Wie vor über zwei Millionen Jahren Sprache entstand
Die Frage, wie es kommt, dass Menschen sprechen können, und ob sie dies seit Tausenden oder Millionen von Jahren tun, rührt an den Kern des Menschseins und sorgt immer wieder für leidenschaftliche Debatten. Hat sich die Sprache aus Tierlauten entwickelt oder aus Gesten? Ist Sprache als Werkzeug des Denkens entstanden? Aus der Beobachtung, dass Eltern fast überall auf der Welt mit ihrem Säugling in einer besonderen Babysprache reden, entwickelt die Anthropologin Dean Falk eine gänzlich neue Theorie vom Ursprung der Sprache: An ihrem Anfang wie auch am Anfang der Musik stand demnach der beruhigende, tröstende Singsang der Mütter, die ihre Kinder nicht zu allen Zeiten am Körper halten konnten.
Ein Buch voll faszinierender Beobachtungen und Erkenntnisse zur Entwicklung des Menschen, seiner Kommunikation, der Musik und auch der Kunst.
Die Frage, wie es kommt, dass Menschen sprechen können, und ob sie dies seit Tausenden oder Millionen von Jahren tun, rührt an den Kern des Menschseins und sorgt immer wieder für leidenschaftliche Debatten. Hat sich die Sprache aus Tierlauten entwickelt oder aus Gesten? Ist Sprache als Werkzeug des Denkens entstanden? Aus der Beobachtung, dass Eltern fast überall auf der Welt mit ihrem Säugling in einer besonderen Babysprache reden, entwickelt die Anthropologin Dean Falk eine gänzlich neue Theorie vom Ursprung der Sprache: An ihrem Anfang wie auch am Anfang der Musik stand demnach der beruhigende, tröstende Singsang der Mütter, die ihre Kinder nicht zu allen Zeiten am Körper halten konnten.
Ein Buch voll faszinierender Beobachtungen und Erkenntnisse zur Entwicklung des Menschen, seiner Kommunikation, der Musik und auch der Kunst.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 13.11.2010Weine nicht, wenn der Fressfeind kommt
Weil Mama kein Bauchfell hat: Die Anthropologin Dean Falk geht der Frage nach, warum Menscheneltern ständig auf ihren Nachwuchs einreden
Schimpansen sind geschwätzig. Doch im Umgang mit ihren Babys sind sie schweigsam, fast stumm. Menschenmütter (und manchmal auch Väter) hingegen reden vom ersten Moment an ständig mit ihrem Nachwuchs, in einer besonderen Tonlage und mit einer besonderen Sprachmelodie, für die sich die Bezeichnung "Ammensprache" eingebürgert hat. Wer den Ursprung der Sprache verstehen will, muss diesen Unterschied zwischen dem Verhalten von Menschen und dem ihrer nächsten Verwandten verstehen, meint die Anthropologin und Neurowissenschaftlerin Dean Falk von der Florida State University.
Schimpansenbabys kommen so hilflos und schutzbedürftig auf die Welt wie Menschenbabys. Ihre Mütter sind besorgt, machen deshalb in der ersten Zeit am liebsten alles allein und schleppen die Kinder auf Schritt und Tritt mit sich herum. In den ersten Wochen müssen sie die Kleinen dazu festhalten, dann sind diese kräftig genug, sich selbst an das mütterliche Bauchfell zu klammern und später auf ihrem Rücken zu reiten. Diese Last bremst die Mütter erheblich, oft können sie mit ihrer Gruppe nicht mehr Schritt halten. Dennoch kämen sie nie auf die Idee, die Kinder einfach abzulegen, während sie Nahrung oder einen Schlafplatz suchen. Dies, so Falk, ist der entscheidende Unterschied: Ein Menschenkind kann sich nicht am Bauchfell der Mutter festklammern, also braucht Mutter ständig mindestens eine Hand, um es festzuhalten. Wenn die Mutter jedoch beide Hände braucht, etwa um eine Wurzel auszugraben, und kein Babysitter zur Verfügung steht, legt sie das Kind ab. Dies geschah vor vielleicht drei Millionen Jahren zum ersten Mal. Bis heute antworten Babys auf Ablegen mit empörtem Geschrei. Was heute nervt, war in der Vor- und Frühgeschichte der Menschheit lebensgefährlich, denn der Lärm lockte Fressfeinde an. Also musste die Mutter den Nachwuchs beruhigen und signalisieren, dass sie ganz in der Nähe ist. Sie summte und sang, verwickelte ihr Baby mit Koselauten in einen spielerischen lautlichen Austausch, und irgendwann sprach sie. PTBD-Hypothese nennt Falk das - "putting the baby down".
Die Evolutionsforschung hat sich mit Müttern und Großmüttern, aber kaum mit der Rolle der Kinder befasst, so Falk, dabei sei die Sprache letztlich entstanden, weil die Menschenkinder die Fähigkeit (und die Möglichkeit) verloren, sich an ihren Müttern festzuklammern. Dass die Kinder immer unreifer auf die Welt kamen, war demnach ein Experiment der Natur, das mit der systematischen Trennung von Mutter und Kind einherging. Ein Experiment, das zu einem der ersten Werkzeuge der Menschheitsgeschichte führte, dem Tragetuch. Doch Kinder, die zu groß sind, um sie zu tragen, aber zu klein, um mit den Erwachsenen Schritt zu halten, stellten sie vor neue Probleme. Das führte zur Erfindung der Kinderbetreuung und vermutlich auch des Schlafens auf dem Boden statt im Geäst. Falk zieht Studien über freilebende und gefangene Schimpansen heran und versucht in nichtindustrialisierten Kulturen dem "Wesen der Mutterschaft" auf die Spur zu kommen. Sie zeigt, dass alle Kulturen eine Ammensprache kennen, und deutet den melodischen Singsang, mit dem Mütter ihre Kinder weltweit beruhigen, als deren Vorläufer. Die Ammensprache zeigt den Kindern die Rhythmen der Muttersprache, hilft beim Erlernen von Wortschatz und Grammatik. Forscher konnten zeigen, dass sich das Schreien des Säuglings in den ersten Monaten rasant auf die Sprachmelodie der Muttersprache einstellt. Dies ist ein erster Schritt zum Lallen und später zum Brabbeln. Das Säuglingslamento könnte das fehlende Glied in vielen Theorien der Sprachentstehung sein.
Musik und Gesang erscheinen in dieser Perspektive nicht länger als evolutionär überflüssige Nebenprodukte, sondern gehen mit der Entwicklung der Sprache Hand in Hand. So finden sich im Englischen und im Französischen Rhythmus und Tonfall der gesprochenen Sprache in der Musik des jeweiligen Landes wieder. Auch in der Hirnforschung findet Falk Bestätigung: Die für die Mutter-Kind-Kommunikation zentralen Hirnregionen sind evolutionsgeschichtlich alt und auch beim Sprechen im Einsatz. Entwicklungspsychologen ergänzen Falks Theorie um die Bedeutung von Kinderliedern und Ammensprache für die Fähigkeit der Kinder zur Interaktion und zum Ausdruck von Emotionen. Den Gegensatz zwischen laut- und gestenbasierten Theorien zur Sprachentstehung hält Falk ebenfalls für künstlich: Auch in der Gebärdensprache gibt es eine Ammensprache und "lallende Hände". Falk hebt in ihrem gut lesbaren und vielseitigen Buch einen neuen Aspekt hervor, der in der Entstehung der Sprache eine entscheidende Rolle gespielt haben mag. Schade ist, dass sie ihn als den einzigen statt als einen Aspekt unter anderen betrachtet. Manche Argumente wirken weit hergeholt, und es wird nicht klar, warum das Beruhigen von Kindern an die Stelle anstatt neben die Verständigung bei der Jagd treten sollte.
MANUELA LENZEN
Dean Falk: "Wie die Menschheit zur Sprache fand."Mütter, Kinder und der Ursprung des Sprechens. Aus dem Englischen von Susanne Kuhlmann-Krieg.
DVA, München 2010. 320 S., geb., 24,99 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Weil Mama kein Bauchfell hat: Die Anthropologin Dean Falk geht der Frage nach, warum Menscheneltern ständig auf ihren Nachwuchs einreden
Schimpansen sind geschwätzig. Doch im Umgang mit ihren Babys sind sie schweigsam, fast stumm. Menschenmütter (und manchmal auch Väter) hingegen reden vom ersten Moment an ständig mit ihrem Nachwuchs, in einer besonderen Tonlage und mit einer besonderen Sprachmelodie, für die sich die Bezeichnung "Ammensprache" eingebürgert hat. Wer den Ursprung der Sprache verstehen will, muss diesen Unterschied zwischen dem Verhalten von Menschen und dem ihrer nächsten Verwandten verstehen, meint die Anthropologin und Neurowissenschaftlerin Dean Falk von der Florida State University.
Schimpansenbabys kommen so hilflos und schutzbedürftig auf die Welt wie Menschenbabys. Ihre Mütter sind besorgt, machen deshalb in der ersten Zeit am liebsten alles allein und schleppen die Kinder auf Schritt und Tritt mit sich herum. In den ersten Wochen müssen sie die Kleinen dazu festhalten, dann sind diese kräftig genug, sich selbst an das mütterliche Bauchfell zu klammern und später auf ihrem Rücken zu reiten. Diese Last bremst die Mütter erheblich, oft können sie mit ihrer Gruppe nicht mehr Schritt halten. Dennoch kämen sie nie auf die Idee, die Kinder einfach abzulegen, während sie Nahrung oder einen Schlafplatz suchen. Dies, so Falk, ist der entscheidende Unterschied: Ein Menschenkind kann sich nicht am Bauchfell der Mutter festklammern, also braucht Mutter ständig mindestens eine Hand, um es festzuhalten. Wenn die Mutter jedoch beide Hände braucht, etwa um eine Wurzel auszugraben, und kein Babysitter zur Verfügung steht, legt sie das Kind ab. Dies geschah vor vielleicht drei Millionen Jahren zum ersten Mal. Bis heute antworten Babys auf Ablegen mit empörtem Geschrei. Was heute nervt, war in der Vor- und Frühgeschichte der Menschheit lebensgefährlich, denn der Lärm lockte Fressfeinde an. Also musste die Mutter den Nachwuchs beruhigen und signalisieren, dass sie ganz in der Nähe ist. Sie summte und sang, verwickelte ihr Baby mit Koselauten in einen spielerischen lautlichen Austausch, und irgendwann sprach sie. PTBD-Hypothese nennt Falk das - "putting the baby down".
Die Evolutionsforschung hat sich mit Müttern und Großmüttern, aber kaum mit der Rolle der Kinder befasst, so Falk, dabei sei die Sprache letztlich entstanden, weil die Menschenkinder die Fähigkeit (und die Möglichkeit) verloren, sich an ihren Müttern festzuklammern. Dass die Kinder immer unreifer auf die Welt kamen, war demnach ein Experiment der Natur, das mit der systematischen Trennung von Mutter und Kind einherging. Ein Experiment, das zu einem der ersten Werkzeuge der Menschheitsgeschichte führte, dem Tragetuch. Doch Kinder, die zu groß sind, um sie zu tragen, aber zu klein, um mit den Erwachsenen Schritt zu halten, stellten sie vor neue Probleme. Das führte zur Erfindung der Kinderbetreuung und vermutlich auch des Schlafens auf dem Boden statt im Geäst. Falk zieht Studien über freilebende und gefangene Schimpansen heran und versucht in nichtindustrialisierten Kulturen dem "Wesen der Mutterschaft" auf die Spur zu kommen. Sie zeigt, dass alle Kulturen eine Ammensprache kennen, und deutet den melodischen Singsang, mit dem Mütter ihre Kinder weltweit beruhigen, als deren Vorläufer. Die Ammensprache zeigt den Kindern die Rhythmen der Muttersprache, hilft beim Erlernen von Wortschatz und Grammatik. Forscher konnten zeigen, dass sich das Schreien des Säuglings in den ersten Monaten rasant auf die Sprachmelodie der Muttersprache einstellt. Dies ist ein erster Schritt zum Lallen und später zum Brabbeln. Das Säuglingslamento könnte das fehlende Glied in vielen Theorien der Sprachentstehung sein.
Musik und Gesang erscheinen in dieser Perspektive nicht länger als evolutionär überflüssige Nebenprodukte, sondern gehen mit der Entwicklung der Sprache Hand in Hand. So finden sich im Englischen und im Französischen Rhythmus und Tonfall der gesprochenen Sprache in der Musik des jeweiligen Landes wieder. Auch in der Hirnforschung findet Falk Bestätigung: Die für die Mutter-Kind-Kommunikation zentralen Hirnregionen sind evolutionsgeschichtlich alt und auch beim Sprechen im Einsatz. Entwicklungspsychologen ergänzen Falks Theorie um die Bedeutung von Kinderliedern und Ammensprache für die Fähigkeit der Kinder zur Interaktion und zum Ausdruck von Emotionen. Den Gegensatz zwischen laut- und gestenbasierten Theorien zur Sprachentstehung hält Falk ebenfalls für künstlich: Auch in der Gebärdensprache gibt es eine Ammensprache und "lallende Hände". Falk hebt in ihrem gut lesbaren und vielseitigen Buch einen neuen Aspekt hervor, der in der Entstehung der Sprache eine entscheidende Rolle gespielt haben mag. Schade ist, dass sie ihn als den einzigen statt als einen Aspekt unter anderen betrachtet. Manche Argumente wirken weit hergeholt, und es wird nicht klar, warum das Beruhigen von Kindern an die Stelle anstatt neben die Verständigung bei der Jagd treten sollte.
MANUELA LENZEN
Dean Falk: "Wie die Menschheit zur Sprache fand."Mütter, Kinder und der Ursprung des Sprechens. Aus dem Englischen von Susanne Kuhlmann-Krieg.
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Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
Burkhard Müller ist gnädig gestimmt im neuen Jahr. So grundsätzlich spekulativ, unvollständig und tendenziell feministisch diese Studie der Anthropologin Dean Falk auch daherkommt, Müller empfiehlt das Buch dennoch als Puzzleteil einer noch zu schreibenden Geschichte der Sprach- und Menschwerdung. Originell findet er Deans These von einer an der Stammesgeschichte orientierten Individualgeschichte, von "klanggeleiteter Zuwendung" (der Mutter dem Kind gegenüber) als Ursprung der Sprache auch. Dass der entscheidende Schritt zum abstrakten Sprechen damit noch nicht erklärt ist, wie Müller feststellt, scheint ihm Deans Verdienst kaum zu schmälern.
© Perlentaucher Medien GmbH
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