Von den frühen Anekdoten bis zur autobiographischen Rede im Jahr 2001 führt diese Auswahl der kürzeren Prosa Volker Brauns. Der Kenner des Werks wird in ihr zahlreiche bei Suhrkamp noch ungedruckte Texte finden; und demjenigen, der sich erst mit diesen Texten des Büchnerpreisträgers des Jahres 2000 zu beschäftigen beginnt, mag diese Sammlung ein idealer »Einstieg« sein. Sie enthält so wesentliche Texte wie den Bodenlosen Satz, der die Summe der Erfahrung des Scheiterns des »frühen, rohen Sozialismus« zieht, und Die vier Werkzeugmacher, das komisch-grausame Lehrstück vom Irrewerden an der angemaßten menschlichen Identität. Zwischen beiden stehen die merkwürdigen, vorgreifenden Parabeln vom Frühjahr 1989: Wie es gekommen ist, Texte von kafkaesker Zartheit und Kraft. Nach allem aber, am Ende des Jahrtausends, fragt eine kleine, harte Erzählung: Was kommt?
Brauns Schreiben, als Versuch, die Gründe von Beharrung und Veränderbarkeit in unserer Wirklichkeit zusammenzudenken und Möglichkeiten der Freiheit zu erkunden, ist immer auch Arbeit für morgen.
Die Darmstädter Akademie verlieh den Büchner-Preis »dem Dichter, der mit Erbarmen und Witz eine lebendige Chronik seiner geschichtlichen Welt geschaffen« und »die Sprache und die Formen der philosophischen Epoche der deutschen Literatur erneuert und verwandelt hat«.
Brauns Schreiben, als Versuch, die Gründe von Beharrung und Veränderbarkeit in unserer Wirklichkeit zusammenzudenken und Möglichkeiten der Freiheit zu erkunden, ist immer auch Arbeit für morgen.
Die Darmstädter Akademie verlieh den Büchner-Preis »dem Dichter, der mit Erbarmen und Witz eine lebendige Chronik seiner geschichtlichen Welt geschaffen« und »die Sprache und die Formen der philosophischen Epoche der deutschen Literatur erneuert und verwandelt hat«.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 24.08.2002So war es, so war es nicht
Alles, was Kunst verlangen kann: Prosa von Volker Braun
Ein Titel müsse kein Küchenzettel sein, hat Lessing gesagt. Er sei um so besser, je weniger er von dem Inhalt verrate. Wenn das stimmt, hat Volker Braun für seinen Band ausgewählter Prosa einen ausgezeichneten Titel gefunden, fast über Lessings Forderung hinaus. Einen, der nichts und gleichsam alles verrät. Er lautet, sachlich und ominös zugleich: "Wie es gekommen ist".
Was aber ist jenes "es", das unsere Neugier reizen und unsere Befürchtungen wecken möchte? Die Antwort ist nicht einfach zu haben, jedenfalls nicht durch die Ersetzung des "es" durch Begriffe wie Wende oder Umbruch. "Wie es gekommen ist": So nämlich lautete bereits der Titel einer jener Parabeln, die Braun im Frühjahr 1989 schrieb, als manches in der DDR auf Aufbruch und Veränderung, doch nicht auf Wende oder Umbruch hindeutete. Der kleine Text erzählt vom Umschlag der Stimmung im Land, von einem neuen Gefühl, das von den Menschen Besitz ergriff, und schließt mit der Wendung: ",Es war stärker als ich.' - Wer hätte gedacht, daß es sich unserer Köpfe bediente? Es schreckte vor nichts zurück." Es - das ist hier der Moment eines Aufbruchs, in dem Volker Braun eine Zeitlang eine Wiederkehr des Prager Frühlings von 1968 zu erkennen glaubte, den Ansatz für eine politische Utopie, die unter dem Stichwort Volkseigentum plus Demokratie zu verwirklichen wäre. Die erhoffte Umwälzung entwickelte sich bekanntlich anders. Braun vermochte in ihr nur den "fröhlichen Übertritt dieses Ostvölkchens in den Westen" zu sehen.
Ganz freilich kann ihn diese "Wende" nicht überrascht haben. Eine seiner ambitioniertesten poetischen Arbeiten, der September 1988 geschriebene Text "Bodenloser Satz", antizipierte sie als "die Republikflucht der Utopien in die Messer der Konsumschlacht". So waren auch nach der Wende keine Bekenntnisse des Autors zur neuen Ordnung zu erwarten. "Das Nichtgelebte" einer Utopie forderte sein Recht; so in der gleichnamigen Erzählung von 1995. Und die kleistisch pointierte Novelle "Die vier Werkzeugmacher" (1996), die Schilderung eines Abwicklungsfalles, ist mehr als eine Desillusionsparabel. Sie endet mit der Hoffnung wider alle Hoffnung: "Denn die Geschichte hat keine Absicht, und was die vielen betrifft, so müssen sie ihre äußern." Darauf wartet Braun offenbar immer noch.
So hat er diese und andere Arbeiten nicht zusammengestellt, um als schwarzer Prophet in eigener Sache zu erscheinen. "Wie es gekommen ist" verdankt sich einer Dialektik, die selbst die Verzweiflung in ihr Kalkül aufnimmt. Braun ist der Chronist des Strebens und der Hoffnungen, die sich mit diesem dialektischen Utopismus verbinden. Die Sammlung seiner Prosa führt von frühen Anekdoten, deren erste den Aktivisten Hennecke sagen läßt: "Man muß viel Geduld haben", bis zu der Geschichte "Was kommt", in der ein alter Mann resümiert: "Man war nie und nirgends auf den Grund gekommen, der umzuwälzen war." Merkwürdig und bedauerlich, daß der Verlag den Texten, die soviel mit historischen Momenten zu tun haben, nicht die Daten von Entstehung und Erstpublikation mitgegeben hat. Daß das im Sinne von Autor und Lesern ist, zeigt vorbildlich die zehnbändige Werkausgabe des Mitteldeutschen Verlages, erschienen von 1989 bis 1993.
Halten wir uns an einen Hinweis, den die Umschlagklappe des Bandes gibt, nämlich auf eine autobiographische Rede von 2001. Sie findet sich am Schluß des Bandes, als "Supplement" unter dem Titel "Himmelhoch, zutode". Diese jüngste Rede ist einer der bewegendsten Texte, die Volker Braun geschrieben hat. Man findet in ihm weder ein Himmelhochjauchzen noch das Zutodebetrübtsein, das der Titel suggeriert. Wohl aber - bei allem Schmerz, aller Skepsis - einen gelassenen Stoizismus. "So war es aber und war es nicht" lautet seine Formel. Braun beschwört das Andenken an seinen am letzten Kriegstag gefallenen Vater und die Erinnerung an die Zerstörung Dresdens. Er erzählt davon, die Flucht aus der DDR erwogen zu haben, und resümiert: "Wir blieben, das Geständnis mußte ich machen, das verlangte die Kunst, die radikalere Liebesszenen schreibt." Noch nie hat Braun so direkt und anrührend formuliert, was sein Leben und seine Kunst zeichnet.
Volker Braun: "Wie es gekommen ist". Ausgewählte Prosa. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2002. 175 S., geb., 18.- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Alles, was Kunst verlangen kann: Prosa von Volker Braun
Ein Titel müsse kein Küchenzettel sein, hat Lessing gesagt. Er sei um so besser, je weniger er von dem Inhalt verrate. Wenn das stimmt, hat Volker Braun für seinen Band ausgewählter Prosa einen ausgezeichneten Titel gefunden, fast über Lessings Forderung hinaus. Einen, der nichts und gleichsam alles verrät. Er lautet, sachlich und ominös zugleich: "Wie es gekommen ist".
Was aber ist jenes "es", das unsere Neugier reizen und unsere Befürchtungen wecken möchte? Die Antwort ist nicht einfach zu haben, jedenfalls nicht durch die Ersetzung des "es" durch Begriffe wie Wende oder Umbruch. "Wie es gekommen ist": So nämlich lautete bereits der Titel einer jener Parabeln, die Braun im Frühjahr 1989 schrieb, als manches in der DDR auf Aufbruch und Veränderung, doch nicht auf Wende oder Umbruch hindeutete. Der kleine Text erzählt vom Umschlag der Stimmung im Land, von einem neuen Gefühl, das von den Menschen Besitz ergriff, und schließt mit der Wendung: ",Es war stärker als ich.' - Wer hätte gedacht, daß es sich unserer Köpfe bediente? Es schreckte vor nichts zurück." Es - das ist hier der Moment eines Aufbruchs, in dem Volker Braun eine Zeitlang eine Wiederkehr des Prager Frühlings von 1968 zu erkennen glaubte, den Ansatz für eine politische Utopie, die unter dem Stichwort Volkseigentum plus Demokratie zu verwirklichen wäre. Die erhoffte Umwälzung entwickelte sich bekanntlich anders. Braun vermochte in ihr nur den "fröhlichen Übertritt dieses Ostvölkchens in den Westen" zu sehen.
Ganz freilich kann ihn diese "Wende" nicht überrascht haben. Eine seiner ambitioniertesten poetischen Arbeiten, der September 1988 geschriebene Text "Bodenloser Satz", antizipierte sie als "die Republikflucht der Utopien in die Messer der Konsumschlacht". So waren auch nach der Wende keine Bekenntnisse des Autors zur neuen Ordnung zu erwarten. "Das Nichtgelebte" einer Utopie forderte sein Recht; so in der gleichnamigen Erzählung von 1995. Und die kleistisch pointierte Novelle "Die vier Werkzeugmacher" (1996), die Schilderung eines Abwicklungsfalles, ist mehr als eine Desillusionsparabel. Sie endet mit der Hoffnung wider alle Hoffnung: "Denn die Geschichte hat keine Absicht, und was die vielen betrifft, so müssen sie ihre äußern." Darauf wartet Braun offenbar immer noch.
So hat er diese und andere Arbeiten nicht zusammengestellt, um als schwarzer Prophet in eigener Sache zu erscheinen. "Wie es gekommen ist" verdankt sich einer Dialektik, die selbst die Verzweiflung in ihr Kalkül aufnimmt. Braun ist der Chronist des Strebens und der Hoffnungen, die sich mit diesem dialektischen Utopismus verbinden. Die Sammlung seiner Prosa führt von frühen Anekdoten, deren erste den Aktivisten Hennecke sagen läßt: "Man muß viel Geduld haben", bis zu der Geschichte "Was kommt", in der ein alter Mann resümiert: "Man war nie und nirgends auf den Grund gekommen, der umzuwälzen war." Merkwürdig und bedauerlich, daß der Verlag den Texten, die soviel mit historischen Momenten zu tun haben, nicht die Daten von Entstehung und Erstpublikation mitgegeben hat. Daß das im Sinne von Autor und Lesern ist, zeigt vorbildlich die zehnbändige Werkausgabe des Mitteldeutschen Verlages, erschienen von 1989 bis 1993.
Halten wir uns an einen Hinweis, den die Umschlagklappe des Bandes gibt, nämlich auf eine autobiographische Rede von 2001. Sie findet sich am Schluß des Bandes, als "Supplement" unter dem Titel "Himmelhoch, zutode". Diese jüngste Rede ist einer der bewegendsten Texte, die Volker Braun geschrieben hat. Man findet in ihm weder ein Himmelhochjauchzen noch das Zutodebetrübtsein, das der Titel suggeriert. Wohl aber - bei allem Schmerz, aller Skepsis - einen gelassenen Stoizismus. "So war es aber und war es nicht" lautet seine Formel. Braun beschwört das Andenken an seinen am letzten Kriegstag gefallenen Vater und die Erinnerung an die Zerstörung Dresdens. Er erzählt davon, die Flucht aus der DDR erwogen zu haben, und resümiert: "Wir blieben, das Geständnis mußte ich machen, das verlangte die Kunst, die radikalere Liebesszenen schreibt." Noch nie hat Braun so direkt und anrührend formuliert, was sein Leben und seine Kunst zeichnet.
Volker Braun: "Wie es gekommen ist". Ausgewählte Prosa. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2002. 175 S., geb., 18.- [Euro].
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
"Besonders bewegend findet Rezensent Harald Hartung den jüngsten, autobiografischen Text des Bandes, in dem Autor Volker Braun das Andenken seines in den letzten Kriegstagen gefallenen Vaters und die Erinnerung an die Zerstörung Dresdens beschwört. Noch nie hat Braun "so direkt und anrührend" formuliert, "was sein Leben und seine Kunst zeichnet", schreibt der Rezensent. Aber auch die anderen Prosaarbeiten, die dieser Band versammelt, finden seinen tiefen Respekt, den der Rezensent im Wesentlichen damit begründet, dass Braun es sich mit seinem Urteil nie einfach macht. Das trifft insbesondere auf Texte zu, deren Thema gescheiterte Wende-Hoffnungen sind. Hier beeindruckt den Rezensenten besonders die "kleistisch pointierte Novelle 'Die vier Werkzeugmacher'" von 1996. Als "ambitionierteste poetische Arbeit" erscheint dem Rezensenten der 1988 geschriebene Text "Die Republikflucht der Utopien in die Messer der Konsumschlacht". "Merkwürdig und bedauerlich" findet Hartung, dass der Verlag den Texten, die soviel mit historischen Momenten zu tun hätten, nicht die Daten von Entstehung und Erstveröffentlichung mitgegeben hat.
© Perlentaucher Medien GmbH"
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