In 1972, at the age of 26, Gilles Peress photographed the British Army's massacre of Irish civilians on Bloody Sunday. In the 1980s he returned to the North of Ireland, intent on testing the limits of visual language and perception to understand the intractable conflict. Whatever You Say, Say Nothing, a work of "documentary fiction," organizes a decade of photographs across 22 fictional "days" to articulate the helicoidal structure of history during a conflict that seemed like it would never end-where each day became a repetition of every other day like that day: days of violence, of marching, of riots, of unemployment, of mourning, and also of "craic" where you try to forget your condition. Held back for 30 years and now eagerly anticipated, this ambitious publication takes the language of documentary photography to its extremes, then challenges the reader to stop and resolve the puzzle of meaning for him or herself.
Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
Rezensent Alex Rühle freut sich, dass das Riesenwerk des Fotografen Gilles Peress über den Bloody Sunday in Derry 1972 nach langer Arbeit daran und langer Pause nun doch noch herauskommt. Der ein oder andere britische Politiker sollte einen Blick hineinwerfen, meint Rühle, und endlich die Aufarbeitung der brutalen Geschichte anzustoßen. Allerdings wird mehr als ein Blick nötig sein, gibt Rühle zu verstehen. Dem Betrachter bietet sich keine stringente Bildererzählung oder Fotoreportage, so Rühle. Stattdessen versucht Peress offenbar einen Kontext zu schaffen zu den bekannten Ereignissen. Gewalt, Armut, Arbeitslosigkeit, Trauer, Gedenken spiegeln sich in steinharten Gesichtern, erklärt Rühle. Ein "großer Wurf", meint er, irgendwo zwischen Kunst, Fotojournalismus und Geschichtsschreibung.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 03.08.2021Die Zeit vergeht
mit Gewalt
Gilles Peress’ monumentale Fotodokumentation
des Nordirlandkonflikts
VON ALEX RÜHLE
Man betritt dieses riesige Werk wie eine Landschaft, bukolisch ruhige Schwarz-Weiß-Aufnahmen: ein Vogelschwarm. Feldwege, von Hecken gesäumt. Eine Buche. Plötzlich menschenleere Straßen, ein ausgebranntes Auto vor eingeschmissenen Fenstern, Szenen wie aus einem Krieg. Und erst dann, nach 16 Doppelseiten, der Titel: „Whatever you say, say nothing. A documentary fiction“.
Gilles Peress lässt sich Zeit, von Anfang an. Und macht hier schon klar, dass das keine Fotoreportage wird und keine klare Erzählung, gibt es doch keinerlei Erklärungen zu den ungerahmten, großformatigen Aufnahmen. Man muss also zunächst tiefer hineinlaufen in diesen enormen Bilderberg: 1960 Seiten, 1295 Bilder, 17 Kilo, zwei Bände. Strukturiert ist das Ganze in 22 Kapitel, die behaupten, je einen Tag abzubilden, was aber kaum sein kann, Schneelandschaften wechseln ab mit T-Shirt-Szenen, eine nächtliche Militärpatrouille mit einer Frau, die auf einem Treppenabsatz Suppe isst. Vermummte Jungs, die wegrennen, man weiß nicht, ob aus Spaß. Und dann, nach 150 Seiten, erstmals die nackte Gewalt: „Days of Struggle“, eine Straßendemonstration, Barrikaden, ein toter Mann, das rechte Auge hängt ihm aus dem Kopf, unter ihm eine schwarz glänzende Lache, die bei jeder Aufnahme größer wird.
Gilles Peress wurde 1972 in Nordirland zufällig Augenzeuge des Bloody Sunday, als britische Fallschirmjäger in Derry aus heiterem Himmel auf unbewaffnete Demonstranten schossen. 13 Tote, viele Schwerverletzte. Die meisten Opfer wurden von hinten getroffen, als sie davonliefen. Die britischen Soldaten steckten den getöteten Demonstranten Nagelbomben in die Taschen, um sie als IRA-Männer zu denunzieren. Erst 2010 entschuldigte sich die britische Regierung für dieses Massaker, das die Gewalt über Jahre hin eskalieren lassen sollte: Zwischen den frühen Siebzigerjahren und dem Karfreitagsabkommen 1998 starben mehr als 3500 Menschen, Zehntausende wurden verletzt. Die Londoner Regierung nannte das Ganze aber stets nur „troubles“ und euphemisierte Folter als „acceptable levels of violence“. Peress’ Bilder von jenem 31. Januar 1972 machten der Weltöffentlichkeit erstmals klar, was im nordirischen Hinterhof des Königreichs in Wahrheit geschah.
Würde man nun aber sagen, dass „Whatever you say, say nothing“ dieses Massaker abbildet, dann wäre das so verkürzt, als würde man behaupten, Flauberts „Education sentimentale“ erzähle die Geschehnisse der Revolution von 1848. Seine Fotoagentur Magnum zitiert Peress mit dem Satz: „Es geht mir lange schon nicht mehr um ,gute Fotografie‘; ich sammle Beweise für die Geschichte.“ Er war auch mehrere Jahre lang Präsident von Magnum und hat Bücher über den Genozid in Ruanda oder den Bosnienkrieg veröffentlicht. Gleichzeitig aber wehrt sich der gebürtige Franzose, der in New York lebt, vehement gegen seine Rubrizierung als Fotojournalist oder Kriegsfotograf. Er hat Politik und Philosophie studiert; zur Fotografie kam er durch sein fundamentales Misstrauen der Sprache gegenüber, die die Welt seiner Meinung nach nie in all ihrer Widersprüchlichkeit abbilden kann. Früh sträubte er sich deshalb gegen das glatte Erzählen der Reportage, hier die Bösen, da der Held. Oder wie Robert Frank 70 Jahre vor ihm im Vorwort zu seinem Fotoessay „Black White Things“ fluchte: „Diese gottverdammten Geschichten mit Anfang und Ende“.
Es gibt also auch hier keine klare narrative Struktur, keine einzelnen Figuren, denen man folgt. Und doch ähnelt das Ganze einem riesigen Roman. So wie Peress in seinem ersten Buch „Telex Iran“ zwar in den Monaten der Besetzung der US-Botschaft 1979/80 fotografierte, ohne dass sich die Fotos aber je auf dieses Ereignis verengt hätten, so sind hier der Bloody Sunday und die Bürgerkriegsgewalt der anschließenden Jahre zwar der dunkle Hintergrund, vor dem aber die Sandkörnchenunendlichkeit des Lebens aufgespannt wird, Bauernalltag, Nebenstraßennachmittage, Friedhofsbesuche, spielende Kinder; abends dann Besäufnisse, Männer mit aufgerissenen Mündern und fetten Bäuchen, im Hintergrund quellen die Aschenbecher über.
Martin Parr muss diese Sequenzen genau studiert haben, bevor er anfing, den Zerfall der britischen Gesellschaft unter Margaret Thatcher in kodacholerisch bunten Bildern auszustellen. Wie bei Parr sind die Körper hier traurige Verfallsprodukte. Während bei Parr aber immer dieser denunziatorische, pointengierige Witz Regie zu führen scheint, ist Peress’ Kompendium von ruhigem Ernst geprägt. Parr sagte mal, es komme nicht auf ein Fotostudium an, sondern auf „Neugier und Ausdauer. Du musst wirklich etwas wissen wollen“. Das trifft die Besonderheit von Peress’ Arbeiten sehr gut. Nach dem Bloody Sunday fuhr er immer wieder nach Nordirland, oft für Monate. Und fotografierte dieselben Leute, Straßenecken, Lichteinfälle über Jahre.
Zeit scheint hier zu vergehen wie auf einem Spaziergang im Gefängnishof: die immergleichen Runden. Durch die Kapitelstruktur kommt dieses spiralförmige Zeitkonzept hervorragend zum Ausdruck, das Gefangensein in Jahrestagen und Ritualen des Erinnerns, die ja meist abends übergehen in Rituale des Vergessens und Betäubens: Beerdigungen, Trauermärsche, Gedenkreden, das alles vor kahlen Stadtlandschaften. Kein Baum nirgends, statt gestalteter Plätze leere Brachen, Straßen wirken wie abschüssige Geraden ins Unabwendbare. Am Ende des beigefügten Bandes „Annals of the North“, sagt er, er habe „das Leben in all seinen Ausformungen“ zeigen wollen. „Wenn ich gekonnt hätte, hätte ich gezeigt, wie sich die Luft verändert und die Zeit vergeht. Ich denke, ich habe es immerhin versucht.“
Peress spricht an anderer Stelle von
„forensischen Arbeiten“, Henry Langer nennt seine Bücher Indiziensammlungen. Die Bilder korrespondieren auf mehreren Ebenen miteinander, zum einen sind die Doppelseiten jeweils als Diptycha angelegt, zum anderen werden die 22 Kapitel strukturiert, mal durch Grabsteine, Pistolen, Fahnen, mal durch Untersichten oder Weitwinkelaufnahmen. Man kann die Folgen der Armut und Arbeitslosigkeit sehen, ruinöse Gebisse, das früh einsetzende Alter. Gewalt ist die stärkste Unterströmung des Riesenkompendiums, Waffen überall, Hungerstreiks, steinharte Gesichter.
Dieser große Wurf, angesiedelt zwischen Kunst, Geschichtsschreibung und Fotojournalismus, ist zugleich durchdrungen von einem großen Formwillen und dem unbedingten Wunsch, aufzuklären über die dunkle nordirische Geschichte und die so ruinöse wie ignorante Gewalt der britischen Besatzung und des IRA-Terrorismus. Weshalb das Ganze von dem 1000-seitigen Text- und QuellenAlmanach „Annals of the North“ begleitet wird, der mit Essays, Zeittafeln, Namensregistern geschichtliche Einordnung liefert.
Peress hatte das Buch um 1990 herum schon mal fertig gemacht und dann aber beiseitegelegt. Es ist ein großes Glück, dass es nun doch noch erscheint – und man kann nur hoffen, dass irgendein Berater des zynischen Politzockers Boris Johnson sich die Mühe macht, mal für ein paar Stunden in dieses Geschichtslabyrinth einzutauchen. Er würde seinem Chef danach vielleicht doch raten, die dringend notwendige juristische Aufarbeitung dieser brutalen Epoche nicht, wie jüngst verkündet, per Gesetz zu stoppen und damit einerseits das Morden zu legitimieren und andererseits die Trauer und Wut all der Hinterbliebenenneu anzufachen: Nicht auszudenken, was los wäre, wenn die Gewalt, die bis heute auf beiden Seiten den Bodensatz der kollektiven Erinnerung zu bilden scheint, dort wieder aufbrechen würde.
Über Jahre fotografierte er
immer dieselben Leute,
Straßenecken, Lichteinfälle
Gilles Peress: Whatever You Say, Say Nothing. Steidl, Göttingen 2021. Drei Bände,
1295 Abbildungen,
1960 Seiten, 425 Euro.
Ausschnitt aus Gilles Peress’ Band „Whatever You Say, Say Nothing“ aus dem Kapitel „The Last Night“.
Fotos: Gilles Peress
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mit Gewalt
Gilles Peress’ monumentale Fotodokumentation
des Nordirlandkonflikts
VON ALEX RÜHLE
Man betritt dieses riesige Werk wie eine Landschaft, bukolisch ruhige Schwarz-Weiß-Aufnahmen: ein Vogelschwarm. Feldwege, von Hecken gesäumt. Eine Buche. Plötzlich menschenleere Straßen, ein ausgebranntes Auto vor eingeschmissenen Fenstern, Szenen wie aus einem Krieg. Und erst dann, nach 16 Doppelseiten, der Titel: „Whatever you say, say nothing. A documentary fiction“.
Gilles Peress lässt sich Zeit, von Anfang an. Und macht hier schon klar, dass das keine Fotoreportage wird und keine klare Erzählung, gibt es doch keinerlei Erklärungen zu den ungerahmten, großformatigen Aufnahmen. Man muss also zunächst tiefer hineinlaufen in diesen enormen Bilderberg: 1960 Seiten, 1295 Bilder, 17 Kilo, zwei Bände. Strukturiert ist das Ganze in 22 Kapitel, die behaupten, je einen Tag abzubilden, was aber kaum sein kann, Schneelandschaften wechseln ab mit T-Shirt-Szenen, eine nächtliche Militärpatrouille mit einer Frau, die auf einem Treppenabsatz Suppe isst. Vermummte Jungs, die wegrennen, man weiß nicht, ob aus Spaß. Und dann, nach 150 Seiten, erstmals die nackte Gewalt: „Days of Struggle“, eine Straßendemonstration, Barrikaden, ein toter Mann, das rechte Auge hängt ihm aus dem Kopf, unter ihm eine schwarz glänzende Lache, die bei jeder Aufnahme größer wird.
Gilles Peress wurde 1972 in Nordirland zufällig Augenzeuge des Bloody Sunday, als britische Fallschirmjäger in Derry aus heiterem Himmel auf unbewaffnete Demonstranten schossen. 13 Tote, viele Schwerverletzte. Die meisten Opfer wurden von hinten getroffen, als sie davonliefen. Die britischen Soldaten steckten den getöteten Demonstranten Nagelbomben in die Taschen, um sie als IRA-Männer zu denunzieren. Erst 2010 entschuldigte sich die britische Regierung für dieses Massaker, das die Gewalt über Jahre hin eskalieren lassen sollte: Zwischen den frühen Siebzigerjahren und dem Karfreitagsabkommen 1998 starben mehr als 3500 Menschen, Zehntausende wurden verletzt. Die Londoner Regierung nannte das Ganze aber stets nur „troubles“ und euphemisierte Folter als „acceptable levels of violence“. Peress’ Bilder von jenem 31. Januar 1972 machten der Weltöffentlichkeit erstmals klar, was im nordirischen Hinterhof des Königreichs in Wahrheit geschah.
Würde man nun aber sagen, dass „Whatever you say, say nothing“ dieses Massaker abbildet, dann wäre das so verkürzt, als würde man behaupten, Flauberts „Education sentimentale“ erzähle die Geschehnisse der Revolution von 1848. Seine Fotoagentur Magnum zitiert Peress mit dem Satz: „Es geht mir lange schon nicht mehr um ,gute Fotografie‘; ich sammle Beweise für die Geschichte.“ Er war auch mehrere Jahre lang Präsident von Magnum und hat Bücher über den Genozid in Ruanda oder den Bosnienkrieg veröffentlicht. Gleichzeitig aber wehrt sich der gebürtige Franzose, der in New York lebt, vehement gegen seine Rubrizierung als Fotojournalist oder Kriegsfotograf. Er hat Politik und Philosophie studiert; zur Fotografie kam er durch sein fundamentales Misstrauen der Sprache gegenüber, die die Welt seiner Meinung nach nie in all ihrer Widersprüchlichkeit abbilden kann. Früh sträubte er sich deshalb gegen das glatte Erzählen der Reportage, hier die Bösen, da der Held. Oder wie Robert Frank 70 Jahre vor ihm im Vorwort zu seinem Fotoessay „Black White Things“ fluchte: „Diese gottverdammten Geschichten mit Anfang und Ende“.
Es gibt also auch hier keine klare narrative Struktur, keine einzelnen Figuren, denen man folgt. Und doch ähnelt das Ganze einem riesigen Roman. So wie Peress in seinem ersten Buch „Telex Iran“ zwar in den Monaten der Besetzung der US-Botschaft 1979/80 fotografierte, ohne dass sich die Fotos aber je auf dieses Ereignis verengt hätten, so sind hier der Bloody Sunday und die Bürgerkriegsgewalt der anschließenden Jahre zwar der dunkle Hintergrund, vor dem aber die Sandkörnchenunendlichkeit des Lebens aufgespannt wird, Bauernalltag, Nebenstraßennachmittage, Friedhofsbesuche, spielende Kinder; abends dann Besäufnisse, Männer mit aufgerissenen Mündern und fetten Bäuchen, im Hintergrund quellen die Aschenbecher über.
Martin Parr muss diese Sequenzen genau studiert haben, bevor er anfing, den Zerfall der britischen Gesellschaft unter Margaret Thatcher in kodacholerisch bunten Bildern auszustellen. Wie bei Parr sind die Körper hier traurige Verfallsprodukte. Während bei Parr aber immer dieser denunziatorische, pointengierige Witz Regie zu führen scheint, ist Peress’ Kompendium von ruhigem Ernst geprägt. Parr sagte mal, es komme nicht auf ein Fotostudium an, sondern auf „Neugier und Ausdauer. Du musst wirklich etwas wissen wollen“. Das trifft die Besonderheit von Peress’ Arbeiten sehr gut. Nach dem Bloody Sunday fuhr er immer wieder nach Nordirland, oft für Monate. Und fotografierte dieselben Leute, Straßenecken, Lichteinfälle über Jahre.
Zeit scheint hier zu vergehen wie auf einem Spaziergang im Gefängnishof: die immergleichen Runden. Durch die Kapitelstruktur kommt dieses spiralförmige Zeitkonzept hervorragend zum Ausdruck, das Gefangensein in Jahrestagen und Ritualen des Erinnerns, die ja meist abends übergehen in Rituale des Vergessens und Betäubens: Beerdigungen, Trauermärsche, Gedenkreden, das alles vor kahlen Stadtlandschaften. Kein Baum nirgends, statt gestalteter Plätze leere Brachen, Straßen wirken wie abschüssige Geraden ins Unabwendbare. Am Ende des beigefügten Bandes „Annals of the North“, sagt er, er habe „das Leben in all seinen Ausformungen“ zeigen wollen. „Wenn ich gekonnt hätte, hätte ich gezeigt, wie sich die Luft verändert und die Zeit vergeht. Ich denke, ich habe es immerhin versucht.“
Peress spricht an anderer Stelle von
„forensischen Arbeiten“, Henry Langer nennt seine Bücher Indiziensammlungen. Die Bilder korrespondieren auf mehreren Ebenen miteinander, zum einen sind die Doppelseiten jeweils als Diptycha angelegt, zum anderen werden die 22 Kapitel strukturiert, mal durch Grabsteine, Pistolen, Fahnen, mal durch Untersichten oder Weitwinkelaufnahmen. Man kann die Folgen der Armut und Arbeitslosigkeit sehen, ruinöse Gebisse, das früh einsetzende Alter. Gewalt ist die stärkste Unterströmung des Riesenkompendiums, Waffen überall, Hungerstreiks, steinharte Gesichter.
Dieser große Wurf, angesiedelt zwischen Kunst, Geschichtsschreibung und Fotojournalismus, ist zugleich durchdrungen von einem großen Formwillen und dem unbedingten Wunsch, aufzuklären über die dunkle nordirische Geschichte und die so ruinöse wie ignorante Gewalt der britischen Besatzung und des IRA-Terrorismus. Weshalb das Ganze von dem 1000-seitigen Text- und QuellenAlmanach „Annals of the North“ begleitet wird, der mit Essays, Zeittafeln, Namensregistern geschichtliche Einordnung liefert.
Peress hatte das Buch um 1990 herum schon mal fertig gemacht und dann aber beiseitegelegt. Es ist ein großes Glück, dass es nun doch noch erscheint – und man kann nur hoffen, dass irgendein Berater des zynischen Politzockers Boris Johnson sich die Mühe macht, mal für ein paar Stunden in dieses Geschichtslabyrinth einzutauchen. Er würde seinem Chef danach vielleicht doch raten, die dringend notwendige juristische Aufarbeitung dieser brutalen Epoche nicht, wie jüngst verkündet, per Gesetz zu stoppen und damit einerseits das Morden zu legitimieren und andererseits die Trauer und Wut all der Hinterbliebenenneu anzufachen: Nicht auszudenken, was los wäre, wenn die Gewalt, die bis heute auf beiden Seiten den Bodensatz der kollektiven Erinnerung zu bilden scheint, dort wieder aufbrechen würde.
Über Jahre fotografierte er
immer dieselben Leute,
Straßenecken, Lichteinfälle
Gilles Peress: Whatever You Say, Say Nothing. Steidl, Göttingen 2021. Drei Bände,
1295 Abbildungen,
1960 Seiten, 425 Euro.
Ausschnitt aus Gilles Peress’ Band „Whatever You Say, Say Nothing“ aus dem Kapitel „The Last Night“.
Fotos: Gilles Peress
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