Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 26.09.2011In 34 Jahren geht die Welt unter
Eine Strategie für die Zeit nach der Industriegesellschaft fehlt
Für dieses Buch braucht der Leser viel, viel Zeit. Zu überwinden sind 600 engbedruckte, faktenreiche Seiten Papier: mehr Stoff als in einem ganzen Semester politischer Geschichte! Dafür begleitet dieses "opus magnum" seinen Leser auch eine lange Zeit: Es beginnt im Jahre 7500 vor Christus und endet im Jahr 2045. Beantwortet wird die Frage, wer zu welcher Zeit die Weltentwicklung angeführt hat - und anführen wird.
Im Rennen sind zwei sogenannte "Kerngebiete": der Westen (ursprünglich das Gebiet des Mittleren und Nahen Ostens, später erweitert nach Europa, inzwischen Nordamerika) und der Osten (China). Zunächst führte der Westen, bis er um das Jahr 550 die Führung an den Osten abgeben musste, der sie dann anschließend 1200 Jahre lang innehatte. Seit dem 18. Jahrhundert dominiert also wieder der Westen.
Ian Morris ist gebürtiger Brite und seit zwanzig Jahren Historiker und Archäologe an den Universitäten Chicago und Stanford. Sein Werk, zunächst - natürlich - in Amerika erschienen, ist vielfach gelobt worden. Es hat aber auch etwas Verstörendes an sich: Wie kann ein einzelner Mensch eine solch interdisziplinäre und umfassende Theorie der Weltgeschichte schreiben?
Es handelt sich ohne Zweifel um ein Werk, über das noch in Jahrzehnten gesprochen werden wird. Auch deshalb, weil es einen Blick in die Zukunft wirft: "Die nächsten 40 Jahre werden die bedeutsamsten der Weltgeschichte sein." Und Morris - der sich ansonsten Superlativen enthält - beschreibt auch sachkundig, weshalb er das so sieht: "Entweder wir werden bald eine Transformation in Gang setzen, die die industrielle Revolution weit in den Schatten stellen und die meisten unserer aktuellen Probleme in Wohlgefallen auflösen wird; oder wir stolpern in einen Zusammenbruch, wie es bislang keinen gab. Schwer zu sagen, wie irgendein mittlerer Weg funktionieren soll - ein Kompromiss, durch den es allen Menschen ein bisschen bessergeht, China schrittweise die Führung übernimmt und alles andere ähnlich weiterläuft wie bisher."
Was bleibt zu tun, um der Weltendämmerung zu entgehen? Die Weltenlenker müssen die Klimaprobleme in den Griff bekommen. Denn Klimaveränderungen waren es, die im Laufe der Geschichte immer wieder zu Rückschlägen bei der Entwicklung führten. Das ist keine ganz neue Erkenntnis, aber Morris skizziert dies auf einigen Hundert Seiten detailliert nach.
Er erwähnt schließlich den sogenannten Stern-Bericht von 2006, der die wirtschaftlichen Folgen der globalen Erwärmung aufzeigte. Man kann dieses Dokument vermutlich nicht oft genug zitieren, wenn schon Präsidentschaftskandidaten der amerikanischen Republikaner die Ergebnisse nicht zur Kenntnis nehmen wollen.
Einer von Morris Blicken in die Zukunft macht Angst. Er befürchtet einen Atomkrieg und berichtet vom Fermi-Paradoxon. Irgendwann um das Jahr 1950 traf der Physiker Enrico Fermi drei seiner Kollegen zum Mittagessen. Man sprach über Außerirdische, und Fermi fragte: "Aber wo sind sie?" 17 Jahre später präsentierten die Astronomen Josef Schklowski und Carl Sagan eine ernüchternde Lösung. Wenn auch nur einer von 250 000 Sternen von einem bewohnten Planeten umkreist wird, dann, so berechneten sie, gäbe es in der Milchstraße potentiell eine Million extraterrestrische Zivilisationen: "Die Tatsache, dass wir keinerlei Spuren von ihnen haben, könne nur bedeuten, dass fortgeschrittene Zivilisationen sich stets selbst zerstören. Dies muss jeweils innerhalb von 100 Jahren nach der Erfindung von Atomwaffen geschehen, andernfalls hätten die Außerirdischen genügend Zeit gehabt, den Kosmos mit Signalen zu füllen, die wir auffangen könnten." Wenn wir dieses Argument auf unseren eigenen Planeten anwenden, dann spräche alles für eine Weltendämmerung im Jahr 2045, dem 100. Jahrestag der Bomben über Hiroshima und Nagasaki. Fünf Jahre vorher wird das Bruttoinlandsprodukt Chinas das der Vereinigten Staaten von Amerika übertreffen. In den letzten fünf Jahren auf diesem Planeten wird dann wieder der Osten führen.
JOCHEN ZENTHÖFER.
Ian Morris: Wer regiert die Welt?
Campus Verlag. Frankfurt am Main 2011. 656 Seiten. 24,90 Euro
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Eine Strategie für die Zeit nach der Industriegesellschaft fehlt
Für dieses Buch braucht der Leser viel, viel Zeit. Zu überwinden sind 600 engbedruckte, faktenreiche Seiten Papier: mehr Stoff als in einem ganzen Semester politischer Geschichte! Dafür begleitet dieses "opus magnum" seinen Leser auch eine lange Zeit: Es beginnt im Jahre 7500 vor Christus und endet im Jahr 2045. Beantwortet wird die Frage, wer zu welcher Zeit die Weltentwicklung angeführt hat - und anführen wird.
Im Rennen sind zwei sogenannte "Kerngebiete": der Westen (ursprünglich das Gebiet des Mittleren und Nahen Ostens, später erweitert nach Europa, inzwischen Nordamerika) und der Osten (China). Zunächst führte der Westen, bis er um das Jahr 550 die Führung an den Osten abgeben musste, der sie dann anschließend 1200 Jahre lang innehatte. Seit dem 18. Jahrhundert dominiert also wieder der Westen.
Ian Morris ist gebürtiger Brite und seit zwanzig Jahren Historiker und Archäologe an den Universitäten Chicago und Stanford. Sein Werk, zunächst - natürlich - in Amerika erschienen, ist vielfach gelobt worden. Es hat aber auch etwas Verstörendes an sich: Wie kann ein einzelner Mensch eine solch interdisziplinäre und umfassende Theorie der Weltgeschichte schreiben?
Es handelt sich ohne Zweifel um ein Werk, über das noch in Jahrzehnten gesprochen werden wird. Auch deshalb, weil es einen Blick in die Zukunft wirft: "Die nächsten 40 Jahre werden die bedeutsamsten der Weltgeschichte sein." Und Morris - der sich ansonsten Superlativen enthält - beschreibt auch sachkundig, weshalb er das so sieht: "Entweder wir werden bald eine Transformation in Gang setzen, die die industrielle Revolution weit in den Schatten stellen und die meisten unserer aktuellen Probleme in Wohlgefallen auflösen wird; oder wir stolpern in einen Zusammenbruch, wie es bislang keinen gab. Schwer zu sagen, wie irgendein mittlerer Weg funktionieren soll - ein Kompromiss, durch den es allen Menschen ein bisschen bessergeht, China schrittweise die Führung übernimmt und alles andere ähnlich weiterläuft wie bisher."
Was bleibt zu tun, um der Weltendämmerung zu entgehen? Die Weltenlenker müssen die Klimaprobleme in den Griff bekommen. Denn Klimaveränderungen waren es, die im Laufe der Geschichte immer wieder zu Rückschlägen bei der Entwicklung führten. Das ist keine ganz neue Erkenntnis, aber Morris skizziert dies auf einigen Hundert Seiten detailliert nach.
Er erwähnt schließlich den sogenannten Stern-Bericht von 2006, der die wirtschaftlichen Folgen der globalen Erwärmung aufzeigte. Man kann dieses Dokument vermutlich nicht oft genug zitieren, wenn schon Präsidentschaftskandidaten der amerikanischen Republikaner die Ergebnisse nicht zur Kenntnis nehmen wollen.
Einer von Morris Blicken in die Zukunft macht Angst. Er befürchtet einen Atomkrieg und berichtet vom Fermi-Paradoxon. Irgendwann um das Jahr 1950 traf der Physiker Enrico Fermi drei seiner Kollegen zum Mittagessen. Man sprach über Außerirdische, und Fermi fragte: "Aber wo sind sie?" 17 Jahre später präsentierten die Astronomen Josef Schklowski und Carl Sagan eine ernüchternde Lösung. Wenn auch nur einer von 250 000 Sternen von einem bewohnten Planeten umkreist wird, dann, so berechneten sie, gäbe es in der Milchstraße potentiell eine Million extraterrestrische Zivilisationen: "Die Tatsache, dass wir keinerlei Spuren von ihnen haben, könne nur bedeuten, dass fortgeschrittene Zivilisationen sich stets selbst zerstören. Dies muss jeweils innerhalb von 100 Jahren nach der Erfindung von Atomwaffen geschehen, andernfalls hätten die Außerirdischen genügend Zeit gehabt, den Kosmos mit Signalen zu füllen, die wir auffangen könnten." Wenn wir dieses Argument auf unseren eigenen Planeten anwenden, dann spräche alles für eine Weltendämmerung im Jahr 2045, dem 100. Jahrestag der Bomben über Hiroshima und Nagasaki. Fünf Jahre vorher wird das Bruttoinlandsprodukt Chinas das der Vereinigten Staaten von Amerika übertreffen. In den letzten fünf Jahren auf diesem Planeten wird dann wieder der Osten führen.
JOCHEN ZENTHÖFER.
Ian Morris: Wer regiert die Welt?
Campus Verlag. Frankfurt am Main 2011. 656 Seiten. 24,90 Euro
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
A provocative and extraordinary contribution to wide-screen comparative history... a true banquet of ideas Boyd Tonkin Independent