Der junge Arzt Christian Gim zieht mit seiner Frau Nina in einen kleinen Ort im dänischen Jütland und kauft sich in eine Praxis ein. Christian strahlt vor Vitalität, er ist begabt, ein guter Arzt - und doch merkwürdig passiv und unangemessen in seinen Gefühlsregungen. Während seine Frau eine Totgeburt durchlitt, hat er sie nur vertröstet, und jetzt ist Nina dabei, ihn zu verlassen. Christian zieht die Frauen an und braucht sie, aber die Leidenschaft und Sinnlichkeit der verheirateten Ragna sind ihm doch zuviel.
Auch mit der Arztpraxis stimmt etwas nicht, Krankenakten sind beseitigt worden. In sein Haus wird eingebrochen, und er bekommt seltsame anonyme Anrufe. Ein Mädchen, das sich ihm wegen der Praktiken seines Vorgängers anvertraut hat, dringt in sein Haus ein und nimmt in seinem Bett eine Überdosis Tabletten. Die Leute im Ort beginnen zu tuscheln. Christian versteht nicht, was vorgeht, er versucht doch nur, ein guter Arzt und ein Mensch oder wenigstens wie ein Mensch zusein. Aber die Dinge verselbständigen sich.
Ida Jessens exzellent geschriebener, psychologisch fein gezeichneter Roman, der eine geradezu atemberaubend dichte Atmosphäre entwickelt, ist ein Buch, das den Leser fesselt und bis zum überraschenden Schluß nicht mehr losläßt. Eine zutiefst anrührende Geschichte über die Balance zwischen Perfektion und Menschlichkeit.
Auch mit der Arztpraxis stimmt etwas nicht, Krankenakten sind beseitigt worden. In sein Haus wird eingebrochen, und er bekommt seltsame anonyme Anrufe. Ein Mädchen, das sich ihm wegen der Praktiken seines Vorgängers anvertraut hat, dringt in sein Haus ein und nimmt in seinem Bett eine Überdosis Tabletten. Die Leute im Ort beginnen zu tuscheln. Christian versteht nicht, was vorgeht, er versucht doch nur, ein guter Arzt und ein Mensch oder wenigstens wie ein Mensch zusein. Aber die Dinge verselbständigen sich.
Ida Jessens exzellent geschriebener, psychologisch fein gezeichneter Roman, der eine geradezu atemberaubend dichte Atmosphäre entwickelt, ist ein Buch, das den Leser fesselt und bis zum überraschenden Schluß nicht mehr losläßt. Eine zutiefst anrührende Geschichte über die Balance zwischen Perfektion und Menschlichkeit.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 04.03.2004Verführung im Sprechzimmer
Doktorspiele: Ida Jessens Roman aus der dänischen Provinz
Ida Jessen, Jahrgang 1964, ist gebürtige Dänin, hat einige Jahre auch in Norwegen gelebt und dient der Literatur. Sie hat anderer Leute Bücher lektoriert oder ins Dänische übersetzt und sechs eigene Arbeiten veröffentlicht, drei Erzählungsbände und drei Romane. Außerhalb Skandinaviens ist sie bisher nicht bekannt, aber die erste Begegnung mit einem ins Deutsche übertragenen Roman aus ihrer Feder läßt vermuten, daß sie etwas kann, wenn sie will. Und man darf davon ausgehen, daß Ida Jessen ihren Stoff überzeugend genug vortrug, um ihrer Übersetzerin Sigrid Engeler eine qualifizierte Leistung zu ermöglichen.
Ein gelungenes Werk also? Wohl niemand würde sich auf Anhieb zu einem Nein durchringen, aber mit dem Ja tun wir uns auch ein bißchen schwer. Auf der Rückseite des Umschlags sind ein paar Sätze aus einer dänischen Rezension zitiert: ". . . eine eigenwillige Mischung aus Krimi, Thriller, Liebesroman, einer Scheidungsgeschichte und dem Sittenbild einer Kleinstadt . . ."
Mag sein, daß es im friedlichen Dänemark mehr nicht braucht, um die Leute aufzuregen. Der durchschnittliche europäische Bücherkonsument jedoch zittert bei dieser Lektüre nicht einfach drauflos. Er sieht sich mit einer Geschichte aus einem jütländischen Krähwinkel konfrontiert, die nicht nur Provinzleben beschreibt, sondern vom Provinziellen auch regiert wird. Die Romanfiguren können nicht über den heimatlichen Tellerrand gucken, wenn ihre Schöpferin es ebensowenig tut. Womit nicht gesagt sein soll, daß sie es nicht vermocht hätte. Die schlanke Art, in der sie ihrer Fabel Gestalt und Gestalten verleiht, läßt immer wieder Besseres erwarten. Aber Ida Jessen hat sich in diesem Buch nun mal der provinziellen Enge verschrieben.
Im Mittelpunkt der Handlung steht der Arzt Christian, der sich in eine kleinstädtische Doppelpraxis einkauft und dort Karriere zu machen hofft. Ehefrau Nina, die ihn zunächst begleitet, ist Musikerin, eine begabte Künstlerin mit wenig Interesse an Spritzen und Pillen. Außerdem ist sie sauer auf ihren Mann, weil er nicht die rechte Teilnahme zeigte, als sie vor dem Umzug eine Totgeburt erlitt. Sie verläßt ihn, noch bevor wir so recht wissen, wen oder was wir an ihr haben. Vom Doktor Christian wird uns gesagt, er sei ein guter Arzt. Als solchen lernen wir ihn aber kaum kennen, seine Praxisarbeit gibt für den Roman herzlich wenig her. Viel wichtiger ist der Mann Christian, der auf Frauen wirkt. Zum Beispiel auf ein Mädchen namens Manne, das dem neuen Arzt zuraunt, sein Vorgänger habe sich ihr unsittlich genähert. Oder auf die verheiratete Ragna, mit der Christian eine heftige Beziehung eingeht. Oder auf die Sprechstundenhilfe Carmen, die ihre Gefühle, weil sie sie nicht wahrhaben will, hinter krötiger Abwehr verbirgt. Sogar Hege, Gattin des Praxis-Teilhabers Køpp und fast eine Generation älter als Christian, findet den Neuzugang äußerst charmant.
Nachdem uns das eine ganze Weile vorgetragen wurde, ohne daß aus den Verhältnissen etwas resultiert, fragen wir uns, was wir daraus lernen. Und was daraus, daß ein Anonymus ständig beim Doktor anruft, aber nie ein Wort sagt, daß in Christians Haus eingebrochen wird, daß irgend jemand seine Krankenakten durchwühlt. Eigentlich lernen wir nichts. Als Krimi, gar als Thriller kommt das Buch nicht daher, sowenig wie am Ende die Lösung der Gespenstertaten: Manne nämlich war es, das verstörte Mädchen, das schließlich sogar in Christians Bett einen Selbstmordversuch unternimmt. Die Geschichte mit Manne und der Seitensprung mit Ragna gehen aus wie das Hornberger Schießen, beides verliert sich irgendwo im Text. Übrig bleibt die Reaktion der Provinzbevölkerung, die ihrem neuen Arzt den Mangel an privater wie berufsbezogener Unanfechtbarkeit übelnimmt und künftig sein Sprechzimmer boykottiert.
Und es bleibt der erstaunliche Umstand, daß uns die Story von Christians Schwester überliefert wird. Die weiß nicht nur über Kindheitserinnerungen zu plaudern, sondern kennt sich auch, wieso auch immer, in den gegenwärtigen Seelenverrenkungen des erwachsenen Bruders aus. Die Autorin verrät uns nicht, wie die Romanschwester zu solchen Einblicken kommt. Die Schwester wiederum läßt uns im ungewissen, was aus dem Provinz-Opfer Christian nach seinen Niederlagen geworden ist, noch hat werden können.
SABINE BRANDT
Ida Jessen: "Wie ein Mensch". Roman. Aus dem Dänischen übersetzt von Sigrid Engeler. Verlag C. H. Beck, München 2003. 309 S., geb., 19,90 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Doktorspiele: Ida Jessens Roman aus der dänischen Provinz
Ida Jessen, Jahrgang 1964, ist gebürtige Dänin, hat einige Jahre auch in Norwegen gelebt und dient der Literatur. Sie hat anderer Leute Bücher lektoriert oder ins Dänische übersetzt und sechs eigene Arbeiten veröffentlicht, drei Erzählungsbände und drei Romane. Außerhalb Skandinaviens ist sie bisher nicht bekannt, aber die erste Begegnung mit einem ins Deutsche übertragenen Roman aus ihrer Feder läßt vermuten, daß sie etwas kann, wenn sie will. Und man darf davon ausgehen, daß Ida Jessen ihren Stoff überzeugend genug vortrug, um ihrer Übersetzerin Sigrid Engeler eine qualifizierte Leistung zu ermöglichen.
Ein gelungenes Werk also? Wohl niemand würde sich auf Anhieb zu einem Nein durchringen, aber mit dem Ja tun wir uns auch ein bißchen schwer. Auf der Rückseite des Umschlags sind ein paar Sätze aus einer dänischen Rezension zitiert: ". . . eine eigenwillige Mischung aus Krimi, Thriller, Liebesroman, einer Scheidungsgeschichte und dem Sittenbild einer Kleinstadt . . ."
Mag sein, daß es im friedlichen Dänemark mehr nicht braucht, um die Leute aufzuregen. Der durchschnittliche europäische Bücherkonsument jedoch zittert bei dieser Lektüre nicht einfach drauflos. Er sieht sich mit einer Geschichte aus einem jütländischen Krähwinkel konfrontiert, die nicht nur Provinzleben beschreibt, sondern vom Provinziellen auch regiert wird. Die Romanfiguren können nicht über den heimatlichen Tellerrand gucken, wenn ihre Schöpferin es ebensowenig tut. Womit nicht gesagt sein soll, daß sie es nicht vermocht hätte. Die schlanke Art, in der sie ihrer Fabel Gestalt und Gestalten verleiht, läßt immer wieder Besseres erwarten. Aber Ida Jessen hat sich in diesem Buch nun mal der provinziellen Enge verschrieben.
Im Mittelpunkt der Handlung steht der Arzt Christian, der sich in eine kleinstädtische Doppelpraxis einkauft und dort Karriere zu machen hofft. Ehefrau Nina, die ihn zunächst begleitet, ist Musikerin, eine begabte Künstlerin mit wenig Interesse an Spritzen und Pillen. Außerdem ist sie sauer auf ihren Mann, weil er nicht die rechte Teilnahme zeigte, als sie vor dem Umzug eine Totgeburt erlitt. Sie verläßt ihn, noch bevor wir so recht wissen, wen oder was wir an ihr haben. Vom Doktor Christian wird uns gesagt, er sei ein guter Arzt. Als solchen lernen wir ihn aber kaum kennen, seine Praxisarbeit gibt für den Roman herzlich wenig her. Viel wichtiger ist der Mann Christian, der auf Frauen wirkt. Zum Beispiel auf ein Mädchen namens Manne, das dem neuen Arzt zuraunt, sein Vorgänger habe sich ihr unsittlich genähert. Oder auf die verheiratete Ragna, mit der Christian eine heftige Beziehung eingeht. Oder auf die Sprechstundenhilfe Carmen, die ihre Gefühle, weil sie sie nicht wahrhaben will, hinter krötiger Abwehr verbirgt. Sogar Hege, Gattin des Praxis-Teilhabers Køpp und fast eine Generation älter als Christian, findet den Neuzugang äußerst charmant.
Nachdem uns das eine ganze Weile vorgetragen wurde, ohne daß aus den Verhältnissen etwas resultiert, fragen wir uns, was wir daraus lernen. Und was daraus, daß ein Anonymus ständig beim Doktor anruft, aber nie ein Wort sagt, daß in Christians Haus eingebrochen wird, daß irgend jemand seine Krankenakten durchwühlt. Eigentlich lernen wir nichts. Als Krimi, gar als Thriller kommt das Buch nicht daher, sowenig wie am Ende die Lösung der Gespenstertaten: Manne nämlich war es, das verstörte Mädchen, das schließlich sogar in Christians Bett einen Selbstmordversuch unternimmt. Die Geschichte mit Manne und der Seitensprung mit Ragna gehen aus wie das Hornberger Schießen, beides verliert sich irgendwo im Text. Übrig bleibt die Reaktion der Provinzbevölkerung, die ihrem neuen Arzt den Mangel an privater wie berufsbezogener Unanfechtbarkeit übelnimmt und künftig sein Sprechzimmer boykottiert.
Und es bleibt der erstaunliche Umstand, daß uns die Story von Christians Schwester überliefert wird. Die weiß nicht nur über Kindheitserinnerungen zu plaudern, sondern kennt sich auch, wieso auch immer, in den gegenwärtigen Seelenverrenkungen des erwachsenen Bruders aus. Die Autorin verrät uns nicht, wie die Romanschwester zu solchen Einblicken kommt. Die Schwester wiederum läßt uns im ungewissen, was aus dem Provinz-Opfer Christian nach seinen Niederlagen geworden ist, noch hat werden können.
SABINE BRANDT
Ida Jessen: "Wie ein Mensch". Roman. Aus dem Dänischen übersetzt von Sigrid Engeler. Verlag C. H. Beck, München 2003. 309 S., geb., 19,90 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
Die erotischen Passagen müssen es gewesen sein, die den Beck-Verlag veranlasst haben, dieses Buch zu verlegen, vermutet Thomas Wild. Anders kann er sich das sonst nicht erklären, biete der Roman der Dänin Ida Jessen doch schlichtweg keinerlei "literarisches Vergnügen". Die Komposition hat ihn nicht überzeugt, vor allem die Erzählperspektive aus einer "quasi-auktorialen Besserwisserperspektive" der kleinen Schwester des Protagonisten, der von seiner Frau verlassen und in einem dänischen Dorf mitten in "menschenleerem Grasland" von verschiedenen Katastrophen heimgesucht wird. Wohlwollend könne man die Mängel der Geschichte mit dem Zugeständnis tolerieren, dass das "reale Leben" einem eben Rätsel aufgebe, die nicht gelöst werden können. Wild ist das aber zu wenig, erwartet er doch von einem Buch mehr, als "einfach nur Merkwürdiges passieren zu lassen". Zu allem Unglück "taumelt" laut Rezensent die Übersetzung auch noch "permanent zwischen Schieflage und Stilblüte".
© Perlentaucher Medien GmbH
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Die erotischen Passagen müssen es gewesen sein, die den Beck-Verlag veranlasst haben, dieses Buch zu verlegen, vermutet Thomas Wild. Anders kann er sich das sonst nicht erklären, biete der Roman der Dänin Ida Jessen doch schlichtweg keinerlei "literarisches Vergnügen". Die Komposition hat ihn nicht überzeugt, vor allem die Erzählperspektive aus einer "quasi-auktorialen Besserwisserperspektive" der kleinen Schwester des Protagonisten, der von seiner Frau verlassen und in einem dänischen Dorf mitten in "menschenleerem Grasland" von verschiedenen Katastrophen heimgesucht wird. Wohlwollend könne man die Mängel der Geschichte mit dem Zugeständnis tolerieren, dass das "reale Leben" einem eben Rätsel aufgebe, die nicht gelöst werden können. Wild ist das aber zu wenig, erwartet er doch von einem Buch mehr, als "einfach nur Merkwürdiges passieren zu lassen". Zu allem Unglück "taumelt" laut Rezensent die Übersetzung auch noch "permanent zwischen Schieflage und Stilblüte".
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