Der Missbrauchsskandal an der Odenwaldschule hat die deutsche Öffentlichkeit in Atem gehalten. Dass ausgerechnet in einer pädagogischen Modellschule sexuelle Übergriffe stattgefunden haben, schockierte die Menschen und viele wollten die schreckliche Wahrheit zuerst nicht glauben, weil die Ereignisse ihre Vorstellungskraft überstiegen. Dazu sagt Jürgen Dehmers: Hört auf, euch etwas vorzustellen, hört uns endlich zu! Mittlerweile ist bekannt, dass über hundert Schüler Opfer des Missbrauchs waren und mehr als ein Dutzend Lehrer und Erzieher zu den Tätern gehörten. Mit Jürgen Dehmers berichtet zum ersten Mal eines der Opfer persönlich von den Vorfällen. Dehmers gelang es bereits als jungem Mann, trotz massiver Traumatisierungen und ideologischer Gehirnwäsche, ein Leben nach der Odenwaldschule zu finden und Distanz zwischen sich und den schrecklichen Erlebnissen zu schaffen. Das Buch demaskiert die Täter und ihre Helfer, die schutzbefohlenen Kindern unheilbare körperliche und seelische Verletzungen zugefügt haben. Darüber hinaus gelingt es dem Autor, das System Odenwaldschule zu beleuchten und dem Leser die Hintergrundinformationen zu liefern, wie es dazu kommen konnte, dass der sexuelle Missbrauch von Kindern zum Alltag einer hoch gelobten Reformschule gehörte, in der die Schule alles war und das einzelne Kind nichts. Ein Aufklärungskrimi, der spannend bleibt bis zum Schluss, obwohl die Täter ab der ersten Seite bekannt sind.
Perlentaucher-Notiz zur ZEIT-Rezension
Nach den zahlreichen Missbrauchsfällen des vorigen Jahres sichtet Heinz-Elmar Tenorth in einer Sammelbesprechung die ersten analytischen Auseinandersetzungen zu diesem Thema. "Beeindruckend und bedrückend" empfand Tenorth den autobiografischen Bericht Jürgen Dehmers aus dem "System Becker", das der Leiter der reformpädagogischen Odenwaldschule dort über Jahre etablierte. Dehmers' Bericht macht für Tenorth klar, dass der Missbrauch Methode hatte und durch ein Netz des Schweigens gedeckt wurde, dass innerhalb und außerhalb der Reformschule entstanden ist. Die "Schreckensgeschichten" kamen schon Ende der neunziger Jahre ans Licht, wie Tenorth hervorhebt, als Dehmers einen Bericht über den systematischen Missbrauch an der Odenwaldschule in der FR veröffentlichte. Für Tenorth liefert dieses Buch eine deutliche Antwort darauf, warum der pädagogische Skandal erst jetzt politische Aufmerksamkeit erlangt hat. So systematisch wie das Schweigen, fasst Tenorth zusammen, waren auch die "Vertuschungsstrategien" von Lehrern, Eltern und nicht zuletzt einer unkritischen Öffentlichkeit, die der Reformpädagogik lange Zeit positiv gegenüberstand.
© Perlentaucher Medien GmbH
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