Seit der Gründung der Bundesrepublik Deutschland 1949 hat Alfred Grosser die deutsche Politik ebenso aufmerksam wie kontinuierlich begleitet. Dabei hat der in Paris lebende Friedenspreisträger es stets verstanden, politikwissenschaftliche Analyse und publizistische Wirkung miteinander zu verbinden. Seine zahlreichen Bücher sind selbst ein Stück Bonner Demokratie und ihrer Geschichte. Nun wirft Alfred Grosser einen prüfenden Blick auf die Berliner Republik und ihre Bürger, diese schwierigen Deutschen, die sich gern für schwierig halten, wo sie eigentlich ganz normal sind, und für normal, wo es mit ihnen schwierig wird. Doch es geht Grosser dabei weniger um die deutsche Volksseele und ihre schwankenden Befindlichkeiten, als vielmehr um eine Betrachtung der politischen Rahmenbedingungen von der Bonner Demokratie zur Berliner Republik. Kanzlerdemokratie und Parteienstaat, die Situation in den neuen Ländern, die doppelte "Vergangenheitsbewältigung" von NS- und DDR-Geschichte, die soziale Marktwirtschaft vor der Herausforderung der Globalisierung, die Rolle des vereinigten Deutschland im weltpolitischen Konzert der Mächte - das sind nur einige Themen, die Grosser in seinem Buch behandelt. Am Ende dieser souveränen Sicht auf die werdende Berliner Republik zeigt sich, daß die schwierigen Deutschen heute längst viel normaler geworden sind, als sie selbst oft wahrhaben wollen.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 23.12.2002Neuer Aufguß
DEUTSCHLAND-BUCH. Schon wieder hat Alfred Grosser eins geschrieben. Darin erklärt er den Franzosen Deutschland und hält den Deutschen den Spiegel vor - um Verständnis werbend, ohne unkritisch zu sein, deutlich Position beziehend, aber nicht verletzend, mit großer Urteilskraft und bestechender Gelassenheit. Die Haltung des "elder scienceman" ist Grosser nicht erst als Emeritus eigen. Sosehr des Autors Souveränität gefällt: Der Leser erfährt kaum Neues. Ob der französische Politologe über Parteien, Wahlen oder das zukünftige Europa schreibt, man kennt schon alles. Er scheut nicht davor zurück, die immer gleichen Beispiele aus früheren Büchern anzuführen. Selbst die Zitate sind bisweilen dieselben. Wenn Grosser den Vertrag zur deutschen Einheit behandelt - zum wievielten Male seit 1990 eigentlich? -, dann kommt er gleichsam als running gag auf den Absatz mit den orthopädischen Schuhen zu sprechen. Und daß er im obligatorischen Kapitel über die Vergangenheitsbewältigung Helmut Kohl Gerechtigkeit widerfahren läßt - nicht nur dessen Bitburg-Besuch 1985 findet Erwähnung, sondern auch die zwei Wochen zuvor im ehemaligen Konzentrationslager Bergen-Belsen gehaltene Rede -, ist zwar ehrenwert, war allerdings bereits Gegenstand der 1990 publizierten Studie "Ermordung der Menschheit. Der Genozid im Gedächtnis der Völker" und im autobiographischen Werk "Mein Deutschland", ohne daß der Rezensent Anspruch auf Vollständigkeit erheben möchte. Was aus französischer Perspektive Sinn ergibt, beispielsweise das Scheitern der Länderfusion von Berlin und Brandenburg zu erklären oder manche Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vorzustellen, dürfte den deutschen Leser wenig befriedigen. In der Tat steckt hierin Grossers Hauptproblem - und vielleicht der Ansatz zu einer Lösung. Denn immer dann, wenn er Frankreich in die Analyse einbezieht, erfolgt dies zum Vorteil des Textes. Dem deutschen Föderalismus stellt der Verfasser die zum Teil gewalttätigen regionalen Konflikte im Baskenland und in der Bretagne, im Elsaß und auf der Mittelmeerinsel Korsika entgegen. In Deutschland gebe es nichts dergleichen. "Darüber sollte man in beiden Ländern eigentlich mehr Erstaunen zeigen", heißt es zu Recht. Umgekehrt würden die Franzosen den demographischen Herausforderungen - auch mittels finanzieller Anreize für Familien - eher gerecht. Vielleicht sollte Grosser sein nächstes "Deutschland-Buch" über Frankreich schreiben. Die Leser würden es ihm danken. (Alfred Grosser: Wie anders sind die Deutschen? Aus dem Französischen von Joachim Umlauf. Verlag C.H. Beck, München 2002. 237 Seiten, 19,90 [Euro].)
RALF ALTENHOF
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
DEUTSCHLAND-BUCH. Schon wieder hat Alfred Grosser eins geschrieben. Darin erklärt er den Franzosen Deutschland und hält den Deutschen den Spiegel vor - um Verständnis werbend, ohne unkritisch zu sein, deutlich Position beziehend, aber nicht verletzend, mit großer Urteilskraft und bestechender Gelassenheit. Die Haltung des "elder scienceman" ist Grosser nicht erst als Emeritus eigen. Sosehr des Autors Souveränität gefällt: Der Leser erfährt kaum Neues. Ob der französische Politologe über Parteien, Wahlen oder das zukünftige Europa schreibt, man kennt schon alles. Er scheut nicht davor zurück, die immer gleichen Beispiele aus früheren Büchern anzuführen. Selbst die Zitate sind bisweilen dieselben. Wenn Grosser den Vertrag zur deutschen Einheit behandelt - zum wievielten Male seit 1990 eigentlich? -, dann kommt er gleichsam als running gag auf den Absatz mit den orthopädischen Schuhen zu sprechen. Und daß er im obligatorischen Kapitel über die Vergangenheitsbewältigung Helmut Kohl Gerechtigkeit widerfahren läßt - nicht nur dessen Bitburg-Besuch 1985 findet Erwähnung, sondern auch die zwei Wochen zuvor im ehemaligen Konzentrationslager Bergen-Belsen gehaltene Rede -, ist zwar ehrenwert, war allerdings bereits Gegenstand der 1990 publizierten Studie "Ermordung der Menschheit. Der Genozid im Gedächtnis der Völker" und im autobiographischen Werk "Mein Deutschland", ohne daß der Rezensent Anspruch auf Vollständigkeit erheben möchte. Was aus französischer Perspektive Sinn ergibt, beispielsweise das Scheitern der Länderfusion von Berlin und Brandenburg zu erklären oder manche Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vorzustellen, dürfte den deutschen Leser wenig befriedigen. In der Tat steckt hierin Grossers Hauptproblem - und vielleicht der Ansatz zu einer Lösung. Denn immer dann, wenn er Frankreich in die Analyse einbezieht, erfolgt dies zum Vorteil des Textes. Dem deutschen Föderalismus stellt der Verfasser die zum Teil gewalttätigen regionalen Konflikte im Baskenland und in der Bretagne, im Elsaß und auf der Mittelmeerinsel Korsika entgegen. In Deutschland gebe es nichts dergleichen. "Darüber sollte man in beiden Ländern eigentlich mehr Erstaunen zeigen", heißt es zu Recht. Umgekehrt würden die Franzosen den demographischen Herausforderungen - auch mittels finanzieller Anreize für Familien - eher gerecht. Vielleicht sollte Grosser sein nächstes "Deutschland-Buch" über Frankreich schreiben. Die Leser würden es ihm danken. (Alfred Grosser: Wie anders sind die Deutschen? Aus dem Französischen von Joachim Umlauf. Verlag C.H. Beck, München 2002. 237 Seiten, 19,90 [Euro].)
RALF ALTENHOF
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Die Berliner Republik unter der Lupe
Über die Deutschen und ihre Eigentümlichkeiten ist schon einiges geschrieben worden. Als Stichworte seien hier die berühmte "deutsche Seele", der "deutsche Sonderweg" oder "die spezifische Neigung zu Selbstzerfleischung und Selbstmitleid" (Grosser) genannt. Die Deutschen waren eben immer schon ein bisschen anders als ihre Nachbarn. Gilt diese Feststellung aber auch heute noch? Dieser Frage geht der international renommierte Publizist Alfred Grosser in seinem glänzenden Essay Wie anders sind die Deutschen? nach.
Von Bonn nach Berlin
Grosser skizziert den Weg von der Bonner zur Berliner Republik gewohnt kenntnisreich und untersucht, inwiefern sich Deutschland nach der Wiedervereinigung verändert hat. Seine bereits 1999 geäußerte These "Bonn bleibt Bonn...in Berlin" ist immer noch gültig. Grosser bescheinigt Deutschland, ein ganz "normaler" Staat zu sein, fest verwurzelt in der europäischen Kultur. Er zeigt aber auch, wo spezifisch deutsche Probleme liegen: zum einen in der Bewältigung der NS-, zum anderen im Umgang mit der DDR-Vergangenheit.
Anders und doch gleich
"Ossis" und "Wessis" sieht Grosser noch immer als zwei sich gegenüber stehende Parteien und konstatiert, dass die Einheit noch nicht vollendet sei. Für alle Deutschen allerdings charakteristisch sei der Wunsch, "bei größtmöglichem Wohlstand in aller Ruhe leben zu können, unbehelligt von den tief greifenden Veränderungen auf dem Kontinent und in der Welt nach 1990." Wer Grossers Analyse der Rolle Deutschlands innerhalb der Weltpolitik oder der Herausforderung durch die Globalisierung aufmerksam liest, wird zu dem Schluss kommen, dass sich dieser Wunsch wohl kaum erfüllen dürfte.
(Eva Hepper, literaturtest.de)
Über die Deutschen und ihre Eigentümlichkeiten ist schon einiges geschrieben worden. Als Stichworte seien hier die berühmte "deutsche Seele", der "deutsche Sonderweg" oder "die spezifische Neigung zu Selbstzerfleischung und Selbstmitleid" (Grosser) genannt. Die Deutschen waren eben immer schon ein bisschen anders als ihre Nachbarn. Gilt diese Feststellung aber auch heute noch? Dieser Frage geht der international renommierte Publizist Alfred Grosser in seinem glänzenden Essay Wie anders sind die Deutschen? nach.
Von Bonn nach Berlin
Grosser skizziert den Weg von der Bonner zur Berliner Republik gewohnt kenntnisreich und untersucht, inwiefern sich Deutschland nach der Wiedervereinigung verändert hat. Seine bereits 1999 geäußerte These "Bonn bleibt Bonn...in Berlin" ist immer noch gültig. Grosser bescheinigt Deutschland, ein ganz "normaler" Staat zu sein, fest verwurzelt in der europäischen Kultur. Er zeigt aber auch, wo spezifisch deutsche Probleme liegen: zum einen in der Bewältigung der NS-, zum anderen im Umgang mit der DDR-Vergangenheit.
Anders und doch gleich
"Ossis" und "Wessis" sieht Grosser noch immer als zwei sich gegenüber stehende Parteien und konstatiert, dass die Einheit noch nicht vollendet sei. Für alle Deutschen allerdings charakteristisch sei der Wunsch, "bei größtmöglichem Wohlstand in aller Ruhe leben zu können, unbehelligt von den tief greifenden Veränderungen auf dem Kontinent und in der Welt nach 1990." Wer Grossers Analyse der Rolle Deutschlands innerhalb der Weltpolitik oder der Herausforderung durch die Globalisierung aufmerksam liest, wird zu dem Schluss kommen, dass sich dieser Wunsch wohl kaum erfüllen dürfte.
(Eva Hepper, literaturtest.de)
Perlentaucher-Notiz zur NZZ-Rezension
Alfred Grossers "Wie anders sind die Deutschen?" hat Rezensent Rainer Hoffmann nicht wirklich überzeugt. Das liegt vor allem daran, dass Grosser "rücksichtslos ins Plaudern" gerate. Die Frage nach dem Anderssein Deutschlands beantworte er mit der "spezifische Last der Vergangenheit" und den enormen Lasten der Gegenwart, die sich aus der Wiedervereinigung ergeben haben und zu bewältigen seien. Das ist dem Rezensenten zu wenig, zumal Grosser nicht frage, wie weit denn die beiden Besonderheiten wirklich vergleichbar seien und welche Wertigkeit sie unterscheide. Andererseits hält er Grosser zu Gute, die "Kunst der politischen Komparatistik", die auf kenntnisreichen Einsichten, historischem Wissen und lebensgeschichtlichen Sympathien beruhe, "in ausgezeichneter Weise" zu beherrschen. Diese Kunst zeige sich auch in den sechs Kapiteln des Buches leider nur "immer mal wieder", wie der Rezensent bedauert. Auch müsse und wolle Grosser auf alles und jedes zu sprechen kommen: auf die Einstellung zum Kinderkriegen und die Rechtschreibreform, die Scharping-Affäre, die Hauptaufgaben des Bundesverfassungsgerichtes, die Stammzellen- und die Euthanasiedebatte, die Integrationsprobleme, die Bundeswehr, die Korruption, die Kirchen und die Walser-Bubis-Kontroverse und so weiter. Das tut dem Buch nach Ansicht Hoffmanns nicht gut. "Mit all seinen bald mehr, bald weniger ausführlich präsentierten Themen und reflektierten Thesen", resümiert der Rezensent, "liest es sich insgesamt wie ein routiniert uninspirierter Beitrag für den Unterricht in vergleichender deutsch-französischer Länderkunde".
© Perlentaucher Medien GmbH
© Perlentaucher Medien GmbH