Von den frühen Anekdoten bis zur autobiographischen Rede im Jahr 2001 führt diese Auswahl der kürzeren Prosa Volker Brauns. Der Kenner des Werks wird in ihr zahlreiche bei Suhrkamp noch ungedruckte Texte finden; und demjenigen, der sich erst mit diesen Texten des Büchnerpreisträgers des Jahres 2000 zu beschäftigen beginnt, mag diese Sammlung ein idealer »Einstieg« sein. Sie enthält so wesentliche Texte wie den Bodenlosen Satz, der die Summe der Erfahrung des Scheiterns des »frühen, rohen Sozialismus« zieht, und Die vier Werkzeugmacher, das komisch-grausame Lehrstück vom Irrewerden an der angemaßten menschlichen Identität. Zwischen beiden stehen die merkwürdigen, vorgreifenden Parabeln vom Frühjahr 1989: Wie es gekommen ist, Texte von kafkaesker Zartheit und Kraft. Nach allem aber, am Ende des Jahrtausends, fragt eine kleine, harte Erzählung: Was kommt?
Brauns Schreiben, als Versuch, die Gründe von Beharrung und Veränderbarkeit in unserer Wirklichkeit zusammenzudenken und Möglichkeiten der Freiheit zu erkunden, ist immer auch Arbeit für morgen.
Die Darmstädter Akademie verlieh den Büchner-Preis »dem Dichter, der mit Erbarmen und Witz eine lebendige Chronik seiner geschichtlichen Welt geschaffen« und »die Sprache und die Formen der philosophischen Epoche der deutschen Literatur erneuert und verwandelt hat«.
Brauns Schreiben, als Versuch, die Gründe von Beharrung und Veränderbarkeit in unserer Wirklichkeit zusammenzudenken und Möglichkeiten der Freiheit zu erkunden, ist immer auch Arbeit für morgen.
Die Darmstädter Akademie verlieh den Büchner-Preis »dem Dichter, der mit Erbarmen und Witz eine lebendige Chronik seiner geschichtlichen Welt geschaffen« und »die Sprache und die Formen der philosophischen Epoche der deutschen Literatur erneuert und verwandelt hat«.
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 20.03.2002Es schwankt der Boden, aber hart ist der Satz
Blick in die Werkstatt eines so renitenten wie belesenen Handwerkers: Volker Braun schildert, wie alles so gekommen ist
Seiner Erzählung „Die vier Werkzeugmacher” (1996) hat Volker Braun eine Vorbemerkung vorangestellt: „Mit Staunen, mit Schaudern las ich die Geschichte vom dicken Holzschnitzer Manetto, dem einige Kollegen vom Bau, weil er sich einmal nicht am Stammtisch einfand, einen Streich spielten, indem sie ihn glauben machten, er sei ein anderer geworden, ein gewisser Matteo, worüber er fast den Verstand verlor. Als ich an die Stelle kam, wo er in seine Werkstatt trat, in der er alles durcheinandergeworfen sah, war mir der alte wahre Vorfall plötzlich seltsam vertraut: dergestalt, daß ich einen neuen verstand, bei dem nicht einem sondern vielen mitgespielt wird, von der Geschichte, und mit mehr Grund.” Wer so schreibt, der mag in die Schule Bertolt Brechts gegangen sein, aber ihm könnte eine Zeile von Gottfried Benn als Motto dienen: „Heute aber ist der Satzbau das Primäre.” In diesem Auswahlband mit Prosa Volker Brauns aus vier Jahrzehnten gibt es viele Figuren, viele Geschichten. Der Hauptheld aber, der sich gegen alle Widrigkeiten stemmt, alle Untergänge überlebt und wie eine feste Klammer alle einzelnen Erzählungen zusammenfügt, ist: der Satzbau.
In den Sätzen der Vorbemerkung ist ein Selbstbildnis des Autors Volker Braun enthalten. Er ist der Handwerker, den der Blick auf sein Werkstatt, in der alles durcheinander geworfen ist, erschreckt und berührt. Denn er ist einer, der sein Werkzeug in Ordnung hält, der seine Lehrjahre nie vergessen hat, die Grundausbildung zum kompletten Dichter in allen drei Gewerken: Lyrik, Dramatik und Prosa. Gut sechzig Jahre ist er inzwischen, hat eine Kriegskindheit hinter sich, hat die DDR durchlebt und überlebt, noch jetzt steckt sie ihm in den Knochen. Die kurze Erzählung „Was kommt?” aus dem Band „Das Wirklichgewollte” (2000) ist aufgenommen. Ihr Schauplatz ist Rio, ihr Opfer ein aHerr namens Borges, der einen Straßenjungen aufnimmt. Aber dieses Rio ist im Ausland nicht zu finden. Es liegt in der Nähe von Kleists „Erdbeben in Chili”, genauer: in der Nähe jenes Ragusa, in dem der Signor Antonio Piachi in Kleists „Findling” seinen Niccolo aufgreift.
In der DDR aufgewachsene Schriftsteller der jüngeren Generation wie Ingo Schulze haben ihren Ton gefunden, indem sie aus der Kombination östliche Erfahrungen und Lebensmuster mit dem angelsächsisch-westlichen Erzählmuster erhellende Funken schlugen: Geschichten aus der Wendezeit als „Simple Storys”. Volker Braun hat als Prosaautor seinen Ton eher in der Vertikalen, im Rückgriff auf die klassische deutsche Literatur, gesucht und gefunden als in der Horizontalen, im Rundblick auf die zeitgenössische Literatur. Über die Anekdoten Brechts ging er zurück auf die Kunst des Periodenbaus bei Kleist und Friedrich Schiller. Die Anekdote und ihr grimmiger Humor stehen bei Volker Braun dort, wo bei Autoren der Bundesrepublik in den sechziger und siebziger Jahren die Experimente mit amerikanischer short story und Popsong, mit Schnoddrigkeit und Ironie standen.
Der halsstarrige Bauer
Die Mythologie der Leichtigkeit und Eleganz in Lyrik und Prosa, wie sie im Westen Deutschlands formvollendet Enzensberger verkörperte, blieb der DDR-Literatur, zumal ihren aufsässigen Querköpfen, fremd. Von Franz Fühmann bis Heiner Müller gibt es in ihr kaum so etwas wie eine ästhetische Westbindung, statt dessen allerorten die Verankerung in der Vertikalen: in der antiken Mythologie, in den heimischen Sagen und Märchen, in den Stoffen und der Diktion der deutschen Klassik und Romantik.
Bis in die sechziger Jahre reichen die Anekdoten zurück, die am Beginn dieser Auswahl versammelt sind. Die Arbeiter, Bauern, Funktionäre und Architekten der DDR werden hier vom Satzbau der Kleistschen „Abendblätter” eingeschlossen wie Insekten vom Bernstein: „Ein Bauer aus ..., der, nicht gewillt, sein vermintes Feld durch Sowjetsoldaten säubern zu lassen, selber die Arbeit machte, so daß ihm eine hochgehende Mine das Bein zerriß, verfluchte, im Fieber, den Krieg und die Russen, die ihn ins Dorf gebracht hätten.” So treten an die Seite der Anekdoten aus dem letzten preußischen Kriege die aus dem kargen sächsisch-preußischen Sozialismus. So übernahm die Literatur die Aufgabe, die von der Presse der DDR nicht zu erwarten war.
Das Bauen, der Aufbau war die Zentralmetapher des Sozialismus, in der großen Sowjetunion wie in dem „kleinen Land”, von dem er erzählt, der DDR. Der 17. Juni 1953 hat sie auch deshalb so erschüttert, weil es Bauarbeiter waren, die ihn auslösten. Etwas Ähnliches wie ein renitenter Facharbeiter, der nicht alles mit sich machen lässt, steckt in dem Prosaautor Volker Braun. Auf eins vor allem achtet er, was sonst auch immer geschieht: dass ihm keiner sein Werkzeug, die Sprache, ruiniert. Der Satzbau ist ihr hartes Rückgrat, das keiner so leicht verbiegt. Er ist aber nicht nur ein Instrument der Selbstbehauptung, sondern zugleich ein Messinstrument, das alle Erschütterungen beim Aufbau des Sozialismus verlässlich aufzeichnet. Gerade weil er so festgefügt ist, zeichnen sich in diesem Satzbau die Erosionen, die Zeichen des Verfalls so unübersehbar ab.
Ein Berliner Kioskbesitzer, dessen Zeitungen nichts über die Veränderung des Landes zu entnehmen ist, wittert im ersten Stück dieser Sammlung untrüglich die bevorstehenden Veränderungen. Sie hat noch keinen Namen, die neue Macht, aber unverkennbar ist der neue Geist schon da: „Ich kann nicht sagen, ob er über die Grenze gekommen ist, aus den U-Bahn-Schächten, oder ob er sich im Lande gebildet hat. Auf dem schwärzlichen, zerfreßnen Asphalt, in den Hinterhöfen, inmitten der trostlosen Kundgebungen. Als der neblige warme Winter noch auf der Stadt lag, hatte die neue Macht schon ihren Einzug gehalten.”
Eine Epoche vertan
Früh ist in den Satzbau Volker Brauns das Schwanken des Bodens eingezogen, in dem fulminanten Text „Bodenloser Satz” (1988) erreicht es den Titel der Prosa, unterkellert sie mit Abgründen, durchschießt die festen Fügungen mit den drei Punkten, die ein loses Ende signalisieren. In diesem Porträt eines Liebespaares vor dem Hintergrund einer Aussiedlung, der panischen Bewegung von Erdmassen, der rabiaten Landschaftszerstörung zugunsten des Tagebaues ist das Aufbaupathos des Sozialismus gültig zum Abbruchunternehmen verkehrt. Man sollte den „Bodenlosen Satz” zusammen mit der Rede „Himmelhoch, zutode” lesen, die Braun im Frühjahr 2001 in Dresden gehalten hat. Es ist eine Hommage an die Landschaft seiner Herkunft, eine Erinnerung an die Kindheit im Krieg und an den Vater. Und ein bissiger Abgesang: 'BAU AB.BAU AB. BAU AB. Fortschrott. Fortschrott. Eine Epoche vertan. Recht so.'
Keinem dieser Texte hat der Verlag ein Entstehungsdatum beigegeben, zu keinem angemerkt, wann und wo er zuerst veröffentlicht wurde, ob in der DDR oder in der Bundesrepublik. Das ist bei einem Autor, der so verstrickt ist in seine Zeit und sein Deutschland wie Volker Braun, mehr als schade. Es ist ärgerlich.
LOTHAR MÜLLER
VOLKER BRAUN: Wie es gekommen ist. Ausgewählte Prosa. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2002. 175 Seiten, 18 Euro.
Gerade weil er so festgefügt ist, zeichnen sich im Satzbau die Erosionen, die Zeichen des Verfalls so unübersehbar ab: in Dresden. Foto: Regina Schmeken
SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung exklusiv über www.diz-muenchen.de
Blick in die Werkstatt eines so renitenten wie belesenen Handwerkers: Volker Braun schildert, wie alles so gekommen ist
Seiner Erzählung „Die vier Werkzeugmacher” (1996) hat Volker Braun eine Vorbemerkung vorangestellt: „Mit Staunen, mit Schaudern las ich die Geschichte vom dicken Holzschnitzer Manetto, dem einige Kollegen vom Bau, weil er sich einmal nicht am Stammtisch einfand, einen Streich spielten, indem sie ihn glauben machten, er sei ein anderer geworden, ein gewisser Matteo, worüber er fast den Verstand verlor. Als ich an die Stelle kam, wo er in seine Werkstatt trat, in der er alles durcheinandergeworfen sah, war mir der alte wahre Vorfall plötzlich seltsam vertraut: dergestalt, daß ich einen neuen verstand, bei dem nicht einem sondern vielen mitgespielt wird, von der Geschichte, und mit mehr Grund.” Wer so schreibt, der mag in die Schule Bertolt Brechts gegangen sein, aber ihm könnte eine Zeile von Gottfried Benn als Motto dienen: „Heute aber ist der Satzbau das Primäre.” In diesem Auswahlband mit Prosa Volker Brauns aus vier Jahrzehnten gibt es viele Figuren, viele Geschichten. Der Hauptheld aber, der sich gegen alle Widrigkeiten stemmt, alle Untergänge überlebt und wie eine feste Klammer alle einzelnen Erzählungen zusammenfügt, ist: der Satzbau.
In den Sätzen der Vorbemerkung ist ein Selbstbildnis des Autors Volker Braun enthalten. Er ist der Handwerker, den der Blick auf sein Werkstatt, in der alles durcheinander geworfen ist, erschreckt und berührt. Denn er ist einer, der sein Werkzeug in Ordnung hält, der seine Lehrjahre nie vergessen hat, die Grundausbildung zum kompletten Dichter in allen drei Gewerken: Lyrik, Dramatik und Prosa. Gut sechzig Jahre ist er inzwischen, hat eine Kriegskindheit hinter sich, hat die DDR durchlebt und überlebt, noch jetzt steckt sie ihm in den Knochen. Die kurze Erzählung „Was kommt?” aus dem Band „Das Wirklichgewollte” (2000) ist aufgenommen. Ihr Schauplatz ist Rio, ihr Opfer ein aHerr namens Borges, der einen Straßenjungen aufnimmt. Aber dieses Rio ist im Ausland nicht zu finden. Es liegt in der Nähe von Kleists „Erdbeben in Chili”, genauer: in der Nähe jenes Ragusa, in dem der Signor Antonio Piachi in Kleists „Findling” seinen Niccolo aufgreift.
In der DDR aufgewachsene Schriftsteller der jüngeren Generation wie Ingo Schulze haben ihren Ton gefunden, indem sie aus der Kombination östliche Erfahrungen und Lebensmuster mit dem angelsächsisch-westlichen Erzählmuster erhellende Funken schlugen: Geschichten aus der Wendezeit als „Simple Storys”. Volker Braun hat als Prosaautor seinen Ton eher in der Vertikalen, im Rückgriff auf die klassische deutsche Literatur, gesucht und gefunden als in der Horizontalen, im Rundblick auf die zeitgenössische Literatur. Über die Anekdoten Brechts ging er zurück auf die Kunst des Periodenbaus bei Kleist und Friedrich Schiller. Die Anekdote und ihr grimmiger Humor stehen bei Volker Braun dort, wo bei Autoren der Bundesrepublik in den sechziger und siebziger Jahren die Experimente mit amerikanischer short story und Popsong, mit Schnoddrigkeit und Ironie standen.
Der halsstarrige Bauer
Die Mythologie der Leichtigkeit und Eleganz in Lyrik und Prosa, wie sie im Westen Deutschlands formvollendet Enzensberger verkörperte, blieb der DDR-Literatur, zumal ihren aufsässigen Querköpfen, fremd. Von Franz Fühmann bis Heiner Müller gibt es in ihr kaum so etwas wie eine ästhetische Westbindung, statt dessen allerorten die Verankerung in der Vertikalen: in der antiken Mythologie, in den heimischen Sagen und Märchen, in den Stoffen und der Diktion der deutschen Klassik und Romantik.
Bis in die sechziger Jahre reichen die Anekdoten zurück, die am Beginn dieser Auswahl versammelt sind. Die Arbeiter, Bauern, Funktionäre und Architekten der DDR werden hier vom Satzbau der Kleistschen „Abendblätter” eingeschlossen wie Insekten vom Bernstein: „Ein Bauer aus ..., der, nicht gewillt, sein vermintes Feld durch Sowjetsoldaten säubern zu lassen, selber die Arbeit machte, so daß ihm eine hochgehende Mine das Bein zerriß, verfluchte, im Fieber, den Krieg und die Russen, die ihn ins Dorf gebracht hätten.” So treten an die Seite der Anekdoten aus dem letzten preußischen Kriege die aus dem kargen sächsisch-preußischen Sozialismus. So übernahm die Literatur die Aufgabe, die von der Presse der DDR nicht zu erwarten war.
Das Bauen, der Aufbau war die Zentralmetapher des Sozialismus, in der großen Sowjetunion wie in dem „kleinen Land”, von dem er erzählt, der DDR. Der 17. Juni 1953 hat sie auch deshalb so erschüttert, weil es Bauarbeiter waren, die ihn auslösten. Etwas Ähnliches wie ein renitenter Facharbeiter, der nicht alles mit sich machen lässt, steckt in dem Prosaautor Volker Braun. Auf eins vor allem achtet er, was sonst auch immer geschieht: dass ihm keiner sein Werkzeug, die Sprache, ruiniert. Der Satzbau ist ihr hartes Rückgrat, das keiner so leicht verbiegt. Er ist aber nicht nur ein Instrument der Selbstbehauptung, sondern zugleich ein Messinstrument, das alle Erschütterungen beim Aufbau des Sozialismus verlässlich aufzeichnet. Gerade weil er so festgefügt ist, zeichnen sich in diesem Satzbau die Erosionen, die Zeichen des Verfalls so unübersehbar ab.
Ein Berliner Kioskbesitzer, dessen Zeitungen nichts über die Veränderung des Landes zu entnehmen ist, wittert im ersten Stück dieser Sammlung untrüglich die bevorstehenden Veränderungen. Sie hat noch keinen Namen, die neue Macht, aber unverkennbar ist der neue Geist schon da: „Ich kann nicht sagen, ob er über die Grenze gekommen ist, aus den U-Bahn-Schächten, oder ob er sich im Lande gebildet hat. Auf dem schwärzlichen, zerfreßnen Asphalt, in den Hinterhöfen, inmitten der trostlosen Kundgebungen. Als der neblige warme Winter noch auf der Stadt lag, hatte die neue Macht schon ihren Einzug gehalten.”
Eine Epoche vertan
Früh ist in den Satzbau Volker Brauns das Schwanken des Bodens eingezogen, in dem fulminanten Text „Bodenloser Satz” (1988) erreicht es den Titel der Prosa, unterkellert sie mit Abgründen, durchschießt die festen Fügungen mit den drei Punkten, die ein loses Ende signalisieren. In diesem Porträt eines Liebespaares vor dem Hintergrund einer Aussiedlung, der panischen Bewegung von Erdmassen, der rabiaten Landschaftszerstörung zugunsten des Tagebaues ist das Aufbaupathos des Sozialismus gültig zum Abbruchunternehmen verkehrt. Man sollte den „Bodenlosen Satz” zusammen mit der Rede „Himmelhoch, zutode” lesen, die Braun im Frühjahr 2001 in Dresden gehalten hat. Es ist eine Hommage an die Landschaft seiner Herkunft, eine Erinnerung an die Kindheit im Krieg und an den Vater. Und ein bissiger Abgesang: 'BAU AB.BAU AB. BAU AB. Fortschrott. Fortschrott. Eine Epoche vertan. Recht so.'
Keinem dieser Texte hat der Verlag ein Entstehungsdatum beigegeben, zu keinem angemerkt, wann und wo er zuerst veröffentlicht wurde, ob in der DDR oder in der Bundesrepublik. Das ist bei einem Autor, der so verstrickt ist in seine Zeit und sein Deutschland wie Volker Braun, mehr als schade. Es ist ärgerlich.
LOTHAR MÜLLER
VOLKER BRAUN: Wie es gekommen ist. Ausgewählte Prosa. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2002. 175 Seiten, 18 Euro.
Gerade weil er so festgefügt ist, zeichnen sich im Satzbau die Erosionen, die Zeichen des Verfalls so unübersehbar ab: in Dresden. Foto: Regina Schmeken
SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung exklusiv über www.diz-muenchen.de
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 24.08.2002So war es, so war es nicht
Alles, was Kunst verlangen kann: Prosa von Volker Braun
Ein Titel müsse kein Küchenzettel sein, hat Lessing gesagt. Er sei um so besser, je weniger er von dem Inhalt verrate. Wenn das stimmt, hat Volker Braun für seinen Band ausgewählter Prosa einen ausgezeichneten Titel gefunden, fast über Lessings Forderung hinaus. Einen, der nichts und gleichsam alles verrät. Er lautet, sachlich und ominös zugleich: "Wie es gekommen ist".
Was aber ist jenes "es", das unsere Neugier reizen und unsere Befürchtungen wecken möchte? Die Antwort ist nicht einfach zu haben, jedenfalls nicht durch die Ersetzung des "es" durch Begriffe wie Wende oder Umbruch. "Wie es gekommen ist": So nämlich lautete bereits der Titel einer jener Parabeln, die Braun im Frühjahr 1989 schrieb, als manches in der DDR auf Aufbruch und Veränderung, doch nicht auf Wende oder Umbruch hindeutete. Der kleine Text erzählt vom Umschlag der Stimmung im Land, von einem neuen Gefühl, das von den Menschen Besitz ergriff, und schließt mit der Wendung: ",Es war stärker als ich.' - Wer hätte gedacht, daß es sich unserer Köpfe bediente? Es schreckte vor nichts zurück." Es - das ist hier der Moment eines Aufbruchs, in dem Volker Braun eine Zeitlang eine Wiederkehr des Prager Frühlings von 1968 zu erkennen glaubte, den Ansatz für eine politische Utopie, die unter dem Stichwort Volkseigentum plus Demokratie zu verwirklichen wäre. Die erhoffte Umwälzung entwickelte sich bekanntlich anders. Braun vermochte in ihr nur den "fröhlichen Übertritt dieses Ostvölkchens in den Westen" zu sehen.
Ganz freilich kann ihn diese "Wende" nicht überrascht haben. Eine seiner ambitioniertesten poetischen Arbeiten, der September 1988 geschriebene Text "Bodenloser Satz", antizipierte sie als "die Republikflucht der Utopien in die Messer der Konsumschlacht". So waren auch nach der Wende keine Bekenntnisse des Autors zur neuen Ordnung zu erwarten. "Das Nichtgelebte" einer Utopie forderte sein Recht; so in der gleichnamigen Erzählung von 1995. Und die kleistisch pointierte Novelle "Die vier Werkzeugmacher" (1996), die Schilderung eines Abwicklungsfalles, ist mehr als eine Desillusionsparabel. Sie endet mit der Hoffnung wider alle Hoffnung: "Denn die Geschichte hat keine Absicht, und was die vielen betrifft, so müssen sie ihre äußern." Darauf wartet Braun offenbar immer noch.
So hat er diese und andere Arbeiten nicht zusammengestellt, um als schwarzer Prophet in eigener Sache zu erscheinen. "Wie es gekommen ist" verdankt sich einer Dialektik, die selbst die Verzweiflung in ihr Kalkül aufnimmt. Braun ist der Chronist des Strebens und der Hoffnungen, die sich mit diesem dialektischen Utopismus verbinden. Die Sammlung seiner Prosa führt von frühen Anekdoten, deren erste den Aktivisten Hennecke sagen läßt: "Man muß viel Geduld haben", bis zu der Geschichte "Was kommt", in der ein alter Mann resümiert: "Man war nie und nirgends auf den Grund gekommen, der umzuwälzen war." Merkwürdig und bedauerlich, daß der Verlag den Texten, die soviel mit historischen Momenten zu tun haben, nicht die Daten von Entstehung und Erstpublikation mitgegeben hat. Daß das im Sinne von Autor und Lesern ist, zeigt vorbildlich die zehnbändige Werkausgabe des Mitteldeutschen Verlages, erschienen von 1989 bis 1993.
Halten wir uns an einen Hinweis, den die Umschlagklappe des Bandes gibt, nämlich auf eine autobiographische Rede von 2001. Sie findet sich am Schluß des Bandes, als "Supplement" unter dem Titel "Himmelhoch, zutode". Diese jüngste Rede ist einer der bewegendsten Texte, die Volker Braun geschrieben hat. Man findet in ihm weder ein Himmelhochjauchzen noch das Zutodebetrübtsein, das der Titel suggeriert. Wohl aber - bei allem Schmerz, aller Skepsis - einen gelassenen Stoizismus. "So war es aber und war es nicht" lautet seine Formel. Braun beschwört das Andenken an seinen am letzten Kriegstag gefallenen Vater und die Erinnerung an die Zerstörung Dresdens. Er erzählt davon, die Flucht aus der DDR erwogen zu haben, und resümiert: "Wir blieben, das Geständnis mußte ich machen, das verlangte die Kunst, die radikalere Liebesszenen schreibt." Noch nie hat Braun so direkt und anrührend formuliert, was sein Leben und seine Kunst zeichnet.
Volker Braun: "Wie es gekommen ist". Ausgewählte Prosa. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2002. 175 S., geb., 18.- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Alles, was Kunst verlangen kann: Prosa von Volker Braun
Ein Titel müsse kein Küchenzettel sein, hat Lessing gesagt. Er sei um so besser, je weniger er von dem Inhalt verrate. Wenn das stimmt, hat Volker Braun für seinen Band ausgewählter Prosa einen ausgezeichneten Titel gefunden, fast über Lessings Forderung hinaus. Einen, der nichts und gleichsam alles verrät. Er lautet, sachlich und ominös zugleich: "Wie es gekommen ist".
Was aber ist jenes "es", das unsere Neugier reizen und unsere Befürchtungen wecken möchte? Die Antwort ist nicht einfach zu haben, jedenfalls nicht durch die Ersetzung des "es" durch Begriffe wie Wende oder Umbruch. "Wie es gekommen ist": So nämlich lautete bereits der Titel einer jener Parabeln, die Braun im Frühjahr 1989 schrieb, als manches in der DDR auf Aufbruch und Veränderung, doch nicht auf Wende oder Umbruch hindeutete. Der kleine Text erzählt vom Umschlag der Stimmung im Land, von einem neuen Gefühl, das von den Menschen Besitz ergriff, und schließt mit der Wendung: ",Es war stärker als ich.' - Wer hätte gedacht, daß es sich unserer Köpfe bediente? Es schreckte vor nichts zurück." Es - das ist hier der Moment eines Aufbruchs, in dem Volker Braun eine Zeitlang eine Wiederkehr des Prager Frühlings von 1968 zu erkennen glaubte, den Ansatz für eine politische Utopie, die unter dem Stichwort Volkseigentum plus Demokratie zu verwirklichen wäre. Die erhoffte Umwälzung entwickelte sich bekanntlich anders. Braun vermochte in ihr nur den "fröhlichen Übertritt dieses Ostvölkchens in den Westen" zu sehen.
Ganz freilich kann ihn diese "Wende" nicht überrascht haben. Eine seiner ambitioniertesten poetischen Arbeiten, der September 1988 geschriebene Text "Bodenloser Satz", antizipierte sie als "die Republikflucht der Utopien in die Messer der Konsumschlacht". So waren auch nach der Wende keine Bekenntnisse des Autors zur neuen Ordnung zu erwarten. "Das Nichtgelebte" einer Utopie forderte sein Recht; so in der gleichnamigen Erzählung von 1995. Und die kleistisch pointierte Novelle "Die vier Werkzeugmacher" (1996), die Schilderung eines Abwicklungsfalles, ist mehr als eine Desillusionsparabel. Sie endet mit der Hoffnung wider alle Hoffnung: "Denn die Geschichte hat keine Absicht, und was die vielen betrifft, so müssen sie ihre äußern." Darauf wartet Braun offenbar immer noch.
So hat er diese und andere Arbeiten nicht zusammengestellt, um als schwarzer Prophet in eigener Sache zu erscheinen. "Wie es gekommen ist" verdankt sich einer Dialektik, die selbst die Verzweiflung in ihr Kalkül aufnimmt. Braun ist der Chronist des Strebens und der Hoffnungen, die sich mit diesem dialektischen Utopismus verbinden. Die Sammlung seiner Prosa führt von frühen Anekdoten, deren erste den Aktivisten Hennecke sagen läßt: "Man muß viel Geduld haben", bis zu der Geschichte "Was kommt", in der ein alter Mann resümiert: "Man war nie und nirgends auf den Grund gekommen, der umzuwälzen war." Merkwürdig und bedauerlich, daß der Verlag den Texten, die soviel mit historischen Momenten zu tun haben, nicht die Daten von Entstehung und Erstpublikation mitgegeben hat. Daß das im Sinne von Autor und Lesern ist, zeigt vorbildlich die zehnbändige Werkausgabe des Mitteldeutschen Verlages, erschienen von 1989 bis 1993.
Halten wir uns an einen Hinweis, den die Umschlagklappe des Bandes gibt, nämlich auf eine autobiographische Rede von 2001. Sie findet sich am Schluß des Bandes, als "Supplement" unter dem Titel "Himmelhoch, zutode". Diese jüngste Rede ist einer der bewegendsten Texte, die Volker Braun geschrieben hat. Man findet in ihm weder ein Himmelhochjauchzen noch das Zutodebetrübtsein, das der Titel suggeriert. Wohl aber - bei allem Schmerz, aller Skepsis - einen gelassenen Stoizismus. "So war es aber und war es nicht" lautet seine Formel. Braun beschwört das Andenken an seinen am letzten Kriegstag gefallenen Vater und die Erinnerung an die Zerstörung Dresdens. Er erzählt davon, die Flucht aus der DDR erwogen zu haben, und resümiert: "Wir blieben, das Geständnis mußte ich machen, das verlangte die Kunst, die radikalere Liebesszenen schreibt." Noch nie hat Braun so direkt und anrührend formuliert, was sein Leben und seine Kunst zeichnet.
Volker Braun: "Wie es gekommen ist". Ausgewählte Prosa. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2002. 175 S., geb., 18.- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
"Besonders bewegend findet Rezensent Harald Hartung den jüngsten, autobiografischen Text des Bandes, in dem Autor Volker Braun das Andenken seines in den letzten Kriegstagen gefallenen Vaters und die Erinnerung an die Zerstörung Dresdens beschwört. Noch nie hat Braun "so direkt und anrührend" formuliert, "was sein Leben und seine Kunst zeichnet", schreibt der Rezensent. Aber auch die anderen Prosaarbeiten, die dieser Band versammelt, finden seinen tiefen Respekt, den der Rezensent im Wesentlichen damit begründet, dass Braun es sich mit seinem Urteil nie einfach macht. Das trifft insbesondere auf Texte zu, deren Thema gescheiterte Wende-Hoffnungen sind. Hier beeindruckt den Rezensenten besonders die "kleistisch pointierte Novelle 'Die vier Werkzeugmacher'" von 1996. Als "ambitionierteste poetische Arbeit" erscheint dem Rezensenten der 1988 geschriebene Text "Die Republikflucht der Utopien in die Messer der Konsumschlacht". "Merkwürdig und bedauerlich" findet Hartung, dass der Verlag den Texten, die soviel mit historischen Momenten zu tun hätten, nicht die Daten von Entstehung und Erstveröffentlichung mitgegeben hat.
© Perlentaucher Medien GmbH"
© Perlentaucher Medien GmbH"