Das erste Sachbuch des Bestsellerautors John Green: die Menschheitsgeschichte von Tastaturen über Hotdogs bis zur Schönheit des Sonnenuntergangs in der Review.
John Green verbindet sein eigenes Leben mit den großen Fragen der Menschheit: Was hat ein Teddybär mit Macht und Ohnmacht zu tun oder das Googeln mit unserer Endlichkeit? Mit seinem Blick für Seltsames, Wichtiges und Überraschendes bewertet John Green die menschengemachte Gegenwart auf einer Skala von 1 bis 5.
Das Anthropozän ist das aktuelle Erdzeitalter, in dem wir den Planeten grundlegend verändern. John Green versammelt Facetten dieser Epoche: Seine absurden, erhellenden und ganz persönlichen Funde spiegeln unser Leben mit allen Höhen und Tiefen. Ob "Monopoly" oder Pest, Klimaanlage oder Internet, "Super Mario Kart" oder Sonnenuntergänge - "Wie hat Ihnen das Anthropozän bis jetzt gefallen?" erzählt mit großer Leichtigkeit von unserer Lebenswirklichkeit und den existentiellen Erfahrungen des Menschseins.
John Green verbindet sein eigenes Leben mit den großen Fragen der Menschheit: Was hat ein Teddybär mit Macht und Ohnmacht zu tun oder das Googeln mit unserer Endlichkeit? Mit seinem Blick für Seltsames, Wichtiges und Überraschendes bewertet John Green die menschengemachte Gegenwart auf einer Skala von 1 bis 5.
Das Anthropozän ist das aktuelle Erdzeitalter, in dem wir den Planeten grundlegend verändern. John Green versammelt Facetten dieser Epoche: Seine absurden, erhellenden und ganz persönlichen Funde spiegeln unser Leben mit allen Höhen und Tiefen. Ob "Monopoly" oder Pest, Klimaanlage oder Internet, "Super Mario Kart" oder Sonnenuntergänge - "Wie hat Ihnen das Anthropozän bis jetzt gefallen?" erzählt mit großer Leichtigkeit von unserer Lebenswirklichkeit und den existentiellen Erfahrungen des Menschseins.
Versuch über Sonnenuntergänge
„Ich bin wirklich sehr, sehr gut darin, Fremde zu googeln“: John Greens gesammelte Texte über das Leben im Anthropozän sind eine helle Freude
Die Band Von wegen Lisbeth hat vor ein paar Tagen einen neuen Song freigeschaltet, in dem sich zwei Freunde in einer Bar treffen. Der eine sagt, er sei grad „in so einer Phase“, in der er sein Leben jetzt mal „ganz neu strukturiert / Und einfach tausend neue Sachen gleichzeitig probiert“. Der Sänger wünscht ihm dabei viel Glück, schließt aber mit den flehentlichen Zeilen: „Oder was mit Blockchain? Oder brau’ dein eignes Bier. / Aber eines, verspreche mir / Mach doch bitte, bitte, bitte keinen Podcast.“
Und damit zu John Green. Von dem wird an diesem Dienstag ein neues Buch freigeschaltet. Hanser bewirbt es als „Greens erstes Sachbuch“, und für alle bekennenden Aficionados ist da Vorfreude höchstens ein schaler Hilfsausdruck. Green ist der Autor von jugendlichen Liebesromanen wie „Eine wie Alaska“ oder „Margos Spuren“, der dann mit seinem Welterfolg „Das Schicksal ist ein mieser Verräter“ bewiesen hat, dass das mit diesen Jugendbuch-Etikettierungen in dem Moment Quatsch ist, wo einer einfach Wahr- und Schönheit in große Literatur umschmiedet.
Jetzt also „Wie hat Ihnen das Anthropozän bis jetzt gefallen?“. Darin versammelt er laut Hanser „Facetten dieser Epoche“ und wirft „eine berührende Perspektive auf unsere Lebenswirklichkeit“. Ja, lieber Hanser-Verlag, das stimmt alles irgendwie. Aber schreibt doch bitte deutlich dazu, dass das Buch größtenteils überarbeitete Folgen seines gleichnamigen Podcasts „Anthropocene Reviewed“ versammelt. Weil die Irritation viel geringer ausfällt, wenn man von vornherein weiß, ach so, keine überwölbende „Perspektive“, sondern kurze, heterogene Kapitel im rezensierenden Parlandostil; mal zu Phänomenen, die zur Matrix des amerikanischen Alltags gehören – CNN, Kanadagänse, das Rennen von Indianapolis –, mal zu autobiografisch intimen Themen wie Depression oder Mobbingerfahrungen in der Schule, die freilich auch jeweils angedockt werden an die popkulturelle Sozialisation eines 1977 geborenen Amerikaners.
Wenn man erst mal begriffen hat, dass das Ganze ein so loser wie bunter Strauß an Beobachtungen, Thesen, Themen ist, geht auch bald schon die Sonne auf beim Lesen. Nein, Green bietet keine Lösung an für den Großschlamassel namens Anthropozän. Aber einige der Texte schaffen es, das Kleine sinnstiftend mit dem Großen namens Leben zu verbinden, etwa wenn er in seinem Text über „Mein Freund Harvey“ erzählt, wie dieser Film ihn aus seiner suizidalen Depression mit Anfang 20 herausgeholt hat, einfach indem er ihm zeigte, „dass man verrückt und trotzdem ein Mensch sein konnte.“ Oder in dem Versuch über Sonnenuntergänge, der das ästhetische Problem daran – Sonnenuntergangsbeschreibungen werden meist rührselig oder sentimental – mit der physikalischen Tatsache verschaltet, dass man erst abends in die Sonne blicken kann, wenn die Lichtwellen einen längeren Weg durch die Atmosphäre nehmen müssen und daraus dann ein Bekenntnis zur Zurschaustellung der eigenen Verletzlichkeit ableitet. Womit vielleicht doch so was wie ein Kern dieses Buchs aufscheint.
John Green hat seit Jahren ein auktoriales Problem im wahrsten Sinne des Wortes: Die Erzähler seiner Romane klingen so authentisch, dass viele Leserinnen und Leser überzeugt sind, dass da jeweils Green selber spricht. Dass mehrere Bücher in seiner Heimatstadt Indianapolis spielen, hat diese Verwechslungsdynamik genauso befeuert wie die Tatsache, dass alle seine Helden so ticken wie er, schüchtern-einfühlsame Spätzünder mit philosophischer Ader und beeindruckendem Triviawissen.
In den Anthropozän-Texten erzählt Green ganz offen über sich selbst, so als trete da einer die Flucht nach vorne an: Okay, das hier bin ich wirklich, aber lasst dafür meine Figuren in Ruhe ihr fiktionales Leben leben. Am berührendsten gelingt das vielleicht in „Fremde googeln“. In allen Porträts über ihn wird erwähnt, dass Green mit Anfang 20 als Kaplan in einem Kinderkrankenhaus gearbeitet hat. Hier nun erzählt er, warum er das Ganze damals abgebrochen hat: Eines Nachts wurde ein dreijähriger Junge eingeliefert mit schwersten Verbrennungen. Während man im OP hörte, wie die Ärzte um sein Leben kämpften (der Junge war bei Bewusstsein), saß er mit dessen Eltern im Warteraum und hatte ihnen außer seinem verdrucksten Mitleid nichts zu geben. Die Ärzte waren überzeugt, dass der Junge sterben werde. Green gab nach dieser grauenhaften Nacht seinen Plan auf, Theologie zu studieren.
Diese zentrale Erinnerung ist eingesenkt in einen Text, in dem sich John Green als kleiner Junge über den Satz seiner Mutter wundert, jeder Mensch habe eine besondere Gabe. „Meiner Ansicht nach war ich ein rundum unbegabter Mensch. Aber wie sich herausstellen sollte, war mein Talent damals nur noch nicht erfunden worden, denn ich bin wirklich sehr, sehr gut darin, Fremde zu googeln.“ Schließlich hilft es einem zwanghaften Soziophobiker immens, wenn er vor dem Besuch einer Party alle Gäste googeln kann, um dann gesprächstechnisch gewappnet zu sein für eventuelle Begegnungen.
Green dreht alle Bedenken kurzerhand um: Ja, wir geben alles ab an die großen Konzerne, ja, es „widert“ ihn selbst an, wie einfach man im Leben fremder Menschen herumstöbern kann, andererseits fällt es vielen nun mal leichter, in Digitalien „ihr Innerstes mit der Welt zu teilen.“ Und so traut er sich 15 Jahre nach dem traumatischen Erlebnis, den Jungen zu googeln, dessen Tod er damals glaubte miterlebt zu haben – und findet ihn auf Facebook.
„Da war er. 18 Jahre alt. Er lebt. Er wächst heran, findet seinen Weg und dokumentiert sein Leben, das viel öffentlicher ist, als ihm wahrscheinlich bewusst ist. Wie könnte ich nicht dankbar dafür sein, dass ich das wissen darf?“ Das ist dann doch eine überraschende Wendung. Und fasst zugleich Greens Werk neu ein, denn nach dem Scheitern als Kaplan begann dieser vermeintlich rundum unbegabte Mensch zu schreiben und leistet seither mit seinen Büchern, was er damals im Krankenhaus glaubte nicht zu schaffen: Er schenkt uns Trost, mitten im dunklen Anthropozän.
ALEX RÜHLE
„Meiner Ansicht nach war ich ein rundum unbegabter Mensch“: der vielfach begabte Autor John Green.
Foto: Richard Drew
John Green: Wie hat Ihnen das Anthropozän bis jetzt gefallen? Aus dem Englischen von Henning Dedekind, Friedrich Pflüger, Wolfram Ströle, Violeta Georgieva Topalova.
Hanser Verlag, München 2021. 320 S., 22 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
„Ich bin wirklich sehr, sehr gut darin, Fremde zu googeln“: John Greens gesammelte Texte über das Leben im Anthropozän sind eine helle Freude
Die Band Von wegen Lisbeth hat vor ein paar Tagen einen neuen Song freigeschaltet, in dem sich zwei Freunde in einer Bar treffen. Der eine sagt, er sei grad „in so einer Phase“, in der er sein Leben jetzt mal „ganz neu strukturiert / Und einfach tausend neue Sachen gleichzeitig probiert“. Der Sänger wünscht ihm dabei viel Glück, schließt aber mit den flehentlichen Zeilen: „Oder was mit Blockchain? Oder brau’ dein eignes Bier. / Aber eines, verspreche mir / Mach doch bitte, bitte, bitte keinen Podcast.“
Und damit zu John Green. Von dem wird an diesem Dienstag ein neues Buch freigeschaltet. Hanser bewirbt es als „Greens erstes Sachbuch“, und für alle bekennenden Aficionados ist da Vorfreude höchstens ein schaler Hilfsausdruck. Green ist der Autor von jugendlichen Liebesromanen wie „Eine wie Alaska“ oder „Margos Spuren“, der dann mit seinem Welterfolg „Das Schicksal ist ein mieser Verräter“ bewiesen hat, dass das mit diesen Jugendbuch-Etikettierungen in dem Moment Quatsch ist, wo einer einfach Wahr- und Schönheit in große Literatur umschmiedet.
Jetzt also „Wie hat Ihnen das Anthropozän bis jetzt gefallen?“. Darin versammelt er laut Hanser „Facetten dieser Epoche“ und wirft „eine berührende Perspektive auf unsere Lebenswirklichkeit“. Ja, lieber Hanser-Verlag, das stimmt alles irgendwie. Aber schreibt doch bitte deutlich dazu, dass das Buch größtenteils überarbeitete Folgen seines gleichnamigen Podcasts „Anthropocene Reviewed“ versammelt. Weil die Irritation viel geringer ausfällt, wenn man von vornherein weiß, ach so, keine überwölbende „Perspektive“, sondern kurze, heterogene Kapitel im rezensierenden Parlandostil; mal zu Phänomenen, die zur Matrix des amerikanischen Alltags gehören – CNN, Kanadagänse, das Rennen von Indianapolis –, mal zu autobiografisch intimen Themen wie Depression oder Mobbingerfahrungen in der Schule, die freilich auch jeweils angedockt werden an die popkulturelle Sozialisation eines 1977 geborenen Amerikaners.
Wenn man erst mal begriffen hat, dass das Ganze ein so loser wie bunter Strauß an Beobachtungen, Thesen, Themen ist, geht auch bald schon die Sonne auf beim Lesen. Nein, Green bietet keine Lösung an für den Großschlamassel namens Anthropozän. Aber einige der Texte schaffen es, das Kleine sinnstiftend mit dem Großen namens Leben zu verbinden, etwa wenn er in seinem Text über „Mein Freund Harvey“ erzählt, wie dieser Film ihn aus seiner suizidalen Depression mit Anfang 20 herausgeholt hat, einfach indem er ihm zeigte, „dass man verrückt und trotzdem ein Mensch sein konnte.“ Oder in dem Versuch über Sonnenuntergänge, der das ästhetische Problem daran – Sonnenuntergangsbeschreibungen werden meist rührselig oder sentimental – mit der physikalischen Tatsache verschaltet, dass man erst abends in die Sonne blicken kann, wenn die Lichtwellen einen längeren Weg durch die Atmosphäre nehmen müssen und daraus dann ein Bekenntnis zur Zurschaustellung der eigenen Verletzlichkeit ableitet. Womit vielleicht doch so was wie ein Kern dieses Buchs aufscheint.
John Green hat seit Jahren ein auktoriales Problem im wahrsten Sinne des Wortes: Die Erzähler seiner Romane klingen so authentisch, dass viele Leserinnen und Leser überzeugt sind, dass da jeweils Green selber spricht. Dass mehrere Bücher in seiner Heimatstadt Indianapolis spielen, hat diese Verwechslungsdynamik genauso befeuert wie die Tatsache, dass alle seine Helden so ticken wie er, schüchtern-einfühlsame Spätzünder mit philosophischer Ader und beeindruckendem Triviawissen.
In den Anthropozän-Texten erzählt Green ganz offen über sich selbst, so als trete da einer die Flucht nach vorne an: Okay, das hier bin ich wirklich, aber lasst dafür meine Figuren in Ruhe ihr fiktionales Leben leben. Am berührendsten gelingt das vielleicht in „Fremde googeln“. In allen Porträts über ihn wird erwähnt, dass Green mit Anfang 20 als Kaplan in einem Kinderkrankenhaus gearbeitet hat. Hier nun erzählt er, warum er das Ganze damals abgebrochen hat: Eines Nachts wurde ein dreijähriger Junge eingeliefert mit schwersten Verbrennungen. Während man im OP hörte, wie die Ärzte um sein Leben kämpften (der Junge war bei Bewusstsein), saß er mit dessen Eltern im Warteraum und hatte ihnen außer seinem verdrucksten Mitleid nichts zu geben. Die Ärzte waren überzeugt, dass der Junge sterben werde. Green gab nach dieser grauenhaften Nacht seinen Plan auf, Theologie zu studieren.
Diese zentrale Erinnerung ist eingesenkt in einen Text, in dem sich John Green als kleiner Junge über den Satz seiner Mutter wundert, jeder Mensch habe eine besondere Gabe. „Meiner Ansicht nach war ich ein rundum unbegabter Mensch. Aber wie sich herausstellen sollte, war mein Talent damals nur noch nicht erfunden worden, denn ich bin wirklich sehr, sehr gut darin, Fremde zu googeln.“ Schließlich hilft es einem zwanghaften Soziophobiker immens, wenn er vor dem Besuch einer Party alle Gäste googeln kann, um dann gesprächstechnisch gewappnet zu sein für eventuelle Begegnungen.
Green dreht alle Bedenken kurzerhand um: Ja, wir geben alles ab an die großen Konzerne, ja, es „widert“ ihn selbst an, wie einfach man im Leben fremder Menschen herumstöbern kann, andererseits fällt es vielen nun mal leichter, in Digitalien „ihr Innerstes mit der Welt zu teilen.“ Und so traut er sich 15 Jahre nach dem traumatischen Erlebnis, den Jungen zu googeln, dessen Tod er damals glaubte miterlebt zu haben – und findet ihn auf Facebook.
„Da war er. 18 Jahre alt. Er lebt. Er wächst heran, findet seinen Weg und dokumentiert sein Leben, das viel öffentlicher ist, als ihm wahrscheinlich bewusst ist. Wie könnte ich nicht dankbar dafür sein, dass ich das wissen darf?“ Das ist dann doch eine überraschende Wendung. Und fasst zugleich Greens Werk neu ein, denn nach dem Scheitern als Kaplan begann dieser vermeintlich rundum unbegabte Mensch zu schreiben und leistet seither mit seinen Büchern, was er damals im Krankenhaus glaubte nicht zu schaffen: Er schenkt uns Trost, mitten im dunklen Anthropozän.
ALEX RÜHLE
„Meiner Ansicht nach war ich ein rundum unbegabter Mensch“: der vielfach begabte Autor John Green.
Foto: Richard Drew
John Green: Wie hat Ihnen das Anthropozän bis jetzt gefallen? Aus dem Englischen von Henning Dedekind, Friedrich Pflüger, Wolfram Ströle, Violeta Georgieva Topalova.
Hanser Verlag, München 2021. 320 S., 22 Euro.
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Perlentaucher-Notiz zur FR-Rezension
Von John Greens Manie, alles mit einem bis fünf Sternen zu bewerten, ist Rezensentin Friederike Meier etwas genervt, aber ansonsten imponieren ihr die auf einer Podcast-Reihe basierenden Essays des amerikanischen Jugendbuchautors. Green behandelt darin ihren Informationen zufolge die Ausbreitung der Kanadagänse, die Fußballhymne "You'll never walk alone", den Sender CNN, seine Heimatstadt Indianapolis oder auch die Notwendigkeit, Verletzlichkeit zu zeigen. Wie er dabei eigene Gedanken mit dem Wissen anderer Autoren gefällt Meier ebenfalls gut: nie belehrend, nie beildungshuberisch, sondern inspirierend und bereichernd.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 18.05.2021Versuch über Sonnenuntergänge
„Ich bin wirklich sehr, sehr gut darin, Fremde zu googeln“: John Greens gesammelte Texte über das Leben im Anthropozän sind eine helle Freude
Die Band Von wegen Lisbeth hat vor ein paar Tagen einen neuen Song freigeschaltet, in dem sich zwei Freunde in einer Bar treffen. Der eine sagt, er sei grad „in so einer Phase“, in der er sein Leben jetzt mal „ganz neu strukturiert / Und einfach tausend neue Sachen gleichzeitig probiert“. Der Sänger wünscht ihm dabei viel Glück, schließt aber mit den flehentlichen Zeilen: „Oder was mit Blockchain? Oder brau’ dein eignes Bier. / Aber eines, verspreche mir / Mach doch bitte, bitte, bitte keinen Podcast.“
Und damit zu John Green. Von dem wird an diesem Dienstag ein neues Buch freigeschaltet. Hanser bewirbt es als „Greens erstes Sachbuch“, und für alle bekennenden Aficionados ist da Vorfreude höchstens ein schaler Hilfsausdruck. Green ist der Autor von jugendlichen Liebesromanen wie „Eine wie Alaska“ oder „Margos Spuren“, der dann mit seinem Welterfolg „Das Schicksal ist ein mieser Verräter“ bewiesen hat, dass das mit diesen Jugendbuch-Etikettierungen in dem Moment Quatsch ist, wo einer einfach Wahr- und Schönheit in große Literatur umschmiedet.
Jetzt also „Wie hat Ihnen das Anthropozän bis jetzt gefallen?“. Darin versammelt er laut Hanser „Facetten dieser Epoche“ und wirft „eine berührende Perspektive auf unsere Lebenswirklichkeit“. Ja, lieber Hanser-Verlag, das stimmt alles irgendwie. Aber schreibt doch bitte deutlich dazu, dass das Buch größtenteils überarbeitete Folgen seines gleichnamigen Podcasts „Anthropocene Reviewed“ versammelt. Weil die Irritation viel geringer ausfällt, wenn man von vornherein weiß, ach so, keine überwölbende „Perspektive“, sondern kurze, heterogene Kapitel im rezensierenden Parlandostil; mal zu Phänomenen, die zur Matrix des amerikanischen Alltags gehören – CNN, Kanadagänse, das Rennen von Indianapolis –, mal zu autobiografisch intimen Themen wie Depression oder Mobbingerfahrungen in der Schule, die freilich auch jeweils angedockt werden an die popkulturelle Sozialisation eines 1977 geborenen Amerikaners.
Wenn man erst mal begriffen hat, dass das Ganze ein so loser wie bunter Strauß an Beobachtungen, Thesen, Themen ist, geht auch bald schon die Sonne auf beim Lesen. Nein, Green bietet keine Lösung an für den Großschlamassel namens Anthropozän. Aber einige der Texte schaffen es, das Kleine sinnstiftend mit dem Großen namens Leben zu verbinden, etwa wenn er in seinem Text über „Mein Freund Harvey“ erzählt, wie dieser Film ihn aus seiner suizidalen Depression mit Anfang 20 herausgeholt hat, einfach indem er ihm zeigte, „dass man verrückt und trotzdem ein Mensch sein konnte.“ Oder in dem Versuch über Sonnenuntergänge, der das ästhetische Problem daran – Sonnenuntergangsbeschreibungen werden meist rührselig oder sentimental – mit der physikalischen Tatsache verschaltet, dass man erst abends in die Sonne blicken kann, wenn die Lichtwellen einen längeren Weg durch die Atmosphäre nehmen müssen und daraus dann ein Bekenntnis zur Zurschaustellung der eigenen Verletzlichkeit ableitet. Womit vielleicht doch so was wie ein Kern dieses Buchs aufscheint.
John Green hat seit Jahren ein auktoriales Problem im wahrsten Sinne des Wortes: Die Erzähler seiner Romane klingen so authentisch, dass viele Leserinnen und Leser überzeugt sind, dass da jeweils Green selber spricht. Dass mehrere Bücher in seiner Heimatstadt Indianapolis spielen, hat diese Verwechslungsdynamik genauso befeuert wie die Tatsache, dass alle seine Helden so ticken wie er, schüchtern-einfühlsame Spätzünder mit philosophischer Ader und beeindruckendem Triviawissen.
In den Anthropozän-Texten erzählt Green ganz offen über sich selbst, so als trete da einer die Flucht nach vorne an: Okay, das hier bin ich wirklich, aber lasst dafür meine Figuren in Ruhe ihr fiktionales Leben leben. Am berührendsten gelingt das vielleicht in „Fremde googeln“. In allen Porträts über ihn wird erwähnt, dass Green mit Anfang 20 als Kaplan in einem Kinderkrankenhaus gearbeitet hat. Hier nun erzählt er, warum er das Ganze damals abgebrochen hat: Eines Nachts wurde ein dreijähriger Junge eingeliefert mit schwersten Verbrennungen. Während man im OP hörte, wie die Ärzte um sein Leben kämpften (der Junge war bei Bewusstsein), saß er mit dessen Eltern im Warteraum und hatte ihnen außer seinem verdrucksten Mitleid nichts zu geben. Die Ärzte waren überzeugt, dass der Junge sterben werde. Green gab nach dieser grauenhaften Nacht seinen Plan auf, Theologie zu studieren.
Diese zentrale Erinnerung ist eingesenkt in einen Text, in dem sich John Green als kleiner Junge über den Satz seiner Mutter wundert, jeder Mensch habe eine besondere Gabe. „Meiner Ansicht nach war ich ein rundum unbegabter Mensch. Aber wie sich herausstellen sollte, war mein Talent damals nur noch nicht erfunden worden, denn ich bin wirklich sehr, sehr gut darin, Fremde zu googeln.“ Schließlich hilft es einem zwanghaften Soziophobiker immens, wenn er vor dem Besuch einer Party alle Gäste googeln kann, um dann gesprächstechnisch gewappnet zu sein für eventuelle Begegnungen.
Green dreht alle Bedenken kurzerhand um: Ja, wir geben alles ab an die großen Konzerne, ja, es „widert“ ihn selbst an, wie einfach man im Leben fremder Menschen herumstöbern kann, andererseits fällt es vielen nun mal leichter, in Digitalien „ihr Innerstes mit der Welt zu teilen.“ Und so traut er sich 15 Jahre nach dem traumatischen Erlebnis, den Jungen zu googeln, dessen Tod er damals glaubte miterlebt zu haben – und findet ihn auf Facebook.
„Da war er. 18 Jahre alt. Er lebt. Er wächst heran, findet seinen Weg und dokumentiert sein Leben, das viel öffentlicher ist, als ihm wahrscheinlich bewusst ist. Wie könnte ich nicht dankbar dafür sein, dass ich das wissen darf?“ Das ist dann doch eine überraschende Wendung. Und fasst zugleich Greens Werk neu ein, denn nach dem Scheitern als Kaplan begann dieser vermeintlich rundum unbegabte Mensch zu schreiben und leistet seither mit seinen Büchern, was er damals im Krankenhaus glaubte nicht zu schaffen: Er schenkt uns Trost, mitten im dunklen Anthropozän.
ALEX RÜHLE
„Meiner Ansicht nach war ich ein rundum unbegabter Mensch“: der vielfach begabte Autor John Green.
Foto: Richard Drew
John Green: Wie hat Ihnen das Anthropozän bis jetzt gefallen? Aus dem Englischen von Henning Dedekind, Friedrich Pflüger, Wolfram Ströle, Violeta Georgieva Topalova.
Hanser Verlag, München 2021. 320 S., 22 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
„Ich bin wirklich sehr, sehr gut darin, Fremde zu googeln“: John Greens gesammelte Texte über das Leben im Anthropozän sind eine helle Freude
Die Band Von wegen Lisbeth hat vor ein paar Tagen einen neuen Song freigeschaltet, in dem sich zwei Freunde in einer Bar treffen. Der eine sagt, er sei grad „in so einer Phase“, in der er sein Leben jetzt mal „ganz neu strukturiert / Und einfach tausend neue Sachen gleichzeitig probiert“. Der Sänger wünscht ihm dabei viel Glück, schließt aber mit den flehentlichen Zeilen: „Oder was mit Blockchain? Oder brau’ dein eignes Bier. / Aber eines, verspreche mir / Mach doch bitte, bitte, bitte keinen Podcast.“
Und damit zu John Green. Von dem wird an diesem Dienstag ein neues Buch freigeschaltet. Hanser bewirbt es als „Greens erstes Sachbuch“, und für alle bekennenden Aficionados ist da Vorfreude höchstens ein schaler Hilfsausdruck. Green ist der Autor von jugendlichen Liebesromanen wie „Eine wie Alaska“ oder „Margos Spuren“, der dann mit seinem Welterfolg „Das Schicksal ist ein mieser Verräter“ bewiesen hat, dass das mit diesen Jugendbuch-Etikettierungen in dem Moment Quatsch ist, wo einer einfach Wahr- und Schönheit in große Literatur umschmiedet.
Jetzt also „Wie hat Ihnen das Anthropozän bis jetzt gefallen?“. Darin versammelt er laut Hanser „Facetten dieser Epoche“ und wirft „eine berührende Perspektive auf unsere Lebenswirklichkeit“. Ja, lieber Hanser-Verlag, das stimmt alles irgendwie. Aber schreibt doch bitte deutlich dazu, dass das Buch größtenteils überarbeitete Folgen seines gleichnamigen Podcasts „Anthropocene Reviewed“ versammelt. Weil die Irritation viel geringer ausfällt, wenn man von vornherein weiß, ach so, keine überwölbende „Perspektive“, sondern kurze, heterogene Kapitel im rezensierenden Parlandostil; mal zu Phänomenen, die zur Matrix des amerikanischen Alltags gehören – CNN, Kanadagänse, das Rennen von Indianapolis –, mal zu autobiografisch intimen Themen wie Depression oder Mobbingerfahrungen in der Schule, die freilich auch jeweils angedockt werden an die popkulturelle Sozialisation eines 1977 geborenen Amerikaners.
Wenn man erst mal begriffen hat, dass das Ganze ein so loser wie bunter Strauß an Beobachtungen, Thesen, Themen ist, geht auch bald schon die Sonne auf beim Lesen. Nein, Green bietet keine Lösung an für den Großschlamassel namens Anthropozän. Aber einige der Texte schaffen es, das Kleine sinnstiftend mit dem Großen namens Leben zu verbinden, etwa wenn er in seinem Text über „Mein Freund Harvey“ erzählt, wie dieser Film ihn aus seiner suizidalen Depression mit Anfang 20 herausgeholt hat, einfach indem er ihm zeigte, „dass man verrückt und trotzdem ein Mensch sein konnte.“ Oder in dem Versuch über Sonnenuntergänge, der das ästhetische Problem daran – Sonnenuntergangsbeschreibungen werden meist rührselig oder sentimental – mit der physikalischen Tatsache verschaltet, dass man erst abends in die Sonne blicken kann, wenn die Lichtwellen einen längeren Weg durch die Atmosphäre nehmen müssen und daraus dann ein Bekenntnis zur Zurschaustellung der eigenen Verletzlichkeit ableitet. Womit vielleicht doch so was wie ein Kern dieses Buchs aufscheint.
John Green hat seit Jahren ein auktoriales Problem im wahrsten Sinne des Wortes: Die Erzähler seiner Romane klingen so authentisch, dass viele Leserinnen und Leser überzeugt sind, dass da jeweils Green selber spricht. Dass mehrere Bücher in seiner Heimatstadt Indianapolis spielen, hat diese Verwechslungsdynamik genauso befeuert wie die Tatsache, dass alle seine Helden so ticken wie er, schüchtern-einfühlsame Spätzünder mit philosophischer Ader und beeindruckendem Triviawissen.
In den Anthropozän-Texten erzählt Green ganz offen über sich selbst, so als trete da einer die Flucht nach vorne an: Okay, das hier bin ich wirklich, aber lasst dafür meine Figuren in Ruhe ihr fiktionales Leben leben. Am berührendsten gelingt das vielleicht in „Fremde googeln“. In allen Porträts über ihn wird erwähnt, dass Green mit Anfang 20 als Kaplan in einem Kinderkrankenhaus gearbeitet hat. Hier nun erzählt er, warum er das Ganze damals abgebrochen hat: Eines Nachts wurde ein dreijähriger Junge eingeliefert mit schwersten Verbrennungen. Während man im OP hörte, wie die Ärzte um sein Leben kämpften (der Junge war bei Bewusstsein), saß er mit dessen Eltern im Warteraum und hatte ihnen außer seinem verdrucksten Mitleid nichts zu geben. Die Ärzte waren überzeugt, dass der Junge sterben werde. Green gab nach dieser grauenhaften Nacht seinen Plan auf, Theologie zu studieren.
Diese zentrale Erinnerung ist eingesenkt in einen Text, in dem sich John Green als kleiner Junge über den Satz seiner Mutter wundert, jeder Mensch habe eine besondere Gabe. „Meiner Ansicht nach war ich ein rundum unbegabter Mensch. Aber wie sich herausstellen sollte, war mein Talent damals nur noch nicht erfunden worden, denn ich bin wirklich sehr, sehr gut darin, Fremde zu googeln.“ Schließlich hilft es einem zwanghaften Soziophobiker immens, wenn er vor dem Besuch einer Party alle Gäste googeln kann, um dann gesprächstechnisch gewappnet zu sein für eventuelle Begegnungen.
Green dreht alle Bedenken kurzerhand um: Ja, wir geben alles ab an die großen Konzerne, ja, es „widert“ ihn selbst an, wie einfach man im Leben fremder Menschen herumstöbern kann, andererseits fällt es vielen nun mal leichter, in Digitalien „ihr Innerstes mit der Welt zu teilen.“ Und so traut er sich 15 Jahre nach dem traumatischen Erlebnis, den Jungen zu googeln, dessen Tod er damals glaubte miterlebt zu haben – und findet ihn auf Facebook.
„Da war er. 18 Jahre alt. Er lebt. Er wächst heran, findet seinen Weg und dokumentiert sein Leben, das viel öffentlicher ist, als ihm wahrscheinlich bewusst ist. Wie könnte ich nicht dankbar dafür sein, dass ich das wissen darf?“ Das ist dann doch eine überraschende Wendung. Und fasst zugleich Greens Werk neu ein, denn nach dem Scheitern als Kaplan begann dieser vermeintlich rundum unbegabte Mensch zu schreiben und leistet seither mit seinen Büchern, was er damals im Krankenhaus glaubte nicht zu schaffen: Er schenkt uns Trost, mitten im dunklen Anthropozän.
ALEX RÜHLE
„Meiner Ansicht nach war ich ein rundum unbegabter Mensch“: der vielfach begabte Autor John Green.
Foto: Richard Drew
John Green: Wie hat Ihnen das Anthropozän bis jetzt gefallen? Aus dem Englischen von Henning Dedekind, Friedrich Pflüger, Wolfram Ströle, Violeta Georgieva Topalova.
Hanser Verlag, München 2021. 320 S., 22 Euro.
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 09.06.2021Die Pest bekommt nur einen Stern
Ein Autor erfolgreicher Jugendbücher wechselt das Genre: John Green durchquert in seinen Essays das Anthropozän auf ganz eigene Weise.
Für griffige Buchtitel ist John Green seit seinen erfolgreichen Jugendromanen "Das Schicksal ist ein mieser Verräter" oder "Schlaft gut, ihr fiesen Gedanken" bekannt. Sein neues Werk ist ein Sachbuch, versammelt mehr als vierzig Kurzessays, die aus den populären Podcasts und Video-Blogs des Autors hervorgegangen sind, und trägt in der deutschen Übersetzung den schillernden Titel: "Wie hat Ihnen das Anthropozän bis jetzt gefallen?" Im amerikanischen Original wurde der Name von Greens Podcast übernommen: "The Anthropocene Reviewed".
Beide sind in ihrer halbironischen Vollmundigkeit gut gewählt. Mit Leichtigkeit fassen sie auch disparateste Themen unter einem Begriff zusammen, der einiges an zeitkritischem Potential verspricht. Wer Anthropozän hört, denkt: Klimawandel - und dieser ist dann auch eines der zentralen Motive des Buchs. Andere sind die Corona-Pandemie, Fußangeln der Ökonomie und die Begrenztheit des menschlichen Gehirns.
Vollkommen sinnlos ist es, typische Phänomene dieser schwer abgrenzbaren Epoche menschengetriebener Erdgeschichte mit einem Punktesystem zu bewerten. Das sieht auch John Green so, nutzt die zeremonielle Sternevergabe an Dinge wie digitale Velociraptoren oder Amerikas beliebteste Rasensorte, das Kentucky Bluegrass, aber trotzdem als ironisches Schlussmoment in seinen Essays. So macht er sich über ein Internetzeitalter lustig, das jede Parkbank bewertet: "Ich gebe dem Halleyschen Kometen viereinhalb Sterne."
Zugleich entspricht dieser Bewertungs-Gag einem symbolischen Zugeständnis, denn Interaktivität und Schwarmintelligenz findet John Green durchaus gut. Alles andere wäre für einen Video-Blogger und Podcaster auch verwunderlich gewesen, und es hätte lächerlich gewirkt, hätte Green vorgegeben, sich all das nerdige Spezialwissen über Kanadagänse oder das Hotdog-Essen bei Nathans' Famous ernsthaft angelesen zu haben. In einem Anmerkungsteil am Schluss nennt er artig seine Quellen und Zuarbeiter und zeigt, dass er die maßgebliche Literatur zum jeweiligen Thema zumindest zur Kenntnis genommen hat.
Einen entscheidenden Zug von Greens Essays lässt der Buchtitel nicht im Ansatz erkennen: die Verzweiflung, die manchmal abrupt aus Passagen voller wohliger Sentimentalität hervorbricht und sich gerade in der zweiten Hälfte des Buches ausbreitet - ein Ringen mit Depressionen und Ängsten, von denen John Green, wie er umstandslos erklärt ("mir wurde klar, dass ich nicht mehr verschlüsselt schreiben wollte"), seit Kindheitstagen geplagt wird.
Damit betritt er den schmalen Grat zwischen Sachbuch und persönlichem Erzählen. Übertreibt es Green mit der Introspektion und bleibt er - gerade bei seinen düsteren Stücken mit Corona-Bezug entsteht dieser Eindruck - naheliegende Objektivierungen schuldig, dann verfehlt er den Horizont vieler Leser und auch seinen eigenen, der, wie er stets betont, aufs Hoffnungspenden gerichtet sei. Bemerkenswert in jedem Fall, dass sich die Zugkraft von Greens Essays in den ausgestrahlten Podcasts bereits erwiesen hat. Ist das Anthropozän vor allem für seine jungen Bewohner deprimierender, als sie offen zugeben? Trifft Green deshalb einen Nerv? In Buchform muss sich sein Ansatz jetzt vor einem breiteren Publikum beweisen.
Im Grunde kreisen viele von Greens Essays um Fragen, die sich wie folgt zusammenfassen lassen: Wie lerne ich, mit der Vergänglichkeit und Sinnlosigkeit in der Welt klarzukommen? Eine Antwort suchte Green in jungen Jahren als Kaplan in einem Kinderkrankenhaus. Doch die geballte Kontingenz der von ihm erlebten Sterbefälle warf ihn aus der Bahn. Er musste sich in ärztliche Behandlung begeben und fand, zugespitzt formuliert, erst wieder in der Kulturgeschichte Trost. Sein Buch ist gespickt mit oft wenig bekannten Zitaten von Dichtern und Denkern.
Die Essays verführen dazu, im Text Erwähntes online aufzurufen. Die Torwartleistungen von Jerzey Dudek und Bruce Grobbelaar wirken auf Youtube dann zwar weniger spektakulär, als Greens Beschreibungen erwarten lassen, doch Entdeckungen ergeben sich zuhauf - etwa der Band "The Mountain Goats" oder des Filmbeginns von "Die Pinguine von Madagaskar". Allein die kuratorische Leistung des Buchs ist nicht zu unterschätzen.
Im Buch befinden sich nur drei Abbildungen, alle umkreisen ein Motiv, das es John Green besonders angetan hat: die schon von Richard Powers in seinem Roman "Drei Bauern auf dem Weg zum Tanz" verewigte Fotografie "Jungbauern" von August Sander. Bemerkenswert, wie sich Green diesem berühmten Schnappschuss nähert, indem er verschiedene Bedeutungsebenen freilegt. Da sind drei junge Männer kurz vor Beginn des ersten Weltkriegs auf dem Weg zum Wochenendvergnügen, das verrät das Datum. Mit ihren ungestellten Blicken überbrücken die herausgeputzten Männer mühelos einen Zeitraum von hundert Jahren.
An diesem Punkt hätte sich Green mit dem Bild begnügen können. Doch es hatte ihm noch nicht alle Fragen beantwortet. Green forschte weiter und wurde, unterstützt von der Online-Community "Tuataria", schließlich in einem Zeitungsartikel von Reinhard Pabst fündig (F.A.Z. vom 15. April 2014), in dem das weitere Schicksal der drei Männer erzählt wird, die, wie sich herausstellt, keine Bauern waren und vom Krieg unterschiedlich gezeichnet wurden. Green berichtet all das voller Begeisterung; mit Stolz präsentiert er zwei bisher unbekannte Fotografien der "Jungbauern", die ihm Pabst zur Verfügung stellte.
Auf eine schnittige Lehre verzichtet Green im letzten Kapitel, knapp fasst er zusammen: "Alles Mögliche hätte passieren können, aber eines ist passiert." Und der Leser denkt: Das gab es vor dem Anthropozän tatsächlich nicht - dass ein amerikanischer Autor, er weiß nicht genau warum, sich in drei einfachen jungen Westerwäldern des Jahres 1914 wiederfindet, deren Lebensgeschichte mit hundertjähriger Verspätung von einem Kunstdetektiv freigelegt und von einem Recherche-Verbund übersetzt und ihm zugetragen wird. Verbindende Elemente sind die Begeisterung und Menschlichkeit. In einer Zeit, in der so viele Räder ineinander- greifen, müsste man eigentlich auch das Anthropozän in geeignete Bahnen lenken können.
UWE EBBINGHAUS
John Green: "Wie hat Ihnen das Anthropozän bis jetzt gefallen?"
Aus dem Englischen von
H. Dedekind, F. Pflüger,
W. Ströle und V. G. Topalova. Hanser Verlag, München 2021. 320 S., Abb., geb., 22,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Ein Autor erfolgreicher Jugendbücher wechselt das Genre: John Green durchquert in seinen Essays das Anthropozän auf ganz eigene Weise.
Für griffige Buchtitel ist John Green seit seinen erfolgreichen Jugendromanen "Das Schicksal ist ein mieser Verräter" oder "Schlaft gut, ihr fiesen Gedanken" bekannt. Sein neues Werk ist ein Sachbuch, versammelt mehr als vierzig Kurzessays, die aus den populären Podcasts und Video-Blogs des Autors hervorgegangen sind, und trägt in der deutschen Übersetzung den schillernden Titel: "Wie hat Ihnen das Anthropozän bis jetzt gefallen?" Im amerikanischen Original wurde der Name von Greens Podcast übernommen: "The Anthropocene Reviewed".
Beide sind in ihrer halbironischen Vollmundigkeit gut gewählt. Mit Leichtigkeit fassen sie auch disparateste Themen unter einem Begriff zusammen, der einiges an zeitkritischem Potential verspricht. Wer Anthropozän hört, denkt: Klimawandel - und dieser ist dann auch eines der zentralen Motive des Buchs. Andere sind die Corona-Pandemie, Fußangeln der Ökonomie und die Begrenztheit des menschlichen Gehirns.
Vollkommen sinnlos ist es, typische Phänomene dieser schwer abgrenzbaren Epoche menschengetriebener Erdgeschichte mit einem Punktesystem zu bewerten. Das sieht auch John Green so, nutzt die zeremonielle Sternevergabe an Dinge wie digitale Velociraptoren oder Amerikas beliebteste Rasensorte, das Kentucky Bluegrass, aber trotzdem als ironisches Schlussmoment in seinen Essays. So macht er sich über ein Internetzeitalter lustig, das jede Parkbank bewertet: "Ich gebe dem Halleyschen Kometen viereinhalb Sterne."
Zugleich entspricht dieser Bewertungs-Gag einem symbolischen Zugeständnis, denn Interaktivität und Schwarmintelligenz findet John Green durchaus gut. Alles andere wäre für einen Video-Blogger und Podcaster auch verwunderlich gewesen, und es hätte lächerlich gewirkt, hätte Green vorgegeben, sich all das nerdige Spezialwissen über Kanadagänse oder das Hotdog-Essen bei Nathans' Famous ernsthaft angelesen zu haben. In einem Anmerkungsteil am Schluss nennt er artig seine Quellen und Zuarbeiter und zeigt, dass er die maßgebliche Literatur zum jeweiligen Thema zumindest zur Kenntnis genommen hat.
Einen entscheidenden Zug von Greens Essays lässt der Buchtitel nicht im Ansatz erkennen: die Verzweiflung, die manchmal abrupt aus Passagen voller wohliger Sentimentalität hervorbricht und sich gerade in der zweiten Hälfte des Buches ausbreitet - ein Ringen mit Depressionen und Ängsten, von denen John Green, wie er umstandslos erklärt ("mir wurde klar, dass ich nicht mehr verschlüsselt schreiben wollte"), seit Kindheitstagen geplagt wird.
Damit betritt er den schmalen Grat zwischen Sachbuch und persönlichem Erzählen. Übertreibt es Green mit der Introspektion und bleibt er - gerade bei seinen düsteren Stücken mit Corona-Bezug entsteht dieser Eindruck - naheliegende Objektivierungen schuldig, dann verfehlt er den Horizont vieler Leser und auch seinen eigenen, der, wie er stets betont, aufs Hoffnungspenden gerichtet sei. Bemerkenswert in jedem Fall, dass sich die Zugkraft von Greens Essays in den ausgestrahlten Podcasts bereits erwiesen hat. Ist das Anthropozän vor allem für seine jungen Bewohner deprimierender, als sie offen zugeben? Trifft Green deshalb einen Nerv? In Buchform muss sich sein Ansatz jetzt vor einem breiteren Publikum beweisen.
Im Grunde kreisen viele von Greens Essays um Fragen, die sich wie folgt zusammenfassen lassen: Wie lerne ich, mit der Vergänglichkeit und Sinnlosigkeit in der Welt klarzukommen? Eine Antwort suchte Green in jungen Jahren als Kaplan in einem Kinderkrankenhaus. Doch die geballte Kontingenz der von ihm erlebten Sterbefälle warf ihn aus der Bahn. Er musste sich in ärztliche Behandlung begeben und fand, zugespitzt formuliert, erst wieder in der Kulturgeschichte Trost. Sein Buch ist gespickt mit oft wenig bekannten Zitaten von Dichtern und Denkern.
Die Essays verführen dazu, im Text Erwähntes online aufzurufen. Die Torwartleistungen von Jerzey Dudek und Bruce Grobbelaar wirken auf Youtube dann zwar weniger spektakulär, als Greens Beschreibungen erwarten lassen, doch Entdeckungen ergeben sich zuhauf - etwa der Band "The Mountain Goats" oder des Filmbeginns von "Die Pinguine von Madagaskar". Allein die kuratorische Leistung des Buchs ist nicht zu unterschätzen.
Im Buch befinden sich nur drei Abbildungen, alle umkreisen ein Motiv, das es John Green besonders angetan hat: die schon von Richard Powers in seinem Roman "Drei Bauern auf dem Weg zum Tanz" verewigte Fotografie "Jungbauern" von August Sander. Bemerkenswert, wie sich Green diesem berühmten Schnappschuss nähert, indem er verschiedene Bedeutungsebenen freilegt. Da sind drei junge Männer kurz vor Beginn des ersten Weltkriegs auf dem Weg zum Wochenendvergnügen, das verrät das Datum. Mit ihren ungestellten Blicken überbrücken die herausgeputzten Männer mühelos einen Zeitraum von hundert Jahren.
An diesem Punkt hätte sich Green mit dem Bild begnügen können. Doch es hatte ihm noch nicht alle Fragen beantwortet. Green forschte weiter und wurde, unterstützt von der Online-Community "Tuataria", schließlich in einem Zeitungsartikel von Reinhard Pabst fündig (F.A.Z. vom 15. April 2014), in dem das weitere Schicksal der drei Männer erzählt wird, die, wie sich herausstellt, keine Bauern waren und vom Krieg unterschiedlich gezeichnet wurden. Green berichtet all das voller Begeisterung; mit Stolz präsentiert er zwei bisher unbekannte Fotografien der "Jungbauern", die ihm Pabst zur Verfügung stellte.
Auf eine schnittige Lehre verzichtet Green im letzten Kapitel, knapp fasst er zusammen: "Alles Mögliche hätte passieren können, aber eines ist passiert." Und der Leser denkt: Das gab es vor dem Anthropozän tatsächlich nicht - dass ein amerikanischer Autor, er weiß nicht genau warum, sich in drei einfachen jungen Westerwäldern des Jahres 1914 wiederfindet, deren Lebensgeschichte mit hundertjähriger Verspätung von einem Kunstdetektiv freigelegt und von einem Recherche-Verbund übersetzt und ihm zugetragen wird. Verbindende Elemente sind die Begeisterung und Menschlichkeit. In einer Zeit, in der so viele Räder ineinander- greifen, müsste man eigentlich auch das Anthropozän in geeignete Bahnen lenken können.
UWE EBBINGHAUS
John Green: "Wie hat Ihnen das Anthropozän bis jetzt gefallen?"
Aus dem Englischen von
H. Dedekind, F. Pflüger,
W. Ströle und V. G. Topalova. Hanser Verlag, München 2021. 320 S., Abb., geb., 22,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
"Green beherrscht die Kunst, die Erkenntnisse anderer mit seinen eigenen Recherchen und Erlebnissen zu verbinden, ohne die Texte mit Belesenheit zu überfrachten. Er schafft daraus neue Bedeutung für sich selbst und teilt sie mit uns." Frankfurter Rundschau, 05.07.21
"Green verwebt in seinen Essays das eigene Leben mit den Kräften des Antropozäns ... und nimmt die großen Fragen der Menschheit, poetisch und aufschlussreich zugleich, unter die Lupe." Silke Weber, Zeit Wissen Juli / August 2021
"Gesellschaftskritisch, amerikakritisch, kapitalismuskritisch, den Klimawandel fürchtend, den Viren und Bakterien mit ihrem Überlebenswillen Respekt zollend, niemalsabgehoben, niemals mit Fremdworten jonglierend, immer persönlich und somit auf besondere Weise bindend, so erzählt John Green. Mal heiter, oft ernst, frei und assoziativ ... Ich hatte Spaß mit Greens Selbstdistanz und seiner verblüffenden Offenheit. Ein unkonventionelles Sachbuch. Für John Green Fans ein Muss. Für Neugierige eine Gelegenheit, Fan zuwerden." Ute Wegmann, Deutschlandfunk, 21.06.21
"Jeder Essay für sich genommen schlägt mit einer beinahe unerträglichen Leichtigkeit einen Bogen von einem winzigen, eigentlich belanglosen Phänomen zu einer fundamentalen Frage des Menschseins." Marlen Hobrack, taz am Wochenende, 19.06.21
"Allein die kuratorische Leistung des Buchs ist nicht zu unterschätzen." Uwe Ebbinghaus, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 09.06.21
"Green liefert Hintergrundinformationen, aber nicht mit erhobenem Zeigefinger, sondern als Beobachtungen, Denkanstöße. ... Immer bringt John Green komplexe Gefühle auf den Punkt ... Das Buch bietet viele Anregungen, über diese und andere Fragen noch einmal nachzudenken. 4,5 Sterne." Volkart Wildermuth, Deutschlandfunk Kultur, 4.6.21
"Fünf Sterne für John Green ... gleichermaßen zauberhaft wie randvoll an Kenntnissen ... Sein exploratives Erzählen gleicht der Neugierde junger Hunde: grenzenlos verspielt, unermüdlich, mit jeder Entdeckung bereit, sich in diese Welt zu verlieben, wider den eigenen Nihilismus. ... [Das Buch] beginnt zu leuchten, wenn es, wie auf fast jeder Seite, das Ich auf die Suche nach einer Welt gehen lässt, die offen ist für Begegnung. Und es brilliert, wenn es die Geschichte des Anthropozäns episodisch verdichtet." Elisabeth von Thadden, Die Zeit, 2.6.2021
"Eine helle Freude ... Einige der Texte schaffen es, das Kleine sinnstiftend mit dem Großen namens Leben zu verbinden ... Green schenkt uns Trost, mitten im dunklen Anthropozän." Alex Rühle, Süddeutsche Zeitung, 18.5.21
"Die Rezensionen sind jeweils ein Stück Kulturgeschichte. Sie sind philosophische Essays ... Sie sind gleichzeitig eklektisch und absolut zwingend. Deprimierend und hoffnungsvoll. Lustig und traurig." Maren Keller, Der Spiegel, 15.5.21
"Green verwebt in seinen Essays das eigene Leben mit den Kräften des Antropozäns ... und nimmt die großen Fragen der Menschheit, poetisch und aufschlussreich zugleich, unter die Lupe." Silke Weber, Zeit Wissen Juli / August 2021
"Gesellschaftskritisch, amerikakritisch, kapitalismuskritisch, den Klimawandel fürchtend, den Viren und Bakterien mit ihrem Überlebenswillen Respekt zollend, niemalsabgehoben, niemals mit Fremdworten jonglierend, immer persönlich und somit auf besondere Weise bindend, so erzählt John Green. Mal heiter, oft ernst, frei und assoziativ ... Ich hatte Spaß mit Greens Selbstdistanz und seiner verblüffenden Offenheit. Ein unkonventionelles Sachbuch. Für John Green Fans ein Muss. Für Neugierige eine Gelegenheit, Fan zuwerden." Ute Wegmann, Deutschlandfunk, 21.06.21
"Jeder Essay für sich genommen schlägt mit einer beinahe unerträglichen Leichtigkeit einen Bogen von einem winzigen, eigentlich belanglosen Phänomen zu einer fundamentalen Frage des Menschseins." Marlen Hobrack, taz am Wochenende, 19.06.21
"Allein die kuratorische Leistung des Buchs ist nicht zu unterschätzen." Uwe Ebbinghaus, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 09.06.21
"Green liefert Hintergrundinformationen, aber nicht mit erhobenem Zeigefinger, sondern als Beobachtungen, Denkanstöße. ... Immer bringt John Green komplexe Gefühle auf den Punkt ... Das Buch bietet viele Anregungen, über diese und andere Fragen noch einmal nachzudenken. 4,5 Sterne." Volkart Wildermuth, Deutschlandfunk Kultur, 4.6.21
"Fünf Sterne für John Green ... gleichermaßen zauberhaft wie randvoll an Kenntnissen ... Sein exploratives Erzählen gleicht der Neugierde junger Hunde: grenzenlos verspielt, unermüdlich, mit jeder Entdeckung bereit, sich in diese Welt zu verlieben, wider den eigenen Nihilismus. ... [Das Buch] beginnt zu leuchten, wenn es, wie auf fast jeder Seite, das Ich auf die Suche nach einer Welt gehen lässt, die offen ist für Begegnung. Und es brilliert, wenn es die Geschichte des Anthropozäns episodisch verdichtet." Elisabeth von Thadden, Die Zeit, 2.6.2021
"Eine helle Freude ... Einige der Texte schaffen es, das Kleine sinnstiftend mit dem Großen namens Leben zu verbinden ... Green schenkt uns Trost, mitten im dunklen Anthropozän." Alex Rühle, Süddeutsche Zeitung, 18.5.21
"Die Rezensionen sind jeweils ein Stück Kulturgeschichte. Sie sind philosophische Essays ... Sie sind gleichzeitig eklektisch und absolut zwingend. Deprimierend und hoffnungsvoll. Lustig und traurig." Maren Keller, Der Spiegel, 15.5.21