmal durch. Ich werde jetzt lange keine Short stories mehr lesen. Und ich werde jedem und jeder, die zu schreiben beginnen wollen, weiter anraten, Tagebuch zu schreiben und damit den Zugriff auf epische Erzähleinheiten zu behalten und nicht in der Fragmentierung der Short story hängenzubleiben. Und nicht an der Philosophie des wichtigeren Augenblicks in die Unterwerfung von Regeln der Vormoderne zurückzufallen. Mit allen politischen Bedeutungen, die das bedingt.  

Raymond Carver: "Wovon wir reden, wenn wir von Liebe reden". Erzählungen. Aus dem Amerikanischen übersetzt von Helmut Frielinghaus. Mit einem Vorwort von Ingo Schulze. Berlin Verlag, Berlin 2000. 175 S., geb., 39,80 DM.

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