Wenzel Groszak, Ölbohrarbeiter auf einer Plattform mitten im Meer, verliert in einer stürmischen Nacht seinen einzigen Freund. Nach dessen Tod reist Wenzel nach Ungarn, bringt dessen Sachen zur Familie. Und jetzt? Soll er zurück auf eine Plattform? Vor der westafrikanischen Küste wird er seine Arbeitskleider wegwerfen, wird über Malta und Italien aufbrechen nach Norden, in ein erloschenes Ruhrgebiet, seine frühere Heimat. Und je näher er seiner großen Liebe Milena kommt, desto offener scheint ihm, ob er noch zurückfinden kann. Anja Kampmanns überraschender Roman erzählt in dichter, poetischer Sprache von der Rückkehr aus der Fremde, vom Versuch, aus einer bodenlosen Arbeitswelt zurückzufinden ins eigene Leben.
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 13.03.2018Hauptsache, weg von der Plattform
Viel konkreter wird es nicht: In Anja Kampmanns Debütroman, nominiert für den Preis der Leipziger Buchmesse, irrt ein Ölbohrarbeiter ziellos durch Europa
Man muss es gar nicht erst nachschauen, es reicht, den Roman anzulesen, um zu wissen: Diese Frau ist Lyrikerin. Ebenfalls bei Hanser erschien 2016 ihr Gedichtband "Proben von Stein und Licht". Es geht sehr viel um Meer und Vögel, um Dörfer, Schnee und Wälder. Viel konkreter wird es nicht. Anja Kampmann verharrt im Vagen, das ist ihr Programm - und ihr Problem. Denn das Herumfühlen im Ungenauen liegt meist nur wenige Zentimeter neben dem Kitsch und kann für Leser, die sonst eher das Herumdenken im Präzisen schätzen, schnell unerträglich werden. Dem Kitschverdacht entgeht Anja Kampmann immer gerade so durch bewusstes Flachhalten sämtlicher sprachlicher Bälle. Und nimmt sich damit die Möglichkeit, auch nur einmal ein bisschen aufzudrehen und lauter zu werden und flüstert eben nur so vor sich hin. Aber von vorn.
In ihrem ersten Roman "Wie hoch die Wasser steigen", der für den Preis der Leipziger Buchmesse nominiert ist, geht es um einen 52 Jahre alten Mann, der auf einer Bohrinsel vor Marokko arbeitet. Dann stirbt sein Kollege und Freund Matyás bei einem Unfall, der nie aufgeklärt wird, was vor allem daran liegt, dass sich die Vorgesetzten wenig Mühe machen, irgendetwas aufzuklären. Matyás war nur globale Verschiebemasse im Energiegeschäft, ein Wanderarbeiter der besserbezahlten Sorte.
Der Ölbohrarbeiter heißt mal Waclaw und mal Wenzel, was schon gröbere Identitätsverwerfungen andeutet - denn wie heimatlos ist einer, der nicht einmal mehr weiß, wie er heißt? Er begibt sich nach Matyás Tod zunächst zu Patricía, Matyás Halbschwester, um ihr das letzte Bündel Hab und Gut zu übergeben. Er schläft mit ihr, das tut er öfter einmal am Wegesrand, und stellt dann fest, dass er nicht mehr auf die Plattform zurückkehren will, aber auch sonst wenig Ziele mehr hat. "Manchmal kam es ihm so vor, als wären diese Jahre davongerissen worden wie Brocken Ton von einer Töpferscheibe, die sie nur kurz berührten, und die Mitte der Scheibe bleibt leer."
Wer nicht weiß, wohin die Zukunft führt, der flüchtet sich gern einmal in die Vergangenheit. So auch Waclaw, der der Sohn eines polnischen Bergmannes im Ruhrgebiet war. Einer, der sich irgendwann zu Tode hustete, wie die meisten seiner Kollegen. Alois von der Esse hingegen kam rechtzeitig davon und bewohnt nun ein kleines Haus im Apennin. Über verschlungene Wege via Tanger, Malta, Norditalien, Orte, die allesamt eindruckslos vorbeiziehen, führt das Roadmovie Waclaw schließlich zum alten Alois, der noch immer seine Brieftauben züchtet wie damals. Und da bekommt er endlich eine Aufgabe. Er soll eine der Tauben mit ins Ruhrgebiet nehmen und sie dort freilassen. Denn die Brieftauben finden immer nach Hause, nur Waclaw nicht, weil er kein Zuhause hat, was jetzt nicht die subtilste Metaphorik ist, die einem dazu einfallen kann. Und auch Milena - von ihr erfahren wir immerhin, dass sie schön ist, kleine feste Brüste hat und einen Cockerspaniel - hat er irgendwann verloren, denkt aber ständig noch an sie.
Der Roman hat nichts von dem, was Romane normalerweise haben, es ist die lyrische Annäherung an einen Roman. Alles zieht in einem dissoziierten Irgendwo, einem Irgendwann an einem vorbei, vermutlich fühlt es sich so an, wenn man Waclaw ist, man nirgendwo hängenbleibt und auch nichts an einem selbst hängenbleibt. Was aber bleibt, das ist die Sprache, die ihre Gegenstände mit spitzen Fingern anfasst und es immerhin schafft, Zwischentöne des Ungefähren zu finden. "Der Fahrer drosselte die Geschwindigkeit, und während sie mit einem leisen Tuckern an den anderen Booten vorbeizogen, sah Waclaw all die Fliegen, Motten und Falter, die als weiße Schatten um die Scheinwerfer im Hafen tanzten, ein durchsichtig helles Schwärmen, irritierend schön vor dem Dunkel der Nacht. Darin all das Flirrende vieler Jahre, die sich zu nichts verbanden, die ungeordnet auftauchten im begrenzenden Kegel Licht." Ob man mit einem so hohen Ton, der vor Misstönen nicht gefeit ist, der Plackerei eines Ölbohrarbeiters gerecht wird, muss hier zum Glück nicht entschieden werden.
ANDREA DIENER
Anja Kampmann: "Wie hoch die Wasser steigen". Roman.
Hanser Verlag, München 2018. 352 S., geb., 23,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Viel konkreter wird es nicht: In Anja Kampmanns Debütroman, nominiert für den Preis der Leipziger Buchmesse, irrt ein Ölbohrarbeiter ziellos durch Europa
Man muss es gar nicht erst nachschauen, es reicht, den Roman anzulesen, um zu wissen: Diese Frau ist Lyrikerin. Ebenfalls bei Hanser erschien 2016 ihr Gedichtband "Proben von Stein und Licht". Es geht sehr viel um Meer und Vögel, um Dörfer, Schnee und Wälder. Viel konkreter wird es nicht. Anja Kampmann verharrt im Vagen, das ist ihr Programm - und ihr Problem. Denn das Herumfühlen im Ungenauen liegt meist nur wenige Zentimeter neben dem Kitsch und kann für Leser, die sonst eher das Herumdenken im Präzisen schätzen, schnell unerträglich werden. Dem Kitschverdacht entgeht Anja Kampmann immer gerade so durch bewusstes Flachhalten sämtlicher sprachlicher Bälle. Und nimmt sich damit die Möglichkeit, auch nur einmal ein bisschen aufzudrehen und lauter zu werden und flüstert eben nur so vor sich hin. Aber von vorn.
In ihrem ersten Roman "Wie hoch die Wasser steigen", der für den Preis der Leipziger Buchmesse nominiert ist, geht es um einen 52 Jahre alten Mann, der auf einer Bohrinsel vor Marokko arbeitet. Dann stirbt sein Kollege und Freund Matyás bei einem Unfall, der nie aufgeklärt wird, was vor allem daran liegt, dass sich die Vorgesetzten wenig Mühe machen, irgendetwas aufzuklären. Matyás war nur globale Verschiebemasse im Energiegeschäft, ein Wanderarbeiter der besserbezahlten Sorte.
Der Ölbohrarbeiter heißt mal Waclaw und mal Wenzel, was schon gröbere Identitätsverwerfungen andeutet - denn wie heimatlos ist einer, der nicht einmal mehr weiß, wie er heißt? Er begibt sich nach Matyás Tod zunächst zu Patricía, Matyás Halbschwester, um ihr das letzte Bündel Hab und Gut zu übergeben. Er schläft mit ihr, das tut er öfter einmal am Wegesrand, und stellt dann fest, dass er nicht mehr auf die Plattform zurückkehren will, aber auch sonst wenig Ziele mehr hat. "Manchmal kam es ihm so vor, als wären diese Jahre davongerissen worden wie Brocken Ton von einer Töpferscheibe, die sie nur kurz berührten, und die Mitte der Scheibe bleibt leer."
Wer nicht weiß, wohin die Zukunft führt, der flüchtet sich gern einmal in die Vergangenheit. So auch Waclaw, der der Sohn eines polnischen Bergmannes im Ruhrgebiet war. Einer, der sich irgendwann zu Tode hustete, wie die meisten seiner Kollegen. Alois von der Esse hingegen kam rechtzeitig davon und bewohnt nun ein kleines Haus im Apennin. Über verschlungene Wege via Tanger, Malta, Norditalien, Orte, die allesamt eindruckslos vorbeiziehen, führt das Roadmovie Waclaw schließlich zum alten Alois, der noch immer seine Brieftauben züchtet wie damals. Und da bekommt er endlich eine Aufgabe. Er soll eine der Tauben mit ins Ruhrgebiet nehmen und sie dort freilassen. Denn die Brieftauben finden immer nach Hause, nur Waclaw nicht, weil er kein Zuhause hat, was jetzt nicht die subtilste Metaphorik ist, die einem dazu einfallen kann. Und auch Milena - von ihr erfahren wir immerhin, dass sie schön ist, kleine feste Brüste hat und einen Cockerspaniel - hat er irgendwann verloren, denkt aber ständig noch an sie.
Der Roman hat nichts von dem, was Romane normalerweise haben, es ist die lyrische Annäherung an einen Roman. Alles zieht in einem dissoziierten Irgendwo, einem Irgendwann an einem vorbei, vermutlich fühlt es sich so an, wenn man Waclaw ist, man nirgendwo hängenbleibt und auch nichts an einem selbst hängenbleibt. Was aber bleibt, das ist die Sprache, die ihre Gegenstände mit spitzen Fingern anfasst und es immerhin schafft, Zwischentöne des Ungefähren zu finden. "Der Fahrer drosselte die Geschwindigkeit, und während sie mit einem leisen Tuckern an den anderen Booten vorbeizogen, sah Waclaw all die Fliegen, Motten und Falter, die als weiße Schatten um die Scheinwerfer im Hafen tanzten, ein durchsichtig helles Schwärmen, irritierend schön vor dem Dunkel der Nacht. Darin all das Flirrende vieler Jahre, die sich zu nichts verbanden, die ungeordnet auftauchten im begrenzenden Kegel Licht." Ob man mit einem so hohen Ton, der vor Misstönen nicht gefeit ist, der Plackerei eines Ölbohrarbeiters gerecht wird, muss hier zum Glück nicht entschieden werden.
ANDREA DIENER
Anja Kampmann: "Wie hoch die Wasser steigen". Roman.
Hanser Verlag, München 2018. 352 S., geb., 23,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Perlentaucher-Notiz zur ZEIT-Rezension
Tobias Lehmkuhl fühlt sich an die Helden und die Weltaneignung durch Sprache in Peter Handkes Romanen erinnert mit Anja Kampmanns Debüt. Bemerkenswert findet er die Geschichte um einen verlassenen Ölbohrinselarbeiter, der die Verbindung zu seinen Gefühlen verliert und dessen Wahrnehmung der äußeren Dinge wächst, nicht so sehr als Text über eine Heimat- und Sinnsuche, sondern wegen ihrer nichtlinearen Erzählweise, die mittels Erinnerungsschüben und Bilder das Tempo drosselt und Plot und Figurenentwicklung eher abbremst. Ein ganz eigener Raum der Sinne entsteht, der dem Rezensenten das Gefühl vermittelt, die Zeit wäre mit den Händen zu greifen.
© Perlentaucher Medien GmbH
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"'Wie hoch die Wasser steigen' sticht aus der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur nicht nur dieses Frühjahrs heraus. Hier ist eine Autorin zu entdecken, deren umfassende Weltaneignung durch Sprache sich am ehesten mit dem Schreibfuror Peter Handkes vergleichen lässt." Tobias Lehmkuhl, Die Zeit, 22.02.18
"Ein Roman über Entwurzelung in Zeiten der Globalisierung ... Für ihre Geschichte über die Auflösung aller Bindungen, angefangen von der Klassenzugehörigkeit und Nationalität bis zu Liebesbeziehungen, wählt Anja Kampmann eine poetische Sprache ... Ihr gelingen Episoden von enormer Kraft." Maike Albath, Deutschlandfunk Kultur, 02.02.18
"Es ist ein tief beeindruckendes Buch, in dem es tost und braust, aus Farben wie mit Glutamat versetzt und voller unerlöster Gefühle. Und dabei ist es ein großes Buch der Stille ... Ein mit enormer erzählerischer Umsicht geschriebener und herzergreifend unsentimentaler Roman über die Weite, die zwischen dem Ich und der Welt liegt." Paul Jandl, Neue Zürcher Zeitung, 31.01.18
"Ein grandioser Debütroman." Helmut Böttiger, Süddeutsche Zeitung, 29.01.18
"Das Besondere an diesem Buch ist, dass es zugleich unbedingt im Heute und in einer nicht genau zu umreißenden, fernen Zeitlosigkeit spielt. Und es ist die Sprache, die aus hoch technisierten Abläufen auf Ölbohrplattformen im offenen Meer und einer archaischen Existenz im Gebirge dieselben poetischen Funken schlagen kann." Helmut Böttiger, Süddeutsche Zeitung, 29.01.18
"Anja Kampmann bringt etwas zur Sprache, für das uns sonst die Worte fehlen. Mit 'Wie hoch die Wasser steigen' ist ihr ein hochaktueller Roman gelungen, der von den flexiblen Tagelöhnern unserer Gegenwart erzählt."
Tino Dallmann, NDR Kultur, 28.01.2018
"Ein Roman über Entwurzelung in Zeiten der Globalisierung ... Für ihre Geschichte über die Auflösung aller Bindungen, angefangen von der Klassenzugehörigkeit und Nationalität bis zu Liebesbeziehungen, wählt Anja Kampmann eine poetische Sprache ... Ihr gelingen Episoden von enormer Kraft." Maike Albath, Deutschlandfunk Kultur, 02.02.18
"Es ist ein tief beeindruckendes Buch, in dem es tost und braust, aus Farben wie mit Glutamat versetzt und voller unerlöster Gefühle. Und dabei ist es ein großes Buch der Stille ... Ein mit enormer erzählerischer Umsicht geschriebener und herzergreifend unsentimentaler Roman über die Weite, die zwischen dem Ich und der Welt liegt." Paul Jandl, Neue Zürcher Zeitung, 31.01.18
"Ein grandioser Debütroman." Helmut Böttiger, Süddeutsche Zeitung, 29.01.18
"Das Besondere an diesem Buch ist, dass es zugleich unbedingt im Heute und in einer nicht genau zu umreißenden, fernen Zeitlosigkeit spielt. Und es ist die Sprache, die aus hoch technisierten Abläufen auf Ölbohrplattformen im offenen Meer und einer archaischen Existenz im Gebirge dieselben poetischen Funken schlagen kann." Helmut Böttiger, Süddeutsche Zeitung, 29.01.18
"Anja Kampmann bringt etwas zur Sprache, für das uns sonst die Worte fehlen. Mit 'Wie hoch die Wasser steigen' ist ihr ein hochaktueller Roman gelungen, der von den flexiblen Tagelöhnern unserer Gegenwart erzählt."
Tino Dallmann, NDR Kultur, 28.01.2018