Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 05.11.2002Es geht hinab, hinab, hinab
Bernard Lewis überprüft den Islam / Von Udo Steinbach
Der englische Originaltitel gibt das Anliegen des Autors genauer wieder als seine deutsche Umschreibung: "What Went Wrong?" Auch am Schluß des Buches freilich bleibt offen, was denn mit der islamischen Welt "falsch gelaufen" ist. Dabei hat der 11. September 2001 dramatisch deutlich gemacht, daß von der Antwort darauf die Zukunft der islamischen Welt und ihrer Beziehungen zu einem "Westen" abhängen, der auch im einundzwanzigsten Jahrhundert in Politik, Wirtschaft und Kultur die Vorgaben machen wird, mit denen sich andere Kulturen und Zivilisationen auseinanderzusetzen haben werden. Nicht zu Unrecht haben viele Beobachter den 11. September als einen "Befreiungsschlag" gedeutet, die Verwundbarkeit dieses als erdrückend überlegen empfundenen Westens zu manifestieren. Eine Antwort auf die Frage nach den Ursachen des Zurückbleibens der vom Islam geprägten Welt wäre mithin ein wichtiger Teil des vielbeschworenen "Dialogs der Kulturen".
Islamwissenschaftler werden nicht müde, auf die enge Verbindung zwischen Religion und gesellschaftlicher Verfaßtheit im Islam zu verweisen: "Ihr seid die beste Gemeinde", heißt es in Sure 3 des Korans, Vers 110. Damit ist dem Muslim eine hohe Verpflichtung auferlegt, die Vollkommenheit des göttlichen Wortes im Zustand der real existierenden Gemeinde aufscheinen zu lassen.
In der Gegenwart aber ist diese Gemeinde um Lichtjahre von dem offenbarten Anspruch entfernt; und die Geschichte der vergangenen zweieinhalb Jahrhunderte ist die Geschichte eines Abstiegs gegenüber einem nahezu unaufhaltsam aufsteigenden Westen gewesen. In einem Beitrag in der Tageszeitung "International Herald Tribune" vom 30. Juli dieses Jahres hat der malaysische Ministerpräsident Mahathir bin Mohamad, selbst Regierungschef eines relativ erfolgreichen muslimischen Landes, festgestellt, "that the Muslim world is at its lowest ebb, and is probably continuing to decline".
Bernard Lewis, Altmeister der angelsächsischen Islamwissenschaft, malt ein facettenreiches Bild des sich über Jahrhunderte vergrößernden Abstands zwischen dem islamischen Raum, der doch in den ersten Jahrhunderten nach dem Eintritt des Islams in die Geschichte dem europäischen Westen weit überlegen war, und einem Europa, das mit den großen Entdeckungen auf dem Globus seine innere Dynamik offenbarte. Daß sich die islamische Welt, politisch über weite Epochen im Osmanischen Reich organisiert, den Errungenschaften der Politik, Wissenschaft und Technik nur zögerlich und weithin erst im neunzehnten Jahrhundert öffnete, macht den Leser nachdenklich. Der Feststellung des Autors, daß dies mit der Überzeugung der Muslime zu tun habe, daß aus der Welt der Ungläubigen nichts kommen könne, was für einen Muslim von Belang wäre, kann nur zugestimmt werden. Schon der spätere preußische Generalstabschef Helmuth von Moltke hat in seinem Bericht über seine Zeit als Militärberater in Konstantinopel in der zweiten Hälfte der dreißiger Jahre des neunzehnten Jahrhunderts die Feststellung machen müssen, daß "die Gabe verdächtigt werde, sobald sie aus der Hand eines Christen" komme.
Aufs Ganze gesehen weist Lewis' Buch allerdings zwei Schwächen auf. Die eine hängt mit der Entstehungsgeschichte zusammen: Es handelt sich um eine Kompilation aus mehreren unabhängig voneinander verfaßten Manuskripten. So weist das Buch nicht nur zahlreiche Redundanzen auf; auch verliert sich der Autor in Einzelaspekte, die es gelegentlich schwermachen, den Gesamtzusammenhang im Auge zu behalten. So zum Beispiel, wenn er auf die Problematik der Sklaverei im islamischen Raum oder auf die Rezeption der mechanischen Uhr eingeht. Zum zweiten aber - und das ist gravierender - bleibt in dem weitgehend historischen Bericht die im Titel gestellte Frage letztlich unbeantwortet. Daß etwas schiefgegangen ist, wird hinlänglich dargestellt. Nur eben: Was sind die Gründe dafür? Der Hinweis im Schlußwort, daß es immer herrschende Kulturen gegeben habe, ist pauschal und bleibt an der Oberfläche.
Eine Milliarde Muslime sind auch im einundzwanzigsten Jahrhundert ein politischer und kultureller Tatbestand; sie suchen einen Platz in der Welt von heute. Wie gehen wir miteinander um, um bei ihnen für die unbestreitbaren Errungenschaften des Westens in den vergangenen Jahrhunderten Gehör zu finden? Vielleicht liegt ja auch im Verhalten des Westens etwas, was es vielen Muslimen schwermacht, sich auf ihn einzulassen. Die Geschichte des europäischen Imperialismus leichtfertig auszublenden, wie Lewis es tut, greift zu kurz. Die Frage, was falschlief, muß auch mit Blick auf den Westen selbstkritisch gestellt werden.
Bernard Lewis: "Der Untergang des Morgenlandes". Warum die islamische Welt ihre Vormacht verlor. Aus dem Englischen von Friedel Schröder und Martina Kluxen-Schröder. Lübbe Verlag, Bergisch Gladbach 2002. 254 S., 15 Abb., geb., 19,90 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Bernard Lewis überprüft den Islam / Von Udo Steinbach
Der englische Originaltitel gibt das Anliegen des Autors genauer wieder als seine deutsche Umschreibung: "What Went Wrong?" Auch am Schluß des Buches freilich bleibt offen, was denn mit der islamischen Welt "falsch gelaufen" ist. Dabei hat der 11. September 2001 dramatisch deutlich gemacht, daß von der Antwort darauf die Zukunft der islamischen Welt und ihrer Beziehungen zu einem "Westen" abhängen, der auch im einundzwanzigsten Jahrhundert in Politik, Wirtschaft und Kultur die Vorgaben machen wird, mit denen sich andere Kulturen und Zivilisationen auseinanderzusetzen haben werden. Nicht zu Unrecht haben viele Beobachter den 11. September als einen "Befreiungsschlag" gedeutet, die Verwundbarkeit dieses als erdrückend überlegen empfundenen Westens zu manifestieren. Eine Antwort auf die Frage nach den Ursachen des Zurückbleibens der vom Islam geprägten Welt wäre mithin ein wichtiger Teil des vielbeschworenen "Dialogs der Kulturen".
Islamwissenschaftler werden nicht müde, auf die enge Verbindung zwischen Religion und gesellschaftlicher Verfaßtheit im Islam zu verweisen: "Ihr seid die beste Gemeinde", heißt es in Sure 3 des Korans, Vers 110. Damit ist dem Muslim eine hohe Verpflichtung auferlegt, die Vollkommenheit des göttlichen Wortes im Zustand der real existierenden Gemeinde aufscheinen zu lassen.
In der Gegenwart aber ist diese Gemeinde um Lichtjahre von dem offenbarten Anspruch entfernt; und die Geschichte der vergangenen zweieinhalb Jahrhunderte ist die Geschichte eines Abstiegs gegenüber einem nahezu unaufhaltsam aufsteigenden Westen gewesen. In einem Beitrag in der Tageszeitung "International Herald Tribune" vom 30. Juli dieses Jahres hat der malaysische Ministerpräsident Mahathir bin Mohamad, selbst Regierungschef eines relativ erfolgreichen muslimischen Landes, festgestellt, "that the Muslim world is at its lowest ebb, and is probably continuing to decline".
Bernard Lewis, Altmeister der angelsächsischen Islamwissenschaft, malt ein facettenreiches Bild des sich über Jahrhunderte vergrößernden Abstands zwischen dem islamischen Raum, der doch in den ersten Jahrhunderten nach dem Eintritt des Islams in die Geschichte dem europäischen Westen weit überlegen war, und einem Europa, das mit den großen Entdeckungen auf dem Globus seine innere Dynamik offenbarte. Daß sich die islamische Welt, politisch über weite Epochen im Osmanischen Reich organisiert, den Errungenschaften der Politik, Wissenschaft und Technik nur zögerlich und weithin erst im neunzehnten Jahrhundert öffnete, macht den Leser nachdenklich. Der Feststellung des Autors, daß dies mit der Überzeugung der Muslime zu tun habe, daß aus der Welt der Ungläubigen nichts kommen könne, was für einen Muslim von Belang wäre, kann nur zugestimmt werden. Schon der spätere preußische Generalstabschef Helmuth von Moltke hat in seinem Bericht über seine Zeit als Militärberater in Konstantinopel in der zweiten Hälfte der dreißiger Jahre des neunzehnten Jahrhunderts die Feststellung machen müssen, daß "die Gabe verdächtigt werde, sobald sie aus der Hand eines Christen" komme.
Aufs Ganze gesehen weist Lewis' Buch allerdings zwei Schwächen auf. Die eine hängt mit der Entstehungsgeschichte zusammen: Es handelt sich um eine Kompilation aus mehreren unabhängig voneinander verfaßten Manuskripten. So weist das Buch nicht nur zahlreiche Redundanzen auf; auch verliert sich der Autor in Einzelaspekte, die es gelegentlich schwermachen, den Gesamtzusammenhang im Auge zu behalten. So zum Beispiel, wenn er auf die Problematik der Sklaverei im islamischen Raum oder auf die Rezeption der mechanischen Uhr eingeht. Zum zweiten aber - und das ist gravierender - bleibt in dem weitgehend historischen Bericht die im Titel gestellte Frage letztlich unbeantwortet. Daß etwas schiefgegangen ist, wird hinlänglich dargestellt. Nur eben: Was sind die Gründe dafür? Der Hinweis im Schlußwort, daß es immer herrschende Kulturen gegeben habe, ist pauschal und bleibt an der Oberfläche.
Eine Milliarde Muslime sind auch im einundzwanzigsten Jahrhundert ein politischer und kultureller Tatbestand; sie suchen einen Platz in der Welt von heute. Wie gehen wir miteinander um, um bei ihnen für die unbestreitbaren Errungenschaften des Westens in den vergangenen Jahrhunderten Gehör zu finden? Vielleicht liegt ja auch im Verhalten des Westens etwas, was es vielen Muslimen schwermacht, sich auf ihn einzulassen. Die Geschichte des europäischen Imperialismus leichtfertig auszublenden, wie Lewis es tut, greift zu kurz. Die Frage, was falschlief, muß auch mit Blick auf den Westen selbstkritisch gestellt werden.
Bernard Lewis: "Der Untergang des Morgenlandes". Warum die islamische Welt ihre Vormacht verlor. Aus dem Englischen von Friedel Schröder und Martina Kluxen-Schröder. Lübbe Verlag, Bergisch Gladbach 2002. 254 S., 15 Abb., geb., 19,90 [Euro].
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