Nominiert für den Deutschen Buchpreis 2018
Vierzehn Jahre alt ist die Mutter, als sie 1945 verhaftet und für Jahre ins polnische Arbeitslager Potulice gebracht wird. Der Grund: Sie hatte mit neun ein Formular unterschrieben, das sie in einem von Hitler überfallenen Gebiet als Deutsche auswies. Susanne Fritz erzählt ergreifend und ohne jede vorschnelle Schuldzuweisung von dem Schicksal ihrer Mutter und der ganzen Familie über mehrere Generationen. Sie fragt nach Menschlichkeit und Verrat, nach Identität und Sprache und zieht immer wieder historische Dokumente zu Rate. So leuchtet sie nicht nur die eigene Familiengeschichte aus, sondern das deutsch-polnische Verhältnis über zwei Weltkriege hinweg mit all den historischen Umwälzungen und ihren Auswirkungen auf jeden Einzelnen.
Vierzehn Jahre alt ist die Mutter, als sie 1945 verhaftet und für Jahre ins polnische Arbeitslager Potulice gebracht wird. Der Grund: Sie hatte mit neun ein Formular unterschrieben, das sie in einem von Hitler überfallenen Gebiet als Deutsche auswies. Susanne Fritz erzählt ergreifend und ohne jede vorschnelle Schuldzuweisung von dem Schicksal ihrer Mutter und der ganzen Familie über mehrere Generationen. Sie fragt nach Menschlichkeit und Verrat, nach Identität und Sprache und zieht immer wieder historische Dokumente zu Rate. So leuchtet sie nicht nur die eigene Familiengeschichte aus, sondern das deutsch-polnische Verhältnis über zwei Weltkriege hinweg mit all den historischen Umwälzungen und ihren Auswirkungen auf jeden Einzelnen.
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 25.06.2018Die große Politik innerhalb einer kleinen Familie
Susanne Fritz liefert mit ihrer Spurensuche „Wie kommt der Krieg ins Kind“ einen zentralen Text zu unserer Erinnerungskultur
Wenn es darum gehen soll, auf die große Stärke des neuen Buchs der Schriftstellerin Susanne Fritz aufmerksam zu machen, stellt sich zuerst einmal die Frage, wo man da anfangen soll. Das Buch heißt „Wie kommt der Krieg ins Kind“ (Wallstein-Verlag, 269 Seiten, 20 Euro), und es verbindet auf phänomenale Weise ein akribisches Reporterethos mit einem dezidiert literarischen Weltzugriff, skrupulöse Sprachsorgfalt mit nietzscheanischer Geschichtsskepsis, autofiktionale Selbstbeobachtung mit politischem Bewusstsein und macht aus alledem eine Erzählung, die einerseits universell und andererseits irrsinnig deutsch ist. Wahrscheinlich fängt man am besten dort an, wo die meisten guten Geschichten in diesem Land ihren Ausgang nehmen: bei dem verschwiegenen Familientrauma.
Die Familie Fritz stammt aus Schwersenz, einem Dorf bei Posen, das heute Swarzędz heißt. Sie betrieb dort lange eine Bäckerei in guter Lage, direkt am Markt, kam mit den polnischen und jüdischen Nachbarn gut aus und wollte von Politik nicht viel wissen. Als die Stadt kurz vor dem Ende des Zweiten Weltkriegs an die Rote Armee fällt, ist Susanne Fritz’ Mutter 14 Jahre alt. Sie wird verhaftet, als Deutsche registriert und in dem nahe gelegenen Arbeitslager Chwaliszewo interniert. Bevor sie in die Bundesrepublik ausreisen darf, erleidet sie dort drei Jahre lang unaussprechliche Qualen.
Doch obwohl sie allen Grund dazu hätte, verweigert sie bis zum Schluss jede Schuldzuweisung. Sie könne ihren Peinigern nicht verübeln, wie sie mit ihr umgegangen sind, sagt sie, nach allem, was diese selbst erlebt hatten, „angezettelt, angerichtet von ihrem Volk, das sie stolz besungen, von einem Führer, dem sie zugejubelt hatte“. Sorgsam achtet sie darauf, in der Familie keinen Opfermythos aufkommen zu lassen, und bedient sich dabei eines interessanten Gerechtigkeitsparadoxes: „Das Unrecht widerfuhr ihr zu Recht, sagte sie.“ Sie verweigert die Opferrolle, weil sie verhindern will, dass ihre Geschichte ihr ganzes Leben bestimmt. Sie verfügt, wie Nietzsche das formuliert hat, über die „plastische Kraft“ jener, die sich von der Geschichte nicht das Lebendige austreiben lassen wollen, „jene Kraft, aus sich heraus eigenartig zu wachsen, Vergangenes und Fremdes umzubilden und einzuverleiben, Wunden auszuheilen, Verlorenes zu ersetzen, zerbrochene Formen aus sich nachzuformen“. Ihre Kinder lässt sie wissen: „Es ist ein Wunder, dass es euch gibt, dass sie uns haben leben lassen.“
Um das Trauma von ihren Kindern fernzuhalten, spricht Susanne Fritz’ Mutter über das Lager eher sporadisch, doch die Strategie funktioniert nur bedingt: Die Auslassung wird mit der Zeit zum bestimmenden Prinzip, zum Prisma, in dem sich die gesamte Familiengeschichte bricht. Und sie wird zum Ausgangspunkt für Susanne Fritz’ Recherchen. Sie bricht nach Polen auf, durchforstet die Archive in Warschau, erkundet die Straßen von Swarzędz.
Gewissheiten sind dort allerdings nicht im Angebot, sie findet lediglich Ausschnitte, die sich zu dieser oder jener Geschichte zusammensetzen lassen. Dass das Familienunternehmen unter den Nazis blühte, hatte womöglich damit zu tun, dass es das nahe gelegene KZ belieferte, nachweisen lässt sich das aber nicht. Und als Schutzpolizist könnte der Großvater, der in der Familie stets als unpolitischer, tüchtiger Bäcker galt, die Vernichtung der Juden aktiv mitbetrieben haben. Handfeste Belege dafür sind allerdings nicht zu finden. Nachdem sie im Zuge ihrer Recherchen Auschwitz besucht, stellt Fritz fest, dass sich das private Buch während des Schreibens längst in ein politisches verwandelt hat. Der „Rückweg in eine rein private Erinnerungskultur“, schreibt sie, war ihr nun versperrt.
Das Buch erscheint in einem deutschen Sommer, in dem in der Arena der Geschichtspolitik ein erbitterter Deutungskampf ausgetragen wird. Es geht bei diesem Konflikt um die jüngere Geschichte, wenn Bundestagsabgeordnete dazu aufrufen, auf die Leistungen der Wehrmacht mit Stolz zurückzublicken und es mit der Erinnerung an den Nationalsozialismus bitte nicht zu übertreiben. Und es geht in diesem Konflikt um die allerjüngste Geschichte, wenn die parteiübergreifende Rechte versucht, den September 2015 zu ihrer eigenen Dolchstoßlegende umzudeuten, indem sie bei jeder Gelegenheit den Begriff „Grenzöffnung“ platziert, als habe es 2015 zwischen Ungarn und Deutschland eine geschlossene Grenze gegeben, die sich hätte öffnen lassen. Die Erinnerungskultur der Familie Fritz steht, dessen ist sich das Buch durchaus bewusst, metonymisch für die Erinnerungskultur des ganzen Landes. Die große Politik habe ihn immer am meisten innerhalb der Familie interessiert, hat Philip Roth sinngemäß gesagt, und so ist dieses Buch wohl auch zu verstehen.
In seinem berühmten Essay über „Kollektives Gedächtnis und kulturelle Identität“ schreibt Jan Assmann, dass eine Gesellschaft in ihrer kulturellen Überlieferung sichtbar wird, „für sich und für andere“. Am Beispiel ihres eigenen Lebens und Körpers erzählt Susanne Fritz nun, was es für Konsequenzen hat, wenn die kulturelle Überlieferung ins Wanken gerät, und von dem Preis, der für diese Art von Geschichtsklitterung auch Generationen später noch zu entrichten ist. Wenn sich die Geschichte ändert, ändern sich die Lebenden zwangsläufig mit. Das ist ein physischer Prozess, er löst Schwindel und Nervosität aus.
Im zweiten Teil erzählt Fritz einmal, wie sie auf dem Weg vom Haus ihrer Mutter auf einer Landstraße, die ihr gut vertraut ist, Opfer eines Verkehrsunfalls wird. Ein Motorradfahrer kriegt die Kurve nicht, seine Maschine fliegt in ihr Auto. Die Weiterfahrt nach dem Polizeieinsatz beschreibt Fritz so: „Meter für Meter will ich Vertrauen fassen in einen, über viele Jahre hinweg, hundertfach zurückgelegten Weg. Ich bin nicht mehr dieselbe. Habe ich in einen vergifteten Apfel gebissen? Ich bin nicht länger eins mit einem mir urvertrauten Panorama, die Berge als mein Spiegel, in dem ich mich über alle inneren und äußeren Veränderungen hinweg wiedererkenne.“
Das ist elegant gesetzt: Auf der reinen Handlungsebene rührt der Schock, der die Ich-Erzählerin von ihrem gewohnten Umfeld entfremdet, nur von dem Unfall her. Da Fritz aber immer wieder darauf hinweist, dass es sich bei diesem Buch um Literatur handelt, drängt sich eine zweite Lesart auf: Der „vergiftete Apfel“ ist die verloren gegangene historische Gewissheit, das verlorene Selbstverständnis. Sie kennt sich nicht mehr selbst. Und natürlich liest man die Pathologie eines Landes, das im Begriff ist, schwer erkämpfte Nachkriegsgewissheiten aufs Spiel zu setzen, in diesen Zeilen immer mit.
Das Buch reicht nun diese Aufgabe, der sich seine Protagonistin stellen musste, gewissermaßen direkt an die Öffentlichkeit weiter. Die Zwangsarbeiterlager, in denen die deutsche Bevölkerung Polens nach Kriegsende interniert wurde, sind nicht nur im kollektiven Gedächtnis der Familie Fritz abwesend. Obwohl es zahlreiche Texte dazu gibt – Fritz nennt die Bücher der Historiker Włodzimierz Borodziej und Hans Lemberg, die Arbeiten der Journalistin Helga Hirsch –, ist eine größere Öffentlichkeit um diese Lager nie entstanden. „In der großen Politik wurde es zu den minderen Kollateralschäden des Krieges gezählt und der wichtigen Versöhnung mit Polen untergeordnet“, schreibt Fritz. Tatsächlich sei ihr „niemand begegnet, der von den Zwangsarbeitslagern für Deutsche in Polen gewusst hätte, es sei denn, er oder sie wären persönlich berührt oder beruflich damit befasst gewesen“.
Indem es das Thema wieder auf die Agenda setzt, wirft das Buch gleichzeitig die Frage auf, in wessen Händen man diese Geschichte lieber sähe: in den Händen der Nationalisten, für deren konfrontative Angstpolitik diese historische Auslassung pures geschichtspolitisches Gold wäre? Oder in den Händen der Versöhnungspolitiker in der Folge Willy Brandts und Helmut Kohls? Schwer vorstellbar, wie ein literarisches Werk dieser Tage tiefer in das Herz der Gegenwartsdebatten vordringen sollte als dieses.
FELIX STEPHAN
Der private Text verwandelt
sich im Schreiben
schnell in ein politisches Buch
Die wichtigste Frage: In
wessen Händen möchte man
diese Geschichte sehen?
Auf den Spuren des Schweigens: Susanne Fritz.
Foto: Burkhard Riegels
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Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Susanne Fritz liefert mit ihrer Spurensuche „Wie kommt der Krieg ins Kind“ einen zentralen Text zu unserer Erinnerungskultur
Wenn es darum gehen soll, auf die große Stärke des neuen Buchs der Schriftstellerin Susanne Fritz aufmerksam zu machen, stellt sich zuerst einmal die Frage, wo man da anfangen soll. Das Buch heißt „Wie kommt der Krieg ins Kind“ (Wallstein-Verlag, 269 Seiten, 20 Euro), und es verbindet auf phänomenale Weise ein akribisches Reporterethos mit einem dezidiert literarischen Weltzugriff, skrupulöse Sprachsorgfalt mit nietzscheanischer Geschichtsskepsis, autofiktionale Selbstbeobachtung mit politischem Bewusstsein und macht aus alledem eine Erzählung, die einerseits universell und andererseits irrsinnig deutsch ist. Wahrscheinlich fängt man am besten dort an, wo die meisten guten Geschichten in diesem Land ihren Ausgang nehmen: bei dem verschwiegenen Familientrauma.
Die Familie Fritz stammt aus Schwersenz, einem Dorf bei Posen, das heute Swarzędz heißt. Sie betrieb dort lange eine Bäckerei in guter Lage, direkt am Markt, kam mit den polnischen und jüdischen Nachbarn gut aus und wollte von Politik nicht viel wissen. Als die Stadt kurz vor dem Ende des Zweiten Weltkriegs an die Rote Armee fällt, ist Susanne Fritz’ Mutter 14 Jahre alt. Sie wird verhaftet, als Deutsche registriert und in dem nahe gelegenen Arbeitslager Chwaliszewo interniert. Bevor sie in die Bundesrepublik ausreisen darf, erleidet sie dort drei Jahre lang unaussprechliche Qualen.
Doch obwohl sie allen Grund dazu hätte, verweigert sie bis zum Schluss jede Schuldzuweisung. Sie könne ihren Peinigern nicht verübeln, wie sie mit ihr umgegangen sind, sagt sie, nach allem, was diese selbst erlebt hatten, „angezettelt, angerichtet von ihrem Volk, das sie stolz besungen, von einem Führer, dem sie zugejubelt hatte“. Sorgsam achtet sie darauf, in der Familie keinen Opfermythos aufkommen zu lassen, und bedient sich dabei eines interessanten Gerechtigkeitsparadoxes: „Das Unrecht widerfuhr ihr zu Recht, sagte sie.“ Sie verweigert die Opferrolle, weil sie verhindern will, dass ihre Geschichte ihr ganzes Leben bestimmt. Sie verfügt, wie Nietzsche das formuliert hat, über die „plastische Kraft“ jener, die sich von der Geschichte nicht das Lebendige austreiben lassen wollen, „jene Kraft, aus sich heraus eigenartig zu wachsen, Vergangenes und Fremdes umzubilden und einzuverleiben, Wunden auszuheilen, Verlorenes zu ersetzen, zerbrochene Formen aus sich nachzuformen“. Ihre Kinder lässt sie wissen: „Es ist ein Wunder, dass es euch gibt, dass sie uns haben leben lassen.“
Um das Trauma von ihren Kindern fernzuhalten, spricht Susanne Fritz’ Mutter über das Lager eher sporadisch, doch die Strategie funktioniert nur bedingt: Die Auslassung wird mit der Zeit zum bestimmenden Prinzip, zum Prisma, in dem sich die gesamte Familiengeschichte bricht. Und sie wird zum Ausgangspunkt für Susanne Fritz’ Recherchen. Sie bricht nach Polen auf, durchforstet die Archive in Warschau, erkundet die Straßen von Swarzędz.
Gewissheiten sind dort allerdings nicht im Angebot, sie findet lediglich Ausschnitte, die sich zu dieser oder jener Geschichte zusammensetzen lassen. Dass das Familienunternehmen unter den Nazis blühte, hatte womöglich damit zu tun, dass es das nahe gelegene KZ belieferte, nachweisen lässt sich das aber nicht. Und als Schutzpolizist könnte der Großvater, der in der Familie stets als unpolitischer, tüchtiger Bäcker galt, die Vernichtung der Juden aktiv mitbetrieben haben. Handfeste Belege dafür sind allerdings nicht zu finden. Nachdem sie im Zuge ihrer Recherchen Auschwitz besucht, stellt Fritz fest, dass sich das private Buch während des Schreibens längst in ein politisches verwandelt hat. Der „Rückweg in eine rein private Erinnerungskultur“, schreibt sie, war ihr nun versperrt.
Das Buch erscheint in einem deutschen Sommer, in dem in der Arena der Geschichtspolitik ein erbitterter Deutungskampf ausgetragen wird. Es geht bei diesem Konflikt um die jüngere Geschichte, wenn Bundestagsabgeordnete dazu aufrufen, auf die Leistungen der Wehrmacht mit Stolz zurückzublicken und es mit der Erinnerung an den Nationalsozialismus bitte nicht zu übertreiben. Und es geht in diesem Konflikt um die allerjüngste Geschichte, wenn die parteiübergreifende Rechte versucht, den September 2015 zu ihrer eigenen Dolchstoßlegende umzudeuten, indem sie bei jeder Gelegenheit den Begriff „Grenzöffnung“ platziert, als habe es 2015 zwischen Ungarn und Deutschland eine geschlossene Grenze gegeben, die sich hätte öffnen lassen. Die Erinnerungskultur der Familie Fritz steht, dessen ist sich das Buch durchaus bewusst, metonymisch für die Erinnerungskultur des ganzen Landes. Die große Politik habe ihn immer am meisten innerhalb der Familie interessiert, hat Philip Roth sinngemäß gesagt, und so ist dieses Buch wohl auch zu verstehen.
In seinem berühmten Essay über „Kollektives Gedächtnis und kulturelle Identität“ schreibt Jan Assmann, dass eine Gesellschaft in ihrer kulturellen Überlieferung sichtbar wird, „für sich und für andere“. Am Beispiel ihres eigenen Lebens und Körpers erzählt Susanne Fritz nun, was es für Konsequenzen hat, wenn die kulturelle Überlieferung ins Wanken gerät, und von dem Preis, der für diese Art von Geschichtsklitterung auch Generationen später noch zu entrichten ist. Wenn sich die Geschichte ändert, ändern sich die Lebenden zwangsläufig mit. Das ist ein physischer Prozess, er löst Schwindel und Nervosität aus.
Im zweiten Teil erzählt Fritz einmal, wie sie auf dem Weg vom Haus ihrer Mutter auf einer Landstraße, die ihr gut vertraut ist, Opfer eines Verkehrsunfalls wird. Ein Motorradfahrer kriegt die Kurve nicht, seine Maschine fliegt in ihr Auto. Die Weiterfahrt nach dem Polizeieinsatz beschreibt Fritz so: „Meter für Meter will ich Vertrauen fassen in einen, über viele Jahre hinweg, hundertfach zurückgelegten Weg. Ich bin nicht mehr dieselbe. Habe ich in einen vergifteten Apfel gebissen? Ich bin nicht länger eins mit einem mir urvertrauten Panorama, die Berge als mein Spiegel, in dem ich mich über alle inneren und äußeren Veränderungen hinweg wiedererkenne.“
Das ist elegant gesetzt: Auf der reinen Handlungsebene rührt der Schock, der die Ich-Erzählerin von ihrem gewohnten Umfeld entfremdet, nur von dem Unfall her. Da Fritz aber immer wieder darauf hinweist, dass es sich bei diesem Buch um Literatur handelt, drängt sich eine zweite Lesart auf: Der „vergiftete Apfel“ ist die verloren gegangene historische Gewissheit, das verlorene Selbstverständnis. Sie kennt sich nicht mehr selbst. Und natürlich liest man die Pathologie eines Landes, das im Begriff ist, schwer erkämpfte Nachkriegsgewissheiten aufs Spiel zu setzen, in diesen Zeilen immer mit.
Das Buch reicht nun diese Aufgabe, der sich seine Protagonistin stellen musste, gewissermaßen direkt an die Öffentlichkeit weiter. Die Zwangsarbeiterlager, in denen die deutsche Bevölkerung Polens nach Kriegsende interniert wurde, sind nicht nur im kollektiven Gedächtnis der Familie Fritz abwesend. Obwohl es zahlreiche Texte dazu gibt – Fritz nennt die Bücher der Historiker Włodzimierz Borodziej und Hans Lemberg, die Arbeiten der Journalistin Helga Hirsch –, ist eine größere Öffentlichkeit um diese Lager nie entstanden. „In der großen Politik wurde es zu den minderen Kollateralschäden des Krieges gezählt und der wichtigen Versöhnung mit Polen untergeordnet“, schreibt Fritz. Tatsächlich sei ihr „niemand begegnet, der von den Zwangsarbeitslagern für Deutsche in Polen gewusst hätte, es sei denn, er oder sie wären persönlich berührt oder beruflich damit befasst gewesen“.
Indem es das Thema wieder auf die Agenda setzt, wirft das Buch gleichzeitig die Frage auf, in wessen Händen man diese Geschichte lieber sähe: in den Händen der Nationalisten, für deren konfrontative Angstpolitik diese historische Auslassung pures geschichtspolitisches Gold wäre? Oder in den Händen der Versöhnungspolitiker in der Folge Willy Brandts und Helmut Kohls? Schwer vorstellbar, wie ein literarisches Werk dieser Tage tiefer in das Herz der Gegenwartsdebatten vordringen sollte als dieses.
FELIX STEPHAN
Der private Text verwandelt
sich im Schreiben
schnell in ein politisches Buch
Die wichtigste Frage: In
wessen Händen möchte man
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Perlentaucher-Notiz zur NZZ-Rezension
Paul Jandl hält das sehr private Buch von Susanne Fritz für gewagt. Der Versuch, den Schrecken des Krieges und der deutschen Invasion in Polen, den die Mutter der Autorin erlebt hat und den sie weiterreicht in der Familie, zu bannen, gelingt laut Jandl, da Fritz mit journalistischer Genauigkeit und literarischer Sensibilität vorgeht und die Leerstelle des Unsagbaren offenlässt. Die Schilderung von Gewalt führt beim Leser nicht zu bloßer Betroffenheit, erklärt der Rezensent, weil die verwendete Sprache nicht Recht behalten oder eine Moral formulieren will. Das Anhäufen des Erinnerungsmaterials und der Wechsel zwischen der polnischen Vergangenheit der Mutter und der Gegenwart der Autorin ergeben für Jandl zwar kein Ganzes, aber einen Haufen von Wirklichkeitssplittern, in denen sich das Verhältnis zwischen Mutter und Tochter bricht. Schlüsse ziehen muss der Leser selbst, so Jandl.
© Perlentaucher Medien GmbH
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»Schwer vorstellbar, wie ein literarisches Werk dieser Tage tiefer in das Herz der Gegenwartsdebatten vordringen sollte als dieses.« (Felix Stephan, Süddeutsche Zeitung, 25.06.2018) »Ein beeindruckendes Buch« (Anja Kümmel, ZEIT Online, 21.06.2018) »ein sehr persönliches Buch, gleichwohl ein ungemein lehrreiches und politisch brisantes« (Melanie Weidemüller, Deutschlandfunk Büchermarkt, 12.04.2018) »klug und atmosphärisch dicht« (Shelly Kupferberg, Deutschlandfunk Kultur Lesart, 21.04.2018) »man schaut ihr als Leser gebannt über die Schulter« (Paul Jandl, Neue Zürcher Zeitung, 12.12.2018) »Für jene, die die Vergangenheit kennen wollen, um die Gegenwart zu verstehen.« (Andrea Heinz, Der Standard, 15.12.2018) »eine literarisch hoch interessante, sehr persönliche Auseinandersetzung mit Zeit- und Familiengeschichte« (Tilla Fuchs, Saarländischer Rundfunk, 20.03.2018) »Susanne Fritz zeigt mit ihrem berührenden und klugen Buch, wie tief sich Verletzungen unserer Eltern und Großeltern in unsere Gene und Seelen einschreiben.« (Bettina Baltschev, MDR Kultur, 13.11.2018) »sorgfältig, einfühlsam und - mit Schuldgefühlen« (Eva Pfister, Lesart, 1/18) »großartig, klug, schlicht ergreifend und unbedingt lesenswert!« (Oliver Fründt, buechergilde-frankfurt.de, März 2018) »berührende Erkenntnisse« (Sigrun Rehm, Badische Zeitung, 15.04.2018) »weit mehr als eine literarische Familiengeschichte über Gewalterfahrungen« (Anton Philipp Knittel, Sächsische Zeitung, 30.08.2018) »Ein beeindruckendes Zeugnis echter Handreichungen, die dem Schmerzlichen der Familienvergangenheit nicht den Schmerz und den Gräueltaten nicht deren Grausamkeiten nehmen« (Susanne Rikl, www.kommbuch.com, April 2018) »Dass es (...) Susanne Fritz, die (...) sehr genau und mit Bedacht mit Sprache umgeht, nicht auf die Shortlist geschafft hat, verwundert.« (Andrea Heinz, Der Standard, 06.10.2018) »Susanne Fritz schafft es mit ihren Worten Bilder im Kopf des Lesers hervorzurufen, die man sich nicht entgehen lassen sollte.« (Alexander Nickel-Hopfengart, www.zuckerkick.com, 18.08.2018) »eine ergreifende Familienarchäologie« (Ralf Nestmeyer, Nürnberger Zeitung, 25.01.2019)