Wie funktioniert unser Gehirn? Wie entstehen die Gedanken? Mit diesem Buch gewährt der renommierte amerikanische Professor für Kognitionswissenschaft Steven Pinker Einblicke in das menschliche Gehirn, in die Fabrik unseres Denkens. Er untersucht, warum es sich im Laufe der Zeiten so und nicht anders entwickelt hat, fragt, z.B., warum uns Kunst und Musik so anrühren, warum wir uns vor bestimmten Dingen ekeln oder wie und warum die 3-D-Bilder des "Magischen Auges" funktionieren.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 03.11.1998Der Geist ist ein Brüller
Steven Pinkers Hirnmaschine Von Bernhard Dotzler
Glückliches Amerika! Dort, hört man, herrscht der Möglichkeitssinn ebenso wie der Wille, aus möglichen Anwendungen wirkliche werden zu lassen. So können dort Bücher entstehen, deren Kapitel so einfache und zugleich vielversprechende Überschriften haben wie "Gute Ideen". Eine dieser Ideen ist freilich einem Briten zu verdanken. "Ursprung des Menschen jetzt bewiesen. Wer die Affen versteht, tut mehr für die Metaphysik als Locke", notierte der in sein Tagebuch. Und darunter: "Platon sagt, unsere ,imaginären Ideen' entstünden aus der Präexistenz der Seele und ließen sich nicht aus der Erfahrung ableiten - lies Affen als Präexistenz."
Der Autor dieser Zeilen war Charles Darwin. Für immer unbekannt wird dagegen wohl bleiben, wem sich die Idee des sogenannten reverse engineering verdankt. Sie wird einfach praktiziert, etwa "von den Burschen bei Sony, wenn Panasonic ein neues Produkt auf den Markt bringt", erläutert Steven Pinker, und ihr Erfolgsgeheimnis heißt: Ein Gerät, das es schon gibt, muß nicht noch einmal neu erfunden werden; klüger ist, es auseinanderzunehmen, um zu verstehen, wie es funktioniert, und danach dann die eigene Erfindung auf den Markt zu bringen.
Beide Ideen zusammen ergeben das neue große Buch des Kognitionswissenschaftlers Steven Pinker, der vor zwei Jahren bereits mit einer umfangreichen Studie über den "Sprachinstinkt" (F.A.Z. vom 2. April 1996) Aufsehen erregte. Nach Darwin lassen sich Vielfalt und Vollkommenheit der Tier- und Pflanzenwelt dadurch begreifen, daß man den Nutzen erkennt, den die zufällig entstandenen Ausformungen ihrer Organe für die Überlebens- und Fortpflanzungsfähigkeit haben. Man betrachtet also in einer scheinbaren Umkehrung von Ursache und Wirkung die Dienlichkeit der Organe, um ihre Entstehung herzuleiten. Vielleicht ist deshalb Darwin schon die Idee des reverse engineering zuzuschreiben - meint jedenfalls Pinker. Er selbst möchte nach diesem Prinzip "nicht nur die Komplexität des Körpers erklären, sondern auch die Komplexität des Geistes". In seinem neuen Buch geht es um die geistigen Fähigkeiten insgesamt, um Wahrnehmung, Denken und Fühlen, um Wissenschaft, Sozialverhalten, Kunst und Religion.
Sie alle werden in einem ersten Schritt auf den Kopf oder, genauer, das Gehirn gestellt, damit ein zweiter Schritt dieses Gehirn als Produkt der biologischen Evolution ausweisen kann. Wie das Gehirn funktioniert, lernt man vermittels der "Computertheorie des Geistes". Pinker resümiert deshalb zuerst die Künstliche-Intelligenz-Forschung von den anfänglichen Modellen symbolverarbeitender Maschinen bis hin zur Konstruktion neuronaler Netze, mit denen versucht wird, die natürliche Arbeitsweise des Gehirns - und zumal seine Lernfähigkeit - nachzuahmen. Aber wenn man so auch allmählich hinter das Geheimnis kommen mag, wie der Mensch denkt, bleibt immer noch zu fragen, warum der Mensch so und nicht anders denkt. "Wie das Denken im Kopf entsteht", muß daher auch in seiner Genese nachgezeichnet werden. Immerhin hat so ein Gehirn erhebliche Nachteile. Es verlangsamt die Reaktionen und erschwert die Geburt. Dennoch gilt: "Der Geist ist ein biologischer Apparat. Wir besitzen ihn, weil seine Konstruktion Ergebnisse ermöglicht, deren Nutzen im Leben afrikanischer Primaten im Plio-/Pleistozän schwerer wog als ihre Kosten."
Das menschliche Gehirn entpuppt sich mithin als durchaus vorsintflutliches Organ. Die Eigenliebe des modernen Menschen mag das kränken. Haben wir seither etwa nichts dazugelernt? Vielerlei, verrät Pinker - und bleibt doch unbeirrbar: "An diese längst verschwundene Lebensweise ist unser Gehirn angepaßt, nicht an die vergleichsweise brandneue Zivilisation mit Landwirtschaft und Industrie", von "Hochtechnologie" wie Computern gar nicht zu reden. Und beides bestätigt das Buch denn auch: Wir haben dazugelernt, sonst würde niemand von Geist und Computern überhaupt wissen; und wir lernen doch wenig und langsam, sonst hielte niemand Bücher wie dieses für neu.
Denn alle drei Grundideen sind seit längerem schon bekannt: die Computertheorie der Intelligenz, die Theorie der biologischen Evolution auch des Geistes und die Kombination beider Aspekte. Pinkers Leistung bestünde demnach vor allem in der weit ausgreifenden Zusammenschau der in diesem "Jahrzehnt des Gehirns" immens angeschwollenen Fachliteratur. Sein Buch ist, wenn man so will, eine riesige Sammelrezension, aber der unterhaltsamen Art. Eine Fülle von Beispielen, Gedankenexperimenten, Denksportaufgaben und psychologischen Experimenten sorgt für die nötige Abwechslung. Immer wieder freilich geraten sie auch zur Abschweifung, die ihren Gegenstand mehr zerredet als illustriert. Man merkt es dem Buch von der ersten bis zur letzten Zeile an, daß es nicht nur seine Wissenschaft popularisieren, sondern selber populär werden will.
Aber wenn die Kunst, bei der Sache zu bleiben, offenbar nicht des Autors dringendstes Anliegen ist, ist womöglich die Sache selbst in anderem zu suchen. Die Grundbehauptung ist rasch auf den Punkt gebracht: "Der Geist ist ein System von Rechenorganen, das von der natürlichen Selektion so gestaltet wurde, daß es die Probleme unserer Vorfahren und ihres Jäger-und-Sammler-Lebens lösen kann, insbesondere indem es Gegenstände, Pflanzen, Tiere und andere Menschen versteht und überlistet." Schwierig dagegen sind ausgerechnet die unzähligen Beispiele, die das Verständnis erleichtern sollen. Im Kern geht es um den Nachweis, daß die biologische Evolution in Gestalt von Gehirnen nicht nur "leere" neuronale Netze entstehen ließ, sondern "Geist", das heißt neuronale Netze, in denen die höheren Fähigkeiten logischen Schließens, begrifflicher Abstraktion und so weiter programmiert sind. Auch die Urmenschen konnten denken, und wir denken - biologisch gesehen - noch nicht sehr viel besser. So wäre etwa die Mathematik keine Innovation, auf die der Mensch erst einmal kommen mußte, sondern (mit einer von Pinker mehrfach bemühten Vokabel) "Teil unseres Geburtsrechts".
Anstatt jedoch seine These kurz und prägnant in den Raum zu stellen, scheint Pinker eher Stimmung für die in seinen Augen richtige Welterklärung erzeugen zu wollen. Und dafür ist die Dichte der Beispiele nützlich. Wie schon in seinem letzten Buch wird der Gegner unter der Bezeichnung "Sozialwissenschaftliches Standardmodell" namhaft gemacht. Diesem zufolge soll "die biologische Evolution durch die kulturelle Evolution abgelöst" worden sein. Schluß mit diesem Unsinn, ruft nun auch das neue Buch und versucht, das weite Feld, auf dem sonst die Sozial- und Kulturwissenschaften zu Rate gezogen werden, mit seinen Fallgeschichten aus Verhaltensforschung und Experimentalpsychologie zu besetzen. Es sei der Mensch, statt aus seiner Kultur, wieder aus seinen biologisch fundierten "Überzeugungen und Wünschen" heraus zu begreifen.
Das Buch verkörpert damit - mehr als daß es ihn formuliert - einen Anspruch der Naturwissenschaften gegenüber Sozial- und Kulturtheorien, der aus einer szientistisch dominierten Vergangenheit stammt, in jüngster Zeit aber neu auf den Plan tritt. Es hat insofern symptomatischen Wert. Aber nicht immer mehren oder erhärten sich die Beweise, nur weil einer viel und lange spricht. Ein treffendes Beispiel verrät oft mehr als tausend Worte. So auch hier. Daß Pinker, wo er seinen Gegner beim Namen nennt, den Kalauer der Rede von psychological correctness nicht umgehen kann, sagt alles über die Schatten, gegen die er eigentlich kämpft. Armes Amerika.
Steven Pinker: "Wie das Denken im Kopf entsteht". Aus dem Amerikanischen von Martina Wiese und Sebastian Vogel. Kindler Verlag, München 1998. 768 S., geb., 78,- DM.
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Steven Pinkers Hirnmaschine Von Bernhard Dotzler
Glückliches Amerika! Dort, hört man, herrscht der Möglichkeitssinn ebenso wie der Wille, aus möglichen Anwendungen wirkliche werden zu lassen. So können dort Bücher entstehen, deren Kapitel so einfache und zugleich vielversprechende Überschriften haben wie "Gute Ideen". Eine dieser Ideen ist freilich einem Briten zu verdanken. "Ursprung des Menschen jetzt bewiesen. Wer die Affen versteht, tut mehr für die Metaphysik als Locke", notierte der in sein Tagebuch. Und darunter: "Platon sagt, unsere ,imaginären Ideen' entstünden aus der Präexistenz der Seele und ließen sich nicht aus der Erfahrung ableiten - lies Affen als Präexistenz."
Der Autor dieser Zeilen war Charles Darwin. Für immer unbekannt wird dagegen wohl bleiben, wem sich die Idee des sogenannten reverse engineering verdankt. Sie wird einfach praktiziert, etwa "von den Burschen bei Sony, wenn Panasonic ein neues Produkt auf den Markt bringt", erläutert Steven Pinker, und ihr Erfolgsgeheimnis heißt: Ein Gerät, das es schon gibt, muß nicht noch einmal neu erfunden werden; klüger ist, es auseinanderzunehmen, um zu verstehen, wie es funktioniert, und danach dann die eigene Erfindung auf den Markt zu bringen.
Beide Ideen zusammen ergeben das neue große Buch des Kognitionswissenschaftlers Steven Pinker, der vor zwei Jahren bereits mit einer umfangreichen Studie über den "Sprachinstinkt" (F.A.Z. vom 2. April 1996) Aufsehen erregte. Nach Darwin lassen sich Vielfalt und Vollkommenheit der Tier- und Pflanzenwelt dadurch begreifen, daß man den Nutzen erkennt, den die zufällig entstandenen Ausformungen ihrer Organe für die Überlebens- und Fortpflanzungsfähigkeit haben. Man betrachtet also in einer scheinbaren Umkehrung von Ursache und Wirkung die Dienlichkeit der Organe, um ihre Entstehung herzuleiten. Vielleicht ist deshalb Darwin schon die Idee des reverse engineering zuzuschreiben - meint jedenfalls Pinker. Er selbst möchte nach diesem Prinzip "nicht nur die Komplexität des Körpers erklären, sondern auch die Komplexität des Geistes". In seinem neuen Buch geht es um die geistigen Fähigkeiten insgesamt, um Wahrnehmung, Denken und Fühlen, um Wissenschaft, Sozialverhalten, Kunst und Religion.
Sie alle werden in einem ersten Schritt auf den Kopf oder, genauer, das Gehirn gestellt, damit ein zweiter Schritt dieses Gehirn als Produkt der biologischen Evolution ausweisen kann. Wie das Gehirn funktioniert, lernt man vermittels der "Computertheorie des Geistes". Pinker resümiert deshalb zuerst die Künstliche-Intelligenz-Forschung von den anfänglichen Modellen symbolverarbeitender Maschinen bis hin zur Konstruktion neuronaler Netze, mit denen versucht wird, die natürliche Arbeitsweise des Gehirns - und zumal seine Lernfähigkeit - nachzuahmen. Aber wenn man so auch allmählich hinter das Geheimnis kommen mag, wie der Mensch denkt, bleibt immer noch zu fragen, warum der Mensch so und nicht anders denkt. "Wie das Denken im Kopf entsteht", muß daher auch in seiner Genese nachgezeichnet werden. Immerhin hat so ein Gehirn erhebliche Nachteile. Es verlangsamt die Reaktionen und erschwert die Geburt. Dennoch gilt: "Der Geist ist ein biologischer Apparat. Wir besitzen ihn, weil seine Konstruktion Ergebnisse ermöglicht, deren Nutzen im Leben afrikanischer Primaten im Plio-/Pleistozän schwerer wog als ihre Kosten."
Das menschliche Gehirn entpuppt sich mithin als durchaus vorsintflutliches Organ. Die Eigenliebe des modernen Menschen mag das kränken. Haben wir seither etwa nichts dazugelernt? Vielerlei, verrät Pinker - und bleibt doch unbeirrbar: "An diese längst verschwundene Lebensweise ist unser Gehirn angepaßt, nicht an die vergleichsweise brandneue Zivilisation mit Landwirtschaft und Industrie", von "Hochtechnologie" wie Computern gar nicht zu reden. Und beides bestätigt das Buch denn auch: Wir haben dazugelernt, sonst würde niemand von Geist und Computern überhaupt wissen; und wir lernen doch wenig und langsam, sonst hielte niemand Bücher wie dieses für neu.
Denn alle drei Grundideen sind seit längerem schon bekannt: die Computertheorie der Intelligenz, die Theorie der biologischen Evolution auch des Geistes und die Kombination beider Aspekte. Pinkers Leistung bestünde demnach vor allem in der weit ausgreifenden Zusammenschau der in diesem "Jahrzehnt des Gehirns" immens angeschwollenen Fachliteratur. Sein Buch ist, wenn man so will, eine riesige Sammelrezension, aber der unterhaltsamen Art. Eine Fülle von Beispielen, Gedankenexperimenten, Denksportaufgaben und psychologischen Experimenten sorgt für die nötige Abwechslung. Immer wieder freilich geraten sie auch zur Abschweifung, die ihren Gegenstand mehr zerredet als illustriert. Man merkt es dem Buch von der ersten bis zur letzten Zeile an, daß es nicht nur seine Wissenschaft popularisieren, sondern selber populär werden will.
Aber wenn die Kunst, bei der Sache zu bleiben, offenbar nicht des Autors dringendstes Anliegen ist, ist womöglich die Sache selbst in anderem zu suchen. Die Grundbehauptung ist rasch auf den Punkt gebracht: "Der Geist ist ein System von Rechenorganen, das von der natürlichen Selektion so gestaltet wurde, daß es die Probleme unserer Vorfahren und ihres Jäger-und-Sammler-Lebens lösen kann, insbesondere indem es Gegenstände, Pflanzen, Tiere und andere Menschen versteht und überlistet." Schwierig dagegen sind ausgerechnet die unzähligen Beispiele, die das Verständnis erleichtern sollen. Im Kern geht es um den Nachweis, daß die biologische Evolution in Gestalt von Gehirnen nicht nur "leere" neuronale Netze entstehen ließ, sondern "Geist", das heißt neuronale Netze, in denen die höheren Fähigkeiten logischen Schließens, begrifflicher Abstraktion und so weiter programmiert sind. Auch die Urmenschen konnten denken, und wir denken - biologisch gesehen - noch nicht sehr viel besser. So wäre etwa die Mathematik keine Innovation, auf die der Mensch erst einmal kommen mußte, sondern (mit einer von Pinker mehrfach bemühten Vokabel) "Teil unseres Geburtsrechts".
Anstatt jedoch seine These kurz und prägnant in den Raum zu stellen, scheint Pinker eher Stimmung für die in seinen Augen richtige Welterklärung erzeugen zu wollen. Und dafür ist die Dichte der Beispiele nützlich. Wie schon in seinem letzten Buch wird der Gegner unter der Bezeichnung "Sozialwissenschaftliches Standardmodell" namhaft gemacht. Diesem zufolge soll "die biologische Evolution durch die kulturelle Evolution abgelöst" worden sein. Schluß mit diesem Unsinn, ruft nun auch das neue Buch und versucht, das weite Feld, auf dem sonst die Sozial- und Kulturwissenschaften zu Rate gezogen werden, mit seinen Fallgeschichten aus Verhaltensforschung und Experimentalpsychologie zu besetzen. Es sei der Mensch, statt aus seiner Kultur, wieder aus seinen biologisch fundierten "Überzeugungen und Wünschen" heraus zu begreifen.
Das Buch verkörpert damit - mehr als daß es ihn formuliert - einen Anspruch der Naturwissenschaften gegenüber Sozial- und Kulturtheorien, der aus einer szientistisch dominierten Vergangenheit stammt, in jüngster Zeit aber neu auf den Plan tritt. Es hat insofern symptomatischen Wert. Aber nicht immer mehren oder erhärten sich die Beweise, nur weil einer viel und lange spricht. Ein treffendes Beispiel verrät oft mehr als tausend Worte. So auch hier. Daß Pinker, wo er seinen Gegner beim Namen nennt, den Kalauer der Rede von psychological correctness nicht umgehen kann, sagt alles über die Schatten, gegen die er eigentlich kämpft. Armes Amerika.
Steven Pinker: "Wie das Denken im Kopf entsteht". Aus dem Amerikanischen von Martina Wiese und Sebastian Vogel. Kindler Verlag, München 1998. 768 S., geb., 78,- DM.
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