Dass die Zeit, dass Zeitprozesse, Zeitrichtungen, Zeitzyklen, Zeitpfeile dank eines immanenten Naturgesetzes unumkehrbar sind, ist von der modernen Physik als unrichtig erkannt worden. Aus dieser Erkenntnis hat sich eine Flut von neuen Problemen ergeben, in die sich die moderne Naturwissenschaft vertieft. Henning Genz antwortet auf die Fragen, ob die Zeit mit dem Urknall begonnen hat oder ob dieser bereits in einer zuvor schon gegebenen Zeit stattgefunden hat. Er erklärt, was es heißt, dass Einsteins Relativitätstheorie verschiedene Zeiten kennt, und er beschreibt die Beziehungen zwischen mikro- und makrophysikalischen Zeitrichtungen und die modernen Theorien von Zeitreisen durch Schwarze Löcher - und alles in einer klaren und verständlich geschriebenen Weise.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 01.10.1996Es tickt im Kopf, wo sonst?
Henning Genz denkt über die Zeit nach / Von Hartmut Hänsel
Was also ist Zeit? Wenn mich niemand danach fragt, weiß ich es, will ich es einem Fragenden erklären, weiß ich es nicht." Der Kirchenvater Augustin brachte auf den Punkt, wie sich unser emotionales Verhältnis zur Zeit von unserem intellektuellen abgrenzt. Henning Genz, der am Institut für Theoretische Teilchenphysik der Universität Karlsruhe lehrt, hat ein Buch geschrieben, das nicht unserer persönlichen Zeiterfahrung gilt, sondern dem Verständnis von der Zeit in den Naturwissenschaften von der Antike bis zur Gegenwart.
Welche Schwierigkeiten ein naturwissenschaftliches Verständnis von der Zeit den Philosophen des Altertums bereitete, zeigt sich am Schildkrötenparadoxon des Zenon von Elea. Der schnelle Achill, Sprintidol der Antike, tritt zu einem Wettlauf gegen eine Schildkröte an. Weil der Pelide zehnmal schneller läuft als die Schildkröte, erhält das Reptil einen Vorsprung. Das Rennen beginnt, und bald hat Achill die Startposition der Schildkröte erreicht, aber er hat sie noch nicht eingeholt, denn sie hat ihrerseits inzwischen eine Strecke zurückgelegt, die einem Zehntel ihrer ursprünglichen Startvorgabe entspricht. Während Achill nun dieses Zehntel zurücklegt, läuft die Schildkröte um ein Zehntel vom Zehntel, also um ein Hundertstel ihres anfänglichen Vorsprungs weiter. Es ist klar, daß sich dieser Vorgang unendlich oft wiederholen wird und Achill der Schildkröte immer näher kommt, ohne sie jedoch einzuholen, geschweige denn zu überholen. Erst im 17. Jahrhundert entwickeln Newton und Leibniz die mathematischen Werkzeuge zur Auflösung des Paradoxons: Funktion und Grenzwert.
Zeit ist bei Leibniz die "Ordnung der Körper hinsichtlich ihrer aufeinanderfolgenden Lagen" und somit durch die Existenz des Stofflichen bedingt. Die Newtonsche Mechanik beschreibt vereinfachte, reduzierte Systeme und folgert davon auf größere Systeme. Erfolgreich ist diese Vorgehensweise bei der Beschreibung der Bewegungen der Planeten im Sonnensystem. Hier werden die Bahnen jedes einzelnen Planeten um die Sonne für sich berechnet, die Einflüsse der übrigen Planeten werden dabei vernachlässigt.
Die Ordnung der aufeinanderfolgenden Lagen der Körper ist eine Frage der Geschwindigkeit, mit der sich ein Beobachter relativ zu den von ihm betrachteten Objekten bewegt. Das in der Relativitätstheorie konsequent angewandte Prinzip, daß die Lichtgeschwindigkeit für jeden Beobachter den gleichen endlichen Wert besitzt, egal ob er sich auf den beobachteten Gegenstand zu oder von ihm weg bewegt, führt dazu, daß die Reihenfolge von Ereignissen von sich mit unterschiedlichen Geschwindigkeiten bewegenden Beobachtern unterschiedlich registriert werden kann. Einer der populärsten Effekte der Speziellen Relativitätstheorie ist das Zwillingsparadoxon, nach dem ein Raumfahrer, der mit nahezu Lichtgeschwindigkeit unterwegs ist, langsamer altert als sein auf der Erde zurückgebliebener Zwillingsbruder. Die Allgemeine Relativitätstheorie beschreibt die Effekte von Beschleunigung und Schwerkraft auf zeitliche Abläufe. Eine Uhr geht um so langsamer, je stärker das Schwerefeld an ihrem Standort ist. Eine Uhr auf Meereshöhe geht gegenüber einer im Hochgebirge aufgestellten Uhr um jährlich einige millionstel Sekunden nach.
Über eine Richtung der Zeit jedoch machen die Beschreibungen von Abläufen bei Newton und Leibniz ebensowenig eine Aussage wie die Relativitätstheorie. Vorgänge, die in der einen Richtung ablaufen, könnten genausogut auch in der umgekehrten Richtung stattfinden.
Komplexere Systeme hingegen folgen Abläufen, die nur in einer zeitlichen Richtung plausibel erscheinen. Stellt man sich etwa einen gasgefüllten, geschlossenen Kasten vor, dessen Gasmoleküle sich anfangs alle in einer Hälfte befinden, so ist uns klar, daß sich die Moleküle schnell über den ganzen Kasten verteilen werden. Der umgekehrte Fall, daß sich die ungeordnet durch den Kasten fliegenden Moleküle von selbst in einer Hälfte ihres Behälters versammeln, widerspricht aller Erfahrung. Grundsätzlich ist der letztgenannte Fall durch kein Naturgesetz ausgeschlossen. Er ist jedoch so unwahrscheinlich, daß er selbst in Weltaltern niemals auftritt."Niemals" ist jedoch nicht in einem streng mathematischen Sinn zu verstehen. Die Richtung der Zeit ist damit - zumindest was den Bereich der alltäglichen Erfahrung betrifft - durch statistische Gesetze, die Aussagen über Wahrscheinlichkeiten machen, bestimmt. Die Welt bewegt sich in die Richtung der wahrscheinlicheren, der weniger geordneten Zustände.
Erst 1964 stieß man mit den damals modernsten Mitteln der Elementarteilchenphysik bei Untersuchungen des Zerfalls der neutralen K-Mesonen auf Gesetzmäßigkeiten, die grundsätzlich - und nicht nur mit Hilfe der Statistik - den zeitlich umgekehrten Ablauf dieses Phänomens ausschließen.
Die Beschäftigung mit der Zeit wirft die Frage nach ihrem Beginn auf. Je mehr wir über das Universum lernen, desto weiter reichen unsere Möglichkeiten seiner Bescheibung in der Zeit zurück. Bei der Beschreibung der frühesten Momente unseres expandierenden Universums kommen die Gesetze der Quantenmechanik zur Anwendung. So wie die statistischen Gesetze in der Physik des Alltags nicht ganze Systeme, sondern nur unser Wissen über diese Systeme beschreiben, so beschreibt die Quantenmechanik ein Wissen über Systeme in ihrem Anfangszustand. Dieses Wissen ist grundsätzlich auf Wahrscheinlichkeiten beschränkt, und jeder Versuch, die Kenntnis über den Zustand eines Systems (Lage und Geschwindigkeit seiner Komponenten) über die Kenntnis seines Zustandes zu einem gewissen Zeitpunkt hinaus zu erweitern, muß den Zustand des Systems in unvorhersehbarer Weise verändern. Letztlich tritt in der Quantenmechanik an die Stelle einer Realität ein mögliches Wissen. Bei der Beschreibung der frühesten Entstehungsphasen des Universums wird der Begriff der Zeit übrigens häufig durch den des Radius des Universums verdrängt, die Zeit wird also durch eine Längenangabe ersetzt oder, wie es Einstein ausdrückte: "Für uns gläubige Physiker hat die Scheidung zwischen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft nur die Bedeutung einer wenn auch hartnäckigen Illusion."
Henning Genz ventiliert die Zusammenhänge von Chaos und Ordnung, Entropie und Strukturbildung, Kosmologie und Naturkonstanten, indem er die gesamte Physik mit dem Zeitbegriff als rotem Faden durchstreift. Dabei wird auf mathematische Formeln vollständig verzichtet.
Henning Genz: "Wie die Zeit in die Welt kam". Die Entstehung einer Illusion aus Ordnung und Chaos. Carl Hanser Verlag, München, Wien 1996. 338 S., 47 Abb., geb., 54,- DM.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Henning Genz denkt über die Zeit nach / Von Hartmut Hänsel
Was also ist Zeit? Wenn mich niemand danach fragt, weiß ich es, will ich es einem Fragenden erklären, weiß ich es nicht." Der Kirchenvater Augustin brachte auf den Punkt, wie sich unser emotionales Verhältnis zur Zeit von unserem intellektuellen abgrenzt. Henning Genz, der am Institut für Theoretische Teilchenphysik der Universität Karlsruhe lehrt, hat ein Buch geschrieben, das nicht unserer persönlichen Zeiterfahrung gilt, sondern dem Verständnis von der Zeit in den Naturwissenschaften von der Antike bis zur Gegenwart.
Welche Schwierigkeiten ein naturwissenschaftliches Verständnis von der Zeit den Philosophen des Altertums bereitete, zeigt sich am Schildkrötenparadoxon des Zenon von Elea. Der schnelle Achill, Sprintidol der Antike, tritt zu einem Wettlauf gegen eine Schildkröte an. Weil der Pelide zehnmal schneller läuft als die Schildkröte, erhält das Reptil einen Vorsprung. Das Rennen beginnt, und bald hat Achill die Startposition der Schildkröte erreicht, aber er hat sie noch nicht eingeholt, denn sie hat ihrerseits inzwischen eine Strecke zurückgelegt, die einem Zehntel ihrer ursprünglichen Startvorgabe entspricht. Während Achill nun dieses Zehntel zurücklegt, läuft die Schildkröte um ein Zehntel vom Zehntel, also um ein Hundertstel ihres anfänglichen Vorsprungs weiter. Es ist klar, daß sich dieser Vorgang unendlich oft wiederholen wird und Achill der Schildkröte immer näher kommt, ohne sie jedoch einzuholen, geschweige denn zu überholen. Erst im 17. Jahrhundert entwickeln Newton und Leibniz die mathematischen Werkzeuge zur Auflösung des Paradoxons: Funktion und Grenzwert.
Zeit ist bei Leibniz die "Ordnung der Körper hinsichtlich ihrer aufeinanderfolgenden Lagen" und somit durch die Existenz des Stofflichen bedingt. Die Newtonsche Mechanik beschreibt vereinfachte, reduzierte Systeme und folgert davon auf größere Systeme. Erfolgreich ist diese Vorgehensweise bei der Beschreibung der Bewegungen der Planeten im Sonnensystem. Hier werden die Bahnen jedes einzelnen Planeten um die Sonne für sich berechnet, die Einflüsse der übrigen Planeten werden dabei vernachlässigt.
Die Ordnung der aufeinanderfolgenden Lagen der Körper ist eine Frage der Geschwindigkeit, mit der sich ein Beobachter relativ zu den von ihm betrachteten Objekten bewegt. Das in der Relativitätstheorie konsequent angewandte Prinzip, daß die Lichtgeschwindigkeit für jeden Beobachter den gleichen endlichen Wert besitzt, egal ob er sich auf den beobachteten Gegenstand zu oder von ihm weg bewegt, führt dazu, daß die Reihenfolge von Ereignissen von sich mit unterschiedlichen Geschwindigkeiten bewegenden Beobachtern unterschiedlich registriert werden kann. Einer der populärsten Effekte der Speziellen Relativitätstheorie ist das Zwillingsparadoxon, nach dem ein Raumfahrer, der mit nahezu Lichtgeschwindigkeit unterwegs ist, langsamer altert als sein auf der Erde zurückgebliebener Zwillingsbruder. Die Allgemeine Relativitätstheorie beschreibt die Effekte von Beschleunigung und Schwerkraft auf zeitliche Abläufe. Eine Uhr geht um so langsamer, je stärker das Schwerefeld an ihrem Standort ist. Eine Uhr auf Meereshöhe geht gegenüber einer im Hochgebirge aufgestellten Uhr um jährlich einige millionstel Sekunden nach.
Über eine Richtung der Zeit jedoch machen die Beschreibungen von Abläufen bei Newton und Leibniz ebensowenig eine Aussage wie die Relativitätstheorie. Vorgänge, die in der einen Richtung ablaufen, könnten genausogut auch in der umgekehrten Richtung stattfinden.
Komplexere Systeme hingegen folgen Abläufen, die nur in einer zeitlichen Richtung plausibel erscheinen. Stellt man sich etwa einen gasgefüllten, geschlossenen Kasten vor, dessen Gasmoleküle sich anfangs alle in einer Hälfte befinden, so ist uns klar, daß sich die Moleküle schnell über den ganzen Kasten verteilen werden. Der umgekehrte Fall, daß sich die ungeordnet durch den Kasten fliegenden Moleküle von selbst in einer Hälfte ihres Behälters versammeln, widerspricht aller Erfahrung. Grundsätzlich ist der letztgenannte Fall durch kein Naturgesetz ausgeschlossen. Er ist jedoch so unwahrscheinlich, daß er selbst in Weltaltern niemals auftritt."Niemals" ist jedoch nicht in einem streng mathematischen Sinn zu verstehen. Die Richtung der Zeit ist damit - zumindest was den Bereich der alltäglichen Erfahrung betrifft - durch statistische Gesetze, die Aussagen über Wahrscheinlichkeiten machen, bestimmt. Die Welt bewegt sich in die Richtung der wahrscheinlicheren, der weniger geordneten Zustände.
Erst 1964 stieß man mit den damals modernsten Mitteln der Elementarteilchenphysik bei Untersuchungen des Zerfalls der neutralen K-Mesonen auf Gesetzmäßigkeiten, die grundsätzlich - und nicht nur mit Hilfe der Statistik - den zeitlich umgekehrten Ablauf dieses Phänomens ausschließen.
Die Beschäftigung mit der Zeit wirft die Frage nach ihrem Beginn auf. Je mehr wir über das Universum lernen, desto weiter reichen unsere Möglichkeiten seiner Bescheibung in der Zeit zurück. Bei der Beschreibung der frühesten Momente unseres expandierenden Universums kommen die Gesetze der Quantenmechanik zur Anwendung. So wie die statistischen Gesetze in der Physik des Alltags nicht ganze Systeme, sondern nur unser Wissen über diese Systeme beschreiben, so beschreibt die Quantenmechanik ein Wissen über Systeme in ihrem Anfangszustand. Dieses Wissen ist grundsätzlich auf Wahrscheinlichkeiten beschränkt, und jeder Versuch, die Kenntnis über den Zustand eines Systems (Lage und Geschwindigkeit seiner Komponenten) über die Kenntnis seines Zustandes zu einem gewissen Zeitpunkt hinaus zu erweitern, muß den Zustand des Systems in unvorhersehbarer Weise verändern. Letztlich tritt in der Quantenmechanik an die Stelle einer Realität ein mögliches Wissen. Bei der Beschreibung der frühesten Entstehungsphasen des Universums wird der Begriff der Zeit übrigens häufig durch den des Radius des Universums verdrängt, die Zeit wird also durch eine Längenangabe ersetzt oder, wie es Einstein ausdrückte: "Für uns gläubige Physiker hat die Scheidung zwischen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft nur die Bedeutung einer wenn auch hartnäckigen Illusion."
Henning Genz ventiliert die Zusammenhänge von Chaos und Ordnung, Entropie und Strukturbildung, Kosmologie und Naturkonstanten, indem er die gesamte Physik mit dem Zeitbegriff als rotem Faden durchstreift. Dabei wird auf mathematische Formeln vollständig verzichtet.
Henning Genz: "Wie die Zeit in die Welt kam". Die Entstehung einer Illusion aus Ordnung und Chaos. Carl Hanser Verlag, München, Wien 1996. 338 S., 47 Abb., geb., 54,- DM.
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