Über 400 Jahre lang liegt eine riesengroße Karte Chinas, ein handgezeichnetes, mit Blumen und Schmetterlingen ornamentiertes Einzelstück, unbeachtet im Keller einer Bibliothek in Oxford. Als der China- Spezialist Timothy Brook sie 2009 findet und sofort anfängt, sie zu untersuchen, gibt sie ihm zunächst immer mehr Rätsel auf.Der Forscher wird zum Detektiv, der herausfinden will, warum die Karte gleichzeitig so perfekt, exakt und modern wie grundverkehrt ist. Der Leser schaut dem Wissenschaftler über die Schulter, wie er die Geheimnisse der Karte schrittweise entschlüsselt. Er kommt dem britischen Entdecker der Karte im 17. Jahrhundert auf die Spur, dem mutigen und hochgebildeten Menschenrechtsanwalt, Orientalisten und Poeten John Selden. Er lernt Michael Shen kennen, alias Shen Fuzong, den ersten chinesischen Besucher des englischen Hofs, der zum Katholizismus übertrat und die Karte unter die Lupe nahm, bevor sie in Vergessenheit geriet.Mit Hilfe dieser kuriosen Geschichten wird die Zeit des 17. Jahrhunderts plastisch, eine Epoche, in der die Beziehungen in Kultur, Wissenschaft und Handel zwischen China und Europa ihren Anfang nahmen.
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 10.10.2015Was man so alles in Oxforder Kellern findet
Der Historiker als Spurenleser: Timothy Brook erzählt von einer rätselhaften alten Karte Chinas.
Von Jürgen Osterhammel
Es gibt Bücher, die ihre eigene Geschichte miterzählen. Man erfährt, warum sie geschrieben wurden, hört das ein oder andere aus dem Leben des Verfassers und lernt dessen Vorlieben und Arbeitsweisen kennen. Besonders dankbar für diskrete Selbstinszenierung ist das Metier der Geschichte. Nicht immer, aber ziemlich oft sind Historiker Spurenleser und Detektive. Sie suchen nach verborgenen Quellen, und wenn sie Objekte und Dokumente gefunden haben, stehen sie häufig vor Rätseln des Verständnisses: Fragmente müssen zusammengesetzt, schwierige Textstellen übersetzt und gedeutet, Kontexte rekonstruiert werden. Das geschieht zumeist hinter dem Schleier der Professionalität. Man sollte nicht wünschen, dass die durchschnittliche historische Doktorarbeit offenbart, wie es der Autorin oder dem Autor in den Archiven ergangen ist.
Das Spiel mit Schatzkarten und geheimnisvollen Handschriften bleibt aus guten Gründen zumeist der Romanliteratur überlassen. Aber manchmal schreiben Historiker so gut, dass man sich gerne von ihnen auf eine Entdeckungsfahrt mitnehmen lässt.
Der kanadische Historiker und Sinologe Timothy Brook, eine Weltautorität vor allem für die Geschichte der Ming-Zeit (1368 bis 1644) und außerhalb von Fachkreisen vor allem durch "Vermeers Hut: Das siebzehnte Jahrhundert und der Beginn der globalen Welt" (2009) bekannt, erweist sich als ein solcher Virtuose. Die Geschichte, die er in seinem neuen Buch erzählt, geht ungefähr so: Ein befreundeter Kurator in Oxford macht Brook auf eine Landkarte aufmerksam, die dort seit 1659 in der Bodleian Library aufbewahrt wird, aber vergessen wurde. Die Karte fällt durch ihr enormes Format auf - 160 mal 90 Zentimeter - und dadurch, dass sie das östliche Asien von der Großen Mauer bis hinunter nach Java mit beispielloser Akkuratesse abbildet. Die Bibliothek weiß über diese Karte nur, dass sie aus dem umfangreichen Nachlass von John Selden (1584 bis 1654) stammt, einem Juristen, Orientalisten und Politiker, von dem Timothy Brook noch nie gehört hatte.
Als er sich im Keller der Bodleian über die chinesisch beschriftete Selden Map beugt, erwachen der Instinkt des Sinologen und die Sensibilität des Historikers, der seine Aufmerksamkeit für frühe Kontakte zwischen China und Europa geschärft hat. Wer hat dieses kartographische Meisterwerk wann, wo und zu welchem Zweck geschaffen? Wie erklärt sich seine schwankende Genauigkeit: große Präzision bei der Darstellung des Südchinesischen Meeres, extreme Fehlrepräsentation Japans? Woher kam die eigentümliche graphische Mischform: "Ostasien auf europäische Weise gezeichnet"? Wie gelangte die Karte nach England? Wer hat sie dort gekannt, benutzt und eventuell sogar bearbeitet? Wer war John Selden, und in welchem Milieu lebte und wirkte er?
Alle diese Fragen werden schließlich beantwortet, manche per scharfsinnigem Indizienbeweis. Nur Name und Biographie des Kartenmachers bleiben dunkel. Er muss um 1608 in der javanischen Hafenstadt Jakarta - das die Niederländer wenige Jahre später erobern, zerstören und unter dem Namen Batavia neu aufbauen werden - tätig gewesen sein und kannte die Meere und Handelsrouten südlich von China wahrscheinlich aus eigener nautischer Erfahrung.
John Selden, der Zeitgenosse Shakespeares, Freund Ben Jonsons und Aktivist der Revolution gegen die Stuarts, war nicht ganz aus dem historischen Gedächtnis verschwunden. Sein Rang als Staatsrechtler und Gegenspieler von Hugo Grotius in den niederländisch-englischen Debatten um die Freiheit der Meere ist über die Jahrhundert hinweg anerkannt geblieben.
Timothy Brook erinnert daran, dass er auch ein großer Kenner asiatischer Sprachen - allerdings nicht des Chinesischen - war und die Epoche einer ersten Blüte der europäischen Orientwissenschaften verkörpert, die um die Zeit seines Todes einem eher oberflächlichen "Barock-Orientalismus" wich.
Das ebenso gelehrte wie charmante Buch, vom Verlag hübscher aufgemacht als die englische Originalausgabe, meidet große Themen und Thesen. Es sagt kaum etwas über China, vorwiegend Anekdotisches über das England der Epoche und nicht allzu viel über die Geschichte der Kartographie, in der die Selden-Karte ohne Wirkung blieb. Man fühlt sich auf das Kunstvollste unterhalten. Doch man hat am Ende wenig gelernt.
Timothy Brook: "Wie China nach Europa kam". Die unerhörte Karte des Mr. Selden.
Aus dem Englischen von Robin Cackett. Verlag Klaus Wagenbach, Berlin 2015. 224 S., geb., 24,90 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Der Historiker als Spurenleser: Timothy Brook erzählt von einer rätselhaften alten Karte Chinas.
Von Jürgen Osterhammel
Es gibt Bücher, die ihre eigene Geschichte miterzählen. Man erfährt, warum sie geschrieben wurden, hört das ein oder andere aus dem Leben des Verfassers und lernt dessen Vorlieben und Arbeitsweisen kennen. Besonders dankbar für diskrete Selbstinszenierung ist das Metier der Geschichte. Nicht immer, aber ziemlich oft sind Historiker Spurenleser und Detektive. Sie suchen nach verborgenen Quellen, und wenn sie Objekte und Dokumente gefunden haben, stehen sie häufig vor Rätseln des Verständnisses: Fragmente müssen zusammengesetzt, schwierige Textstellen übersetzt und gedeutet, Kontexte rekonstruiert werden. Das geschieht zumeist hinter dem Schleier der Professionalität. Man sollte nicht wünschen, dass die durchschnittliche historische Doktorarbeit offenbart, wie es der Autorin oder dem Autor in den Archiven ergangen ist.
Das Spiel mit Schatzkarten und geheimnisvollen Handschriften bleibt aus guten Gründen zumeist der Romanliteratur überlassen. Aber manchmal schreiben Historiker so gut, dass man sich gerne von ihnen auf eine Entdeckungsfahrt mitnehmen lässt.
Der kanadische Historiker und Sinologe Timothy Brook, eine Weltautorität vor allem für die Geschichte der Ming-Zeit (1368 bis 1644) und außerhalb von Fachkreisen vor allem durch "Vermeers Hut: Das siebzehnte Jahrhundert und der Beginn der globalen Welt" (2009) bekannt, erweist sich als ein solcher Virtuose. Die Geschichte, die er in seinem neuen Buch erzählt, geht ungefähr so: Ein befreundeter Kurator in Oxford macht Brook auf eine Landkarte aufmerksam, die dort seit 1659 in der Bodleian Library aufbewahrt wird, aber vergessen wurde. Die Karte fällt durch ihr enormes Format auf - 160 mal 90 Zentimeter - und dadurch, dass sie das östliche Asien von der Großen Mauer bis hinunter nach Java mit beispielloser Akkuratesse abbildet. Die Bibliothek weiß über diese Karte nur, dass sie aus dem umfangreichen Nachlass von John Selden (1584 bis 1654) stammt, einem Juristen, Orientalisten und Politiker, von dem Timothy Brook noch nie gehört hatte.
Als er sich im Keller der Bodleian über die chinesisch beschriftete Selden Map beugt, erwachen der Instinkt des Sinologen und die Sensibilität des Historikers, der seine Aufmerksamkeit für frühe Kontakte zwischen China und Europa geschärft hat. Wer hat dieses kartographische Meisterwerk wann, wo und zu welchem Zweck geschaffen? Wie erklärt sich seine schwankende Genauigkeit: große Präzision bei der Darstellung des Südchinesischen Meeres, extreme Fehlrepräsentation Japans? Woher kam die eigentümliche graphische Mischform: "Ostasien auf europäische Weise gezeichnet"? Wie gelangte die Karte nach England? Wer hat sie dort gekannt, benutzt und eventuell sogar bearbeitet? Wer war John Selden, und in welchem Milieu lebte und wirkte er?
Alle diese Fragen werden schließlich beantwortet, manche per scharfsinnigem Indizienbeweis. Nur Name und Biographie des Kartenmachers bleiben dunkel. Er muss um 1608 in der javanischen Hafenstadt Jakarta - das die Niederländer wenige Jahre später erobern, zerstören und unter dem Namen Batavia neu aufbauen werden - tätig gewesen sein und kannte die Meere und Handelsrouten südlich von China wahrscheinlich aus eigener nautischer Erfahrung.
John Selden, der Zeitgenosse Shakespeares, Freund Ben Jonsons und Aktivist der Revolution gegen die Stuarts, war nicht ganz aus dem historischen Gedächtnis verschwunden. Sein Rang als Staatsrechtler und Gegenspieler von Hugo Grotius in den niederländisch-englischen Debatten um die Freiheit der Meere ist über die Jahrhundert hinweg anerkannt geblieben.
Timothy Brook erinnert daran, dass er auch ein großer Kenner asiatischer Sprachen - allerdings nicht des Chinesischen - war und die Epoche einer ersten Blüte der europäischen Orientwissenschaften verkörpert, die um die Zeit seines Todes einem eher oberflächlichen "Barock-Orientalismus" wich.
Das ebenso gelehrte wie charmante Buch, vom Verlag hübscher aufgemacht als die englische Originalausgabe, meidet große Themen und Thesen. Es sagt kaum etwas über China, vorwiegend Anekdotisches über das England der Epoche und nicht allzu viel über die Geschichte der Kartographie, in der die Selden-Karte ohne Wirkung blieb. Man fühlt sich auf das Kunstvollste unterhalten. Doch man hat am Ende wenig gelernt.
Timothy Brook: "Wie China nach Europa kam". Die unerhörte Karte des Mr. Selden.
Aus dem Englischen von Robin Cackett. Verlag Klaus Wagenbach, Berlin 2015. 224 S., geb., 24,90 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 13.10.2015Die See
bleibt offen
Timothy Brook erzählt von den
Geheimnissen einer einzigartigen Karte
aus dem China des 17. Jahrhunderts
VON HARALD EGGEBRECHT
Selten geschieht es, dass ein Buch so viele verschiedene Regungen erweckt und so viele Erregungen zu befriedigen weiß, von denen manche erst beim Lesen entstehen: Neugier und Wissbegier, Spannung und Abenteuerlust, Überraschung und Freude am Suchen und Finden, schließlich Spaß am Rätsellösen und an der Erhellung von Unwissenheit. Timothy Brook, bekannter Sinologe mit besonderem Gewicht auf der Sozial- und Kulturgeschichte der Ming-Dynastie, Dozent in Oxford und Professor an der University of British Columbia in Vancouver, Kanada, hat es geschrieben, und es ist wieder einmal ein glänzender Beleg für die angelsächsische Fähigkeit, auch strenge wissenschaftliche Recherche stets in einen so wunderbar plausiblen Erzählzusammenhang zu bringen, dass weder der Fachmann noch der interessierte Leser enttäuscht wird, sondern am Ende beide wahrlich mehr wissen und einen helleren Blick auf die Welt haben können als zuvor.
Der Einstieg in dieses außergewöhnliche Labyrinth, das nicht nur ins England Shakespeares und Ben Jonsons führt, sondern auch in die verzwickten Handelsvernetzungen im Chinesischen Meer zwischen Chinesen, Europäern, Japanern, aber auch in die Streitereien, ob das Meer offen und frei sei für jedermann oder ob es wie Land in Besitz genommen und damit Eigentum eines Landes werden könne, der Einstieg ist eine Karte, 160 cm lang und
96 1/2cm breit, die in der ehrwürdigen Bodleian Library in Oxford 2009 entdeckt wurde. Sie stammt aus dem Besitz des britischen Rechtsgelehrten John Selden, der sie mit anderen Bücherschätzen der Bibliothek 1654 testamentarisch vermacht hat. Mehr als vierhundert Jahre ruht diese „Karte von China daselbst und in Farbe gemacht“ im Dunkel der Bibliothek. Dann wird sie wiederentdeckt, Timothy Brook schaut sie sich an, und für ihn ist, nach seiner ausgedehnten Forschungsarbeit, dies „die bedeutendste chinesische Karte der vergangenen sieben Jahrhunderte und stellt jenen Teil der Welt dar, den die Chinesen seinerzeit kannten: vom Indischen Ozean im Westen bis zu den Gewürzinseln im Osten und von Java im Süden bis zu Japan im Norden“. Weil John Selden sie aufbewahrte, obwohl er die chinesischen Schriftzeichen nicht lesen konnte, ist sie erhalten geblieben, ein absolutes Unikat, von Hand gezeichnet und gemalt.
Brook begibt sich nun auf nahezu alle Spuren, die sich von der Karte aus verfolgen lassen. Also lernen wir erst einmal den großen John Selden kennen, den juristischen Gegenspieler des nicht minder großen Niederländers Hugo Grotius, der eben das Mare Liberum, die freie See, propagierte im Sinne seiner Auftraggeber, der Niederländischen Vereinigten Ostindienkompanie, die Freihandel gewährleistet sehen wollte auf allen Meeren. John Selden hielt im Auftrag der britischen Krone dagegen mit Mare clausum, die geschlossene See. Beide Traktate gehören zu den Gründungsschriften des modernen Völkerrechts. So wie Brook einem Leben, Streben, Forschen und Schreiben im nachelisabethanischen England farbenprächtig und saftig nahebringt, dringt er auch in die Welt des Handels und Wandels in den Gewässern der Ming-Dynastie ein, wo Europäer und Asiaten nichts anderes als Geschäfte machen wollten. Er erzählt vom chinesischen Enzyklopädisten Zhang Huang, der das Wissen seiner Zeit festhielt, oder von Zhang Xie, der sich meerverliebt in eine „Studie der östlichen und westlichen Meere“ vertiefte, aber selbst wohl nie in See gestochen ist. Natürlich muss Brook auch die sehr unterschiedlichen Verfahrensweisen und Ansichten von europäischen und chinesischen Kartografen erläutern, um der ominösen Karte des Mr. Selden in ihrer Entstehung und Besonderheit näherzukommen, sie besser lesen und verstehen zu können.
Allmählich entfaltet sich, all diesen Pfaden und Expeditionen folgend, ein ungemein vielgestaltiges tiefenscharfes Bild einer ganzen Weltepoche, ein Panorama des globalen Handels, der gegenseitigen Interessenverwicklungen und -klärungen, ein reger Austausch von Handelsgütern, ebenso von Wissen und Kunst. Anfangs unmerklich, aber dann unausweichlich wird die ungeheure Aufbruchs- und Veränderungskraft dieses Austauschs um die ganze Welt klar, der alle und alles ergreift und berührt, der in Shakespeares „Sturm“ genauso hineinspielt wie er die Entstehung des Orientalismus und der ostasiatischen Wissenschaften befördert, damit auch die wachsenden Bibliotheken. Und der Streit um freie und geschlossene See wirkt aktuell fort: etwa in den brisanten Streitereien zwischen China und seinen Nachbarn um den Besitz von Inseln aus strategischen oder ökonomischen Gründen.
Am Ende all dieser fesselnden Ausfahrten, dieser Untersuchungen von chinesischen Kompassen, der Lektüre von Tagebüchern der Navigatoren und Abenteurer – man denke etwa an den englischen Steuermann Will Adams, der 1600 in Japan strandete und dessen Schicksal James Clavell für seinen Bestseller „Shogun“ benutzte – wendet Brook seinen bewundernd-prüfenden Blick erneut der Karte zu, die nun einige ihrer Geheimnisse preisgibt: dass sie nämlich keine Landkarte, sondern eine Karte ist, die die Handelsrouten im chinesischen Meer auf einzigartige Weise festhält. Wie verblüffend und genial genau der immer noch anonyme chinesische Kartograf dabei vorging, das muss jeder in diesem hinreißend geschichtenreichen Buch selbst lesen.
Timothy Brook: Wie China nach Europa kam. Die unerhörte Karte des Mr. Selden. Aus dem Englischen von Robin Cackett. Verlag Klaus Wagenbach, Berlin 2015. 224 Seiten, 24,90 Euro.
John Selden gehörte zu
denen, die das moderne
Völkerrecht schufen
Der Streit um freie
und geschlossene See
wirkt aktuell fort
John Seldens berühmte Karte bewahrt bis heute ihre magische Qualität. Oben ist sie im Original zu sehen, darunter in georeferenzierter Form, das heißt den heutigen geologischen Daten und Koordinaten angepasst. Unten rechts ein Porträt von John Selden im
späteren Leben.
Fotos: Bodleian LibraryStudio Peter Lely/National Portrait Gallery, LondoN
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
bleibt offen
Timothy Brook erzählt von den
Geheimnissen einer einzigartigen Karte
aus dem China des 17. Jahrhunderts
VON HARALD EGGEBRECHT
Selten geschieht es, dass ein Buch so viele verschiedene Regungen erweckt und so viele Erregungen zu befriedigen weiß, von denen manche erst beim Lesen entstehen: Neugier und Wissbegier, Spannung und Abenteuerlust, Überraschung und Freude am Suchen und Finden, schließlich Spaß am Rätsellösen und an der Erhellung von Unwissenheit. Timothy Brook, bekannter Sinologe mit besonderem Gewicht auf der Sozial- und Kulturgeschichte der Ming-Dynastie, Dozent in Oxford und Professor an der University of British Columbia in Vancouver, Kanada, hat es geschrieben, und es ist wieder einmal ein glänzender Beleg für die angelsächsische Fähigkeit, auch strenge wissenschaftliche Recherche stets in einen so wunderbar plausiblen Erzählzusammenhang zu bringen, dass weder der Fachmann noch der interessierte Leser enttäuscht wird, sondern am Ende beide wahrlich mehr wissen und einen helleren Blick auf die Welt haben können als zuvor.
Der Einstieg in dieses außergewöhnliche Labyrinth, das nicht nur ins England Shakespeares und Ben Jonsons führt, sondern auch in die verzwickten Handelsvernetzungen im Chinesischen Meer zwischen Chinesen, Europäern, Japanern, aber auch in die Streitereien, ob das Meer offen und frei sei für jedermann oder ob es wie Land in Besitz genommen und damit Eigentum eines Landes werden könne, der Einstieg ist eine Karte, 160 cm lang und
96 1/2cm breit, die in der ehrwürdigen Bodleian Library in Oxford 2009 entdeckt wurde. Sie stammt aus dem Besitz des britischen Rechtsgelehrten John Selden, der sie mit anderen Bücherschätzen der Bibliothek 1654 testamentarisch vermacht hat. Mehr als vierhundert Jahre ruht diese „Karte von China daselbst und in Farbe gemacht“ im Dunkel der Bibliothek. Dann wird sie wiederentdeckt, Timothy Brook schaut sie sich an, und für ihn ist, nach seiner ausgedehnten Forschungsarbeit, dies „die bedeutendste chinesische Karte der vergangenen sieben Jahrhunderte und stellt jenen Teil der Welt dar, den die Chinesen seinerzeit kannten: vom Indischen Ozean im Westen bis zu den Gewürzinseln im Osten und von Java im Süden bis zu Japan im Norden“. Weil John Selden sie aufbewahrte, obwohl er die chinesischen Schriftzeichen nicht lesen konnte, ist sie erhalten geblieben, ein absolutes Unikat, von Hand gezeichnet und gemalt.
Brook begibt sich nun auf nahezu alle Spuren, die sich von der Karte aus verfolgen lassen. Also lernen wir erst einmal den großen John Selden kennen, den juristischen Gegenspieler des nicht minder großen Niederländers Hugo Grotius, der eben das Mare Liberum, die freie See, propagierte im Sinne seiner Auftraggeber, der Niederländischen Vereinigten Ostindienkompanie, die Freihandel gewährleistet sehen wollte auf allen Meeren. John Selden hielt im Auftrag der britischen Krone dagegen mit Mare clausum, die geschlossene See. Beide Traktate gehören zu den Gründungsschriften des modernen Völkerrechts. So wie Brook einem Leben, Streben, Forschen und Schreiben im nachelisabethanischen England farbenprächtig und saftig nahebringt, dringt er auch in die Welt des Handels und Wandels in den Gewässern der Ming-Dynastie ein, wo Europäer und Asiaten nichts anderes als Geschäfte machen wollten. Er erzählt vom chinesischen Enzyklopädisten Zhang Huang, der das Wissen seiner Zeit festhielt, oder von Zhang Xie, der sich meerverliebt in eine „Studie der östlichen und westlichen Meere“ vertiefte, aber selbst wohl nie in See gestochen ist. Natürlich muss Brook auch die sehr unterschiedlichen Verfahrensweisen und Ansichten von europäischen und chinesischen Kartografen erläutern, um der ominösen Karte des Mr. Selden in ihrer Entstehung und Besonderheit näherzukommen, sie besser lesen und verstehen zu können.
Allmählich entfaltet sich, all diesen Pfaden und Expeditionen folgend, ein ungemein vielgestaltiges tiefenscharfes Bild einer ganzen Weltepoche, ein Panorama des globalen Handels, der gegenseitigen Interessenverwicklungen und -klärungen, ein reger Austausch von Handelsgütern, ebenso von Wissen und Kunst. Anfangs unmerklich, aber dann unausweichlich wird die ungeheure Aufbruchs- und Veränderungskraft dieses Austauschs um die ganze Welt klar, der alle und alles ergreift und berührt, der in Shakespeares „Sturm“ genauso hineinspielt wie er die Entstehung des Orientalismus und der ostasiatischen Wissenschaften befördert, damit auch die wachsenden Bibliotheken. Und der Streit um freie und geschlossene See wirkt aktuell fort: etwa in den brisanten Streitereien zwischen China und seinen Nachbarn um den Besitz von Inseln aus strategischen oder ökonomischen Gründen.
Am Ende all dieser fesselnden Ausfahrten, dieser Untersuchungen von chinesischen Kompassen, der Lektüre von Tagebüchern der Navigatoren und Abenteurer – man denke etwa an den englischen Steuermann Will Adams, der 1600 in Japan strandete und dessen Schicksal James Clavell für seinen Bestseller „Shogun“ benutzte – wendet Brook seinen bewundernd-prüfenden Blick erneut der Karte zu, die nun einige ihrer Geheimnisse preisgibt: dass sie nämlich keine Landkarte, sondern eine Karte ist, die die Handelsrouten im chinesischen Meer auf einzigartige Weise festhält. Wie verblüffend und genial genau der immer noch anonyme chinesische Kartograf dabei vorging, das muss jeder in diesem hinreißend geschichtenreichen Buch selbst lesen.
Timothy Brook: Wie China nach Europa kam. Die unerhörte Karte des Mr. Selden. Aus dem Englischen von Robin Cackett. Verlag Klaus Wagenbach, Berlin 2015. 224 Seiten, 24,90 Euro.
John Selden gehörte zu
denen, die das moderne
Völkerrecht schufen
Der Streit um freie
und geschlossene See
wirkt aktuell fort
John Seldens berühmte Karte bewahrt bis heute ihre magische Qualität. Oben ist sie im Original zu sehen, darunter in georeferenzierter Form, das heißt den heutigen geologischen Daten und Koordinaten angepasst. Unten rechts ein Porträt von John Selden im
späteren Leben.
Fotos: Bodleian LibraryStudio Peter Lely/National Portrait Gallery, LondoN
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Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
Was für ein Buch, ruft ein begeisterter Rezensent Harald Eggebrecht nach der Lektüre von Timothy Brooks Werk "Wie China nach Europa kam". Dem Sinologen gelingt es, Neugier, Spannung und Abenteuerlust, Lust am Rätsellösen und Wissbegierde zu erwecken und zugleich zu befriedigen, verspricht der Kritiker, der dem Buch einen helleren Blick auf die Welt zu verdanken hat. Derart begeistert begleitet der Rezensent den Autor bei seiner Forschungsreise über eine erst im Jahre 2009 entdeckte Karte aus dem China des 17. Jahrhunderts, an der Brook nicht nur die vertrackten Handelsvernetzungen im Chinesischen Meer zwischen Chinesen, Europäern und Japanern abliest, sondern auch über die Streitereien informiert, ob das Meer offen und frei oder Eigentum eines Landes sei. Großartig, wie farbenprächtig und "saftig" der Autor auch dem Leben, Forschen und Schreiben im nachelisabethanischen England oder dem Handel in der Ming-Dynastie nachspürt, findet der Kritiker, der in diesem klugen Porträt einer ganzen Weltepoche nicht zuletzt einiges über Kartografie erfährt.
© Perlentaucher Medien GmbH
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