Jürgen Becker ist die graue Eminenz der deutschen Gegenwartsliteratur, leise, überragend. Über fast fünf Jahrzehnte hinweg hat er das Kunststück fertiggebracht, sich selbst und seiner Sicht der Dinge auf der Spur zu bleiben und doch mit jedem neuen Buch einen eigenen Schreibansatz neu zu finden und zu erproben - in der vorliegenden Auswahl ist sein erzählerisches Werk neu zu entdecken. Die Zeit, das Zeitvergehen hat in diesem Werk mitgeschrieben, Jürgen Becker ist auch ein Chronist der Befindlichkeiten der Nachkriegsjahrzehnte. Die Wiedervereinigung bescherte ihm spät noch das Glück und die Herausforderung, den verdrängten ostdeutschen Kindheitsjahren nachzuspüren und das eigene Leben, wie stellvertretend, neu zusammenzufügen. Sein Werk erscheint heute beispielhaft für ein Schreiben, das die Erfahrungen mit der Wirklichkeit in sprachlichen Vorgängen reflektiert. Es hat eine eigene, unverwechselbare Gestalt gefunden; es spricht mit einer Stimme, die eindringlich ist und unüberhörbar.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 10.07.2012Komm, erzähl mir was von heute
Was beschreibt der Moment, und worauf liefert er Hinweise? Zwei neue Bücher zeigen, wie Jürgen Becker im Wahrnehmen und Erinnern ständig neue Entdeckungen macht.
Odenthal bei Leverkusen und nicht weit von Köln ist für die deutschsprachige Literatur ein Fixpunkt. In Odenthal im Bergischen Land lebt seit langem der Lyriker und Erzähler Jürgen Becker, der heute achtzig Jahre alt wird. In seinen Gedichten und seiner Prosa entsteht seit fünf Jahrzehnten die Chronik eines Umfelds in Auflösung, und dieser immer unwirklicheren Reizüberflutung hält Becker sein gewachsenes Maß aus Wort und Bild, Klängen und Formen entgegen - eine warme, ruhige Stimme.
Alternde Nachbarn, das Gartenjahr, der Krieg von Elstern und Krähen oder die nah und näher rückende Begradigung und Zubetonierung allen Grüns sind dem Leser der Gedichte aus "Das Ende der Landschaftsmalerei" (1974), "Odenthals Küste" (1986) oder "Journal der Wiederholungen" (1999) vertraut. Ebenso begegnet man dem wütend genauen Blick für das Naheliegende und von Verschüttung Gezeichnete bereits in der Prosa von "Felder" (1964), "Erzählen bis Ostende" (1981) und auch später in "Der fehlende Rest" (1997) sowie in Jürgen Beckers Roman "Aus der Geschichte der Trennungen" (1999), der ihm 25 Jahre nach dem Preis der Gruppe 47 den Uwe-Johnson-Preis eintrug.
Beckers Thema sind der lebendige Moment und dessen Verbindung durch die Flucht der Zeit mit Momenten, die etwas zu erzählen scheinen. Was? Liefern sie Hinweise? Worauf? Auch in zwei neuen Büchern, dem Gedichtband "Scheunen im Gelände" und der Prosaauswahl "Wie es weiterging", sind die Pole dieses seit fünfzig Jahren rotierenden Werks Wahrnehmen und Erinnern. Für Jürgen Becker ist beides beständige Entdeckung. Er will herausfinden, "welche Impulse es sind, die das Erinnern in Gang setzen; was das Erinnerte sagen kann; was überhaupt zu sagen, zu beschreiben, zu erzählen ist".
"Scheunen im Gelände" ist sein dreizehnter Gedichtband und das fünfte einer Reihe von Büchern, die zusammen mit der Künstlerin Rango Bohne entstanden. Mit ihr ist Jürgen Becker seit 1965 verheiratet, auch Rango Bohne wird dies Jahr achtzig Jahre alt. Zehn übermalte Fotocollagen aus ihrer Serie "Landreihen" korrespondieren in "Scheunen im Gelände" mit Gedichten über den Odenthaler Garten, die zerhackte Umgebung, das Altern, die atavistischen Ausbrüche, die Reisen nach Brandenburg, an die Ostsee. Gedichte wie Collagen lesen in der Landschaft wie in einer lebendigen Schrift oder auf einer lebenswarmen Uhr. So der kleine Text "Mitte August", der sich als Titelgedicht entpuppt: "Die Gegend / glaubt man zu kennen. Nur / weiß ich nicht, was es ist, / daß ich nicht aufhören kann, / auf die Scheune zu starren, / die zweimal dasteht im Gelände." Die irritierende Dopplung, das Sich-Wundern über Zusammenstehen und Übereinkunft, sieht man genauso in dem Bild neben dem Gedicht. Keines illustriert das andere. Doch spätestens beim Anblick der zwei schattendunklen, im Fluchtpunkt sich scheinbar berührenden Scheunen erkennt man auch das Paar, das sie vor Augen hatte und zugleich getrennt und gemeinsam im Gedächtnis behielt.
Im Austausch von Wahrnehmungen und Erinnerungen erproben die Gedichte Formen: Liste, Bildbefragung, Mitschrift. In Porträtmontagen werden die Erfurter Jugend lebendig, die junge Mutter, ihr Freitod in einem See in Ostbrandenburg und der im Krieg verschollene Onkel, der Maler Erich Schuchardt. Becker steigert die Länge der Gedichte bis zum letzten, dem siebenseitigen "Was man uns sagte", in dem einmal mehr Kunst und Kraft seines Enjambements bestechen. Der Titel legt nahe, das Gedicht könnte eine Replik auf Günter Grass sein, doch dem ist nicht so: "Was möglich wäre und was nötig, es kam / zu Grabenkämpfen, Debatten mit open end, während / die Sicherheitskräfte Erdbeeren aßen."
Stellt man sich die Werke von Jürgen Becker und Rango Bohne als Garten vor, so wären dort die Bilder das Haus, die Fenster, der Ausblick. Die Gedichte wären die Sträucher, Beete und Büsche, die Prosa aber das Gras, eine wachsende, sich verästelnde Fläche. In der Mitte steht der Autor, Schnittpunkt wuchernder Diskurse, rheinischer Tranströmer, dabei alter Radiofuchs, und begutachtet das Gewordene. Wie kam es dazu? Wohin führt das alles?
Nach jedem seiner zehn Prosabücher, so Becker im Nachwort zu "Wie es weiterging", habe er neu erfahren, dass stilistische Sicherheit ebenso Illusion ist wie ein Repertoire aus Themen und Motiven: "Das Schreiben fortzusetzen hieß stets, das Schreiben neu anzufangen." "Ein Durchgang" lautet der Untertitel von "Wie es weiterging" mit Beckerschem Understatement. Es ist ein elegant komponiertes, mitreißendes Lesebuch.
Fortgesetzter Neubeginn. Umorientieren. Weiter. Vom kritischen Triptychon "Felder", "Ränder" und "Umgebungen" (1964-1970) bis zu "Erzählen bis Ostende" und "Die Türe zum Meer" (1981-1983) liegt der weite Weg dessen, der jeder Geschichte misstraut. Mit Jörn Winter, dem Doppelgänger seit "Der fehlende Rest" und "Aus der Geschichte der Trennungen" (1996-1999), hat Jürgen Becker seinen Erzähler gefunden: Zerrüttung und Trotz, Vermissen und Verschmerzen, Krieg, Bonner Republik, Geschichte und Gesichter - Jörn redet es sich von der Seele. "Schnee in den Ardennen" und "Die folgenden Seiten" (2003-2006) erkunden das Gedächtnis neu und entwickeln verblüffende Formen für immer detailliertere Erinnerungen. Erst der Notatesammlung "Im Radio das Meer" (2009) aber gelingt eine lakonische Aussöhnung, ein vorläufiger Pakt. Der Vers des Lyrikers wird zum Satz, der Satz des Erzählers zum Vers: "Vergangenes ... komm, erzähl mir was von heute."
Heute vor achtzig Jahren wurde Jürgen Becker in Köln geboren. Heute hat man nicht nur in einem Garten in Odenthal allen Grund zu feiern.
MIRKO BONNÉ
Jürgen Becker: "Scheunen im Gelände". Gedichte.
Mit Collagen von Rango Bohne. Lyrik Kabinett, München 2012. 112 S., br., 20,- [Euro].
Jürgen Becker: "Wie es weiterging". Ein Durchgang - Prosa aus fünf Jahrzehnten.
Suhrkamp Verlag, Berlin 2012. 294 S., geb., 21,95 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Was beschreibt der Moment, und worauf liefert er Hinweise? Zwei neue Bücher zeigen, wie Jürgen Becker im Wahrnehmen und Erinnern ständig neue Entdeckungen macht.
Odenthal bei Leverkusen und nicht weit von Köln ist für die deutschsprachige Literatur ein Fixpunkt. In Odenthal im Bergischen Land lebt seit langem der Lyriker und Erzähler Jürgen Becker, der heute achtzig Jahre alt wird. In seinen Gedichten und seiner Prosa entsteht seit fünf Jahrzehnten die Chronik eines Umfelds in Auflösung, und dieser immer unwirklicheren Reizüberflutung hält Becker sein gewachsenes Maß aus Wort und Bild, Klängen und Formen entgegen - eine warme, ruhige Stimme.
Alternde Nachbarn, das Gartenjahr, der Krieg von Elstern und Krähen oder die nah und näher rückende Begradigung und Zubetonierung allen Grüns sind dem Leser der Gedichte aus "Das Ende der Landschaftsmalerei" (1974), "Odenthals Küste" (1986) oder "Journal der Wiederholungen" (1999) vertraut. Ebenso begegnet man dem wütend genauen Blick für das Naheliegende und von Verschüttung Gezeichnete bereits in der Prosa von "Felder" (1964), "Erzählen bis Ostende" (1981) und auch später in "Der fehlende Rest" (1997) sowie in Jürgen Beckers Roman "Aus der Geschichte der Trennungen" (1999), der ihm 25 Jahre nach dem Preis der Gruppe 47 den Uwe-Johnson-Preis eintrug.
Beckers Thema sind der lebendige Moment und dessen Verbindung durch die Flucht der Zeit mit Momenten, die etwas zu erzählen scheinen. Was? Liefern sie Hinweise? Worauf? Auch in zwei neuen Büchern, dem Gedichtband "Scheunen im Gelände" und der Prosaauswahl "Wie es weiterging", sind die Pole dieses seit fünfzig Jahren rotierenden Werks Wahrnehmen und Erinnern. Für Jürgen Becker ist beides beständige Entdeckung. Er will herausfinden, "welche Impulse es sind, die das Erinnern in Gang setzen; was das Erinnerte sagen kann; was überhaupt zu sagen, zu beschreiben, zu erzählen ist".
"Scheunen im Gelände" ist sein dreizehnter Gedichtband und das fünfte einer Reihe von Büchern, die zusammen mit der Künstlerin Rango Bohne entstanden. Mit ihr ist Jürgen Becker seit 1965 verheiratet, auch Rango Bohne wird dies Jahr achtzig Jahre alt. Zehn übermalte Fotocollagen aus ihrer Serie "Landreihen" korrespondieren in "Scheunen im Gelände" mit Gedichten über den Odenthaler Garten, die zerhackte Umgebung, das Altern, die atavistischen Ausbrüche, die Reisen nach Brandenburg, an die Ostsee. Gedichte wie Collagen lesen in der Landschaft wie in einer lebendigen Schrift oder auf einer lebenswarmen Uhr. So der kleine Text "Mitte August", der sich als Titelgedicht entpuppt: "Die Gegend / glaubt man zu kennen. Nur / weiß ich nicht, was es ist, / daß ich nicht aufhören kann, / auf die Scheune zu starren, / die zweimal dasteht im Gelände." Die irritierende Dopplung, das Sich-Wundern über Zusammenstehen und Übereinkunft, sieht man genauso in dem Bild neben dem Gedicht. Keines illustriert das andere. Doch spätestens beim Anblick der zwei schattendunklen, im Fluchtpunkt sich scheinbar berührenden Scheunen erkennt man auch das Paar, das sie vor Augen hatte und zugleich getrennt und gemeinsam im Gedächtnis behielt.
Im Austausch von Wahrnehmungen und Erinnerungen erproben die Gedichte Formen: Liste, Bildbefragung, Mitschrift. In Porträtmontagen werden die Erfurter Jugend lebendig, die junge Mutter, ihr Freitod in einem See in Ostbrandenburg und der im Krieg verschollene Onkel, der Maler Erich Schuchardt. Becker steigert die Länge der Gedichte bis zum letzten, dem siebenseitigen "Was man uns sagte", in dem einmal mehr Kunst und Kraft seines Enjambements bestechen. Der Titel legt nahe, das Gedicht könnte eine Replik auf Günter Grass sein, doch dem ist nicht so: "Was möglich wäre und was nötig, es kam / zu Grabenkämpfen, Debatten mit open end, während / die Sicherheitskräfte Erdbeeren aßen."
Stellt man sich die Werke von Jürgen Becker und Rango Bohne als Garten vor, so wären dort die Bilder das Haus, die Fenster, der Ausblick. Die Gedichte wären die Sträucher, Beete und Büsche, die Prosa aber das Gras, eine wachsende, sich verästelnde Fläche. In der Mitte steht der Autor, Schnittpunkt wuchernder Diskurse, rheinischer Tranströmer, dabei alter Radiofuchs, und begutachtet das Gewordene. Wie kam es dazu? Wohin führt das alles?
Nach jedem seiner zehn Prosabücher, so Becker im Nachwort zu "Wie es weiterging", habe er neu erfahren, dass stilistische Sicherheit ebenso Illusion ist wie ein Repertoire aus Themen und Motiven: "Das Schreiben fortzusetzen hieß stets, das Schreiben neu anzufangen." "Ein Durchgang" lautet der Untertitel von "Wie es weiterging" mit Beckerschem Understatement. Es ist ein elegant komponiertes, mitreißendes Lesebuch.
Fortgesetzter Neubeginn. Umorientieren. Weiter. Vom kritischen Triptychon "Felder", "Ränder" und "Umgebungen" (1964-1970) bis zu "Erzählen bis Ostende" und "Die Türe zum Meer" (1981-1983) liegt der weite Weg dessen, der jeder Geschichte misstraut. Mit Jörn Winter, dem Doppelgänger seit "Der fehlende Rest" und "Aus der Geschichte der Trennungen" (1996-1999), hat Jürgen Becker seinen Erzähler gefunden: Zerrüttung und Trotz, Vermissen und Verschmerzen, Krieg, Bonner Republik, Geschichte und Gesichter - Jörn redet es sich von der Seele. "Schnee in den Ardennen" und "Die folgenden Seiten" (2003-2006) erkunden das Gedächtnis neu und entwickeln verblüffende Formen für immer detailliertere Erinnerungen. Erst der Notatesammlung "Im Radio das Meer" (2009) aber gelingt eine lakonische Aussöhnung, ein vorläufiger Pakt. Der Vers des Lyrikers wird zum Satz, der Satz des Erzählers zum Vers: "Vergangenes ... komm, erzähl mir was von heute."
Heute vor achtzig Jahren wurde Jürgen Becker in Köln geboren. Heute hat man nicht nur in einem Garten in Odenthal allen Grund zu feiern.
MIRKO BONNÉ
Jürgen Becker: "Scheunen im Gelände". Gedichte.
Mit Collagen von Rango Bohne. Lyrik Kabinett, München 2012. 112 S., br., 20,- [Euro].
Jürgen Becker: "Wie es weiterging". Ein Durchgang - Prosa aus fünf Jahrzehnten.
Suhrkamp Verlag, Berlin 2012. 294 S., geb., 21,95 [Euro].
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Anlässlich des heutigen 80. Geburtstags des Lyrikers und Erzählers Jürgen Becker hat Mirko Bonné gleich zwei neue Bücher des Autors anzuzeigen. Der Prosaband "Wie es weiterging" mit Texten aus 50 Jahren überzeugt den Rezensenten durch sprachliche Eleganz und seine gelungene Komposition. Mit der Figur des Jörn Winter, Beckers Alter ego seit seinem Buch "Aus der Geschichte der Trennungen" von 2001, meint der Rezensent, habe der Autor "seinen Erzähler" gefunden, um von den Mechanismen des Erinnerns und den Schmerzen der Vergangenheit zu berichten.
© Perlentaucher Medien GmbH
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