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Ob einem Mann das 100%ige Mädchen über den Weg läuft und es ihm nicht gelingt, es anzusprechen, oder ob ein junger Mann von einer Frau gerufen wird, die ihn die Schränke ihrer Tochter öffnen läßt - Murakamis Menschen begegnen dem Außergewöhnlichen.

Produktbeschreibung
Ob einem Mann das 100%ige Mädchen über den Weg läuft und es ihm nicht gelingt, es anzusprechen, oder ob ein junger Mann von einer Frau gerufen wird, die ihn die Schränke ihrer Tochter öffnen läßt - Murakamis Menschen begegnen dem Außergewöhnlichen.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 03.12.1996

Bist du traurig, trink ein Bier
Haruki Murakami blickt umgekehrt durchs Fernglas / Von Marion Löhndorf

Haruki Murakami ist ein Verführer. Er gibt sich jovial, ein Erzähler, der amüsante Geschichten in Aussicht zu stellen scheint. Sein Ton ist gefällig, auch wirken die Begebenheiten, die er schildert, harmlos und banal. "Wie ich eines schönen Morgens im April das hundertprozentige Mädchen sah" heißt sein Kurzgeschichtenband. Man kann ihn schnell und ohne Anstrengung lesen wie einen Comic: deshalb ist vielleicht auch sein Umschlag knallgelb, lockt mit roter Schrift und Strichfiguren. Doch er ist tückisch. Nichts von dem, was der Band enthält, ist leicht, nichts einfach. Es ist abgründig und böse: ein gutes Buch.

Haruki Murakami wurde 1949 in Kyoto geboren und gilt, obwohl selbst nicht mehr jung, als "shooting star" der jungen japanischen Literaturszene. Die meisten der neun hier versammelten Geschichten pflegen einen vordergründig genauen Realismus, ein paar davon zeigen Einbrüche des Absurden in die Alltagswirklichkeit. Sie führen in eine Welt der glatten Oberflächen, der nüchternen Gegenstände, der Helligkeit. Die Menschen darin funktionieren gut. Sie arbeiten in Fabriken, versorgen den Haushalt, haben Ferienjobs oder geben Orgelunterricht. Sie tragen Ralph-Lauren-Polohemden, lesen García Márquez, hören Bruce Springsteen. Wenn sie deprimiert sind, trinken sie ein Bier oder rauchen sechs Zigaretten. Zuerst verzichten sie darauf, ihre Katastrophen auszuleben, später nehmen sie Katastrophen gar nicht mehr wahr. Wie Nebensächlichkeiten verschwinden die Menschen hinter den überdimensional erscheinenden Gegenständen, die den Radius ihrer Existenz exakt begrenzen.

Eine Frau bittet einen ihr völlig fremden jungen Mann in das Zimmer ihrer Tochter. Die Frau möchte wissen, was der Raum über das Mädchen aussagt. Schweigend sitzen sie und trinken und sprechen dann über die dem Mann unbekannte Abwesende, deren Abwesenheit aber nicht erklärt wird. Der Besucher verliert sich in Gedanken an eine Frau, die ihn verlassen hat. Der Raum füllt sich mit der unausgesprochenen Einsamkeit der Figuren. Die Szene ist charakteristisch: Immer geht es um ein Fehlen, um etwas, das nicht da ist, eine kaum noch als solche empfundene Sehnsucht. Noch etwas anderes ist typisch: Murakamis Szenarien wirken naturalistisch und entrückt zugleich. Ihre Atmosphäre ist hypnotisch. Sie besitzen eine, wie es an einer Stelle heißt, "schattengleiche Stille", wie sie in den Bildern von Edward Hopper zu finden ist.

Als der Erzähler eines Morgens im April dem hundertprozentigen Mädchen begegnet, wagt er nicht, es anzusprechen. Wie sich herausstellt, war es seine große Liebe. Die Erinnerung daran ist nur noch schwach, übriggeblieben ist das Bewußtsein eines längst verlorenen, unwiederbringlichen Gefühls. Murakamis Welt der glatten Oberflächen ist eine Welt der erlöschenden Emotionen. Stellen sie sich doch ein, werden sie wie schockartige Blackouts empfunden. Stellen sie sich gar nicht mehr ein, bleibt die vage Empfindung eines Verlusts.

Wo die Spannung zwischen Gefühl und Verdrängung zu groß wird, bricht die mühsam gepflegte Normalität ein. Eine Hausfrau begegnet ihren halbverlorenen Wünschen in Gestalt eines Schreckgespensts. Ein freiheitsuchender Zwerg droht, von einem braven Fabrikarbeiter Besitz zu ergreifen. Ein Angestellter aus der Werbeabteilung eines Elektrogeräteherstellers wird von sonderbaren Fernsehbildern heimgesucht und verliert seine Sprache. Einmal erklärt der Erzähler, dessen Identität übrigens in jeder Geschichte eine andere ist, seinen Blick auf das Leben: "Alles, was passierte, schien sich in einer weit entfernten Welt abzuspielen. Die Dinge waren erschreckend klar und unnatürlich, als würde ich durch das falsche Ende eines Fernglases blicken." Es ist, als ob der Autor uns damit den Schlüssel für sein Vorgehen in die Hand gegeben hätte.

Vertraulich, manchmal umgangssprachlich umwirbt der Erzähler den Leser, einmal duzt er ihn einfach. Ab und zu spricht er sogar, seltsam zusammenhanglos, über das Schreiben: Damit suggeriert er Komplizenschaft und Souveränität des Lesers, der aber schon längst in seinen Netzen zappelt. Zuletzt behält Murakami fast alle Geheimnisse für sich, und die, die er preisgibt, enthalten gespenstische Einsichten. Die Differenz zwischen Mitgeteiltem und Ungesagtem ist groß. Sie entspricht der Differenz zwischen der Nüchternheit der geschilderten Dingwelt, die ein immerfort reibungsloses Funktionieren zu garantieren scheint, und einem darunter sich breitmachenden heimlichen Grauen der Menschen.

Haruki Murakami: "Wie ich eines schönen Morgens im April das 100%ige Mädchen sah". Erzählungen. Aus dem Japanischen übersetzt von Nora Bierich. Berlin Verlag, Berlin 1996. 218 S., geb., 36,- DM.

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Nicht das Monster und TV-Männchen über die Seiten huschen, ist das Besondere an diesen lakonischen Texten, sondern daß Murakami mit ein, zwei Sätzen den glatten Boden vor den Füßen seiner blassen Angestellten aufreißt, sie kurz ins Nichts starren läßt, um mit dem nächsten Satz alles wieder schön zu verfugen: als wäre nichts gewesen. Süddeutsche Zeitung