»Intensiv wie ein Blitzschlag.« Ute Wegmann, Deutschlandfunk
Will ist einer, der geht. Von zu Hause zur Schule zur Arbeit und wieder zurück. Tag für Tag. Er geht an diesem kleinen Kerl vorbei, der auf Schmetterlinge wartet. Vorbei an Superman, dem Obdachlosen. Vorbei an dem wahnsinnigen Hund, der immer bellt. Aber es gibt auch Orte, an die will er nicht - kann er nicht - gehen: die Brücke über die Fourth Street, der Laden mit den hundert chinesischen Segenssprüchen - Orte, die er immer mit seinem Vater besucht hat und der sich das Leben genommen hat. Will muss herausfinden, wie er auf seine Probleme zugehen kann, statt vor ihnen wegzulaufen. Vielleicht indem er den Mut findet, wieder mit seiner Freundin Playa zu sprechen? Ist das der Weg raus aus der Traurigkeit und zurück ins Leben?
Will ist einer, der geht. Von zu Hause zur Schule zur Arbeit und wieder zurück. Tag für Tag. Er geht an diesem kleinen Kerl vorbei, der auf Schmetterlinge wartet. Vorbei an Superman, dem Obdachlosen. Vorbei an dem wahnsinnigen Hund, der immer bellt. Aber es gibt auch Orte, an die will er nicht - kann er nicht - gehen: die Brücke über die Fourth Street, der Laden mit den hundert chinesischen Segenssprüchen - Orte, die er immer mit seinem Vater besucht hat und der sich das Leben genommen hat. Will muss herausfinden, wie er auf seine Probleme zugehen kann, statt vor ihnen wegzulaufen. Vielleicht indem er den Mut findet, wieder mit seiner Freundin Playa zu sprechen? Ist das der Weg raus aus der Traurigkeit und zurück ins Leben?
Alison McGhee spricht mit wenigen Worten von großen Emotionen. ZEIT 20210902
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 28.06.2021Im Smog die Sterne
Alison McGhees Notruf an die Bodenstation
"Wenn du ein Geher bist, ein echter Geher, dann finden deine Füße selbst den Weg." Am Morgen nach dem Freitod seines Vaters beginnt der desorientierte Junge Will, durch die Straßen von Los Angeles zu laufen. Die Bestsellerautorin Alison McGhee verwebt Erwachsenwerden mit dem Erlaufen einer Welt fern des heimischen Blocks, evoziert Traumata und versehrte Seelen, Evasion und Heilung, wandernde Schuhe und einen flügge werdenden Geist.
Dabei hat Will einiges, mit dem er irgendwie klarkommen muss. Neben Vaters unerklärlichem Selbstmord gibt ihm - in jugendbuchtypischer Addierung extremer Ereignisse, die hier aber extrem leise behandelt werden - die Vergewaltigung seiner platonischen Freundin Playa auf einer Party, die er vorzeitig verließ, Anlass für quälende Selbstvorwürfe. Zugleich wird deutlich, dass die Autorin ihrem Roman eine strenge Form verleiht: Er umfasst hundert Seiten mit je rund hundert Worten (die linke Seite nimmt jeweils die Episodenzahl in chinesischen Schriftzeichen ein).
Zusammengenommen ergibt sich daraus eine Schule der Empathie. Wills Lebensweg und Laufparcours kreuzen Menschen und Tiere, die in ihrem Leben auf unterschiedliche Weisen gegen Hindernisse stoßen: etwa der Inhaber des Supermarkts "Dollar Only" (wo Will jobbt), der mangels sozialer Kompetenz einsam ist, ein autistischer Junge, der Schmetterlinge liebt, ein Obdachloser namens Superman oder ein "wahnsinniger" Kettenhund. Es ist eine Initiationsgeschichte und ein Inklusionsroman über Außenseiter, Selbstverlorene, Ausgegrenzte. Als Soundtrack untermalt David Bowies "Space Oddity" das Buch, und kaum zufällig lautet der Spitzname des Ladeninhabers "Major Tom". Will kommuniziert mit ihm im Raumfahrerjargon: "Ground Control to Major Tom", sage ich. "Der Fußboden muss dringend gewischt werden."
McGhee schildert die Gefühlswelt Jugendlicher in dem Moment, "wenn einem alles über den Kopf wächst". Dabei lernt Will, dass Leiden universell ist, auch wenn jeder Mensch sich für besonders vom Schicksal gebeutelt hält. Will beginnt, auf Stationen seines Joggingwegs und den Stippvisiten bei Einsamen heimlich die in Major Toms Ramschladen erstandenen Geschenke zu verteilen.
Im Mitgefühl und in der Konnektivität aller Mitgeschöpfe trägt das Buch der China-Liebhaberin McGhee, in dem auch ein "Voodoo-Laden" mit chinesischen Segenssprüchen eine Rolle spielt, buddhistisch-kosmologische Züge: "Die Welt ist voller Luft. Voller Himmel und Weltall. Auch voller Meer", was im Umkehrschluss darauf abzielt, wie winzig und nichtig der Mensch und seine Intrigen aus dieser Perspektive betrachtet sind. Im Fluss der Schritte und Gedankenflüge gestaltet McGhee Exerzitien der Bewältigung von Scham und Pein. So versucht Will, das Rezept von Dads selbst gebackenem Maisbrot, das er zu dessen Lebzeiten nicht zu schätzen wusste, zu rekonstruieren. Und über alldem schwebt die Frage, warum der Vater tatsächlich seinem Leben ein Ende machte - Antworten gibt es da naturgemäß nicht, allenfalls Vermutungen, die etwa das Problem gesellschaftlicher Fassaden eines Menschen berühren, der sich nie freilaufen konnte.
McGhees melancholischer Roman erzählt verdichtetes Leid. Erzählerisch birgt das Gefahren, nicht zuletzt die des Sozialkitsches, aber Wills ironischer Abstand zu den Dingen und Menschen auch als Wohltäter verhindert das: Der Läufer durch Brennpunkte von Los Angeles lernt das Gehen mit "aufrechtem Gang" und das Verrücktsein als Frage des Standpunktes zu verstehen.
Am Ende verlassen Will und Playa, der er das erste winzige Lachen "seit es passiert ist" entlockt, die Raumkapsel der Trauer und Isolation. Während Wills Dad mit einem Bowie-Zitat "in einer Blechbüchse hoch über der Erde" schwebt, lernen Will und Playa im Smog von Los Angeles die Sterne zu sehen.
STEFFEN GNAM
Alison McGhee: "Wie man eine Raumkapsel verlässt". Roman.
Aus dem Englischen von Birgitt Kollmann. dtv Reihe Hanser, München 2021. 208 S., br., 12,95 Euro. Ab 12 J.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Alison McGhees Notruf an die Bodenstation
"Wenn du ein Geher bist, ein echter Geher, dann finden deine Füße selbst den Weg." Am Morgen nach dem Freitod seines Vaters beginnt der desorientierte Junge Will, durch die Straßen von Los Angeles zu laufen. Die Bestsellerautorin Alison McGhee verwebt Erwachsenwerden mit dem Erlaufen einer Welt fern des heimischen Blocks, evoziert Traumata und versehrte Seelen, Evasion und Heilung, wandernde Schuhe und einen flügge werdenden Geist.
Dabei hat Will einiges, mit dem er irgendwie klarkommen muss. Neben Vaters unerklärlichem Selbstmord gibt ihm - in jugendbuchtypischer Addierung extremer Ereignisse, die hier aber extrem leise behandelt werden - die Vergewaltigung seiner platonischen Freundin Playa auf einer Party, die er vorzeitig verließ, Anlass für quälende Selbstvorwürfe. Zugleich wird deutlich, dass die Autorin ihrem Roman eine strenge Form verleiht: Er umfasst hundert Seiten mit je rund hundert Worten (die linke Seite nimmt jeweils die Episodenzahl in chinesischen Schriftzeichen ein).
Zusammengenommen ergibt sich daraus eine Schule der Empathie. Wills Lebensweg und Laufparcours kreuzen Menschen und Tiere, die in ihrem Leben auf unterschiedliche Weisen gegen Hindernisse stoßen: etwa der Inhaber des Supermarkts "Dollar Only" (wo Will jobbt), der mangels sozialer Kompetenz einsam ist, ein autistischer Junge, der Schmetterlinge liebt, ein Obdachloser namens Superman oder ein "wahnsinniger" Kettenhund. Es ist eine Initiationsgeschichte und ein Inklusionsroman über Außenseiter, Selbstverlorene, Ausgegrenzte. Als Soundtrack untermalt David Bowies "Space Oddity" das Buch, und kaum zufällig lautet der Spitzname des Ladeninhabers "Major Tom". Will kommuniziert mit ihm im Raumfahrerjargon: "Ground Control to Major Tom", sage ich. "Der Fußboden muss dringend gewischt werden."
McGhee schildert die Gefühlswelt Jugendlicher in dem Moment, "wenn einem alles über den Kopf wächst". Dabei lernt Will, dass Leiden universell ist, auch wenn jeder Mensch sich für besonders vom Schicksal gebeutelt hält. Will beginnt, auf Stationen seines Joggingwegs und den Stippvisiten bei Einsamen heimlich die in Major Toms Ramschladen erstandenen Geschenke zu verteilen.
Im Mitgefühl und in der Konnektivität aller Mitgeschöpfe trägt das Buch der China-Liebhaberin McGhee, in dem auch ein "Voodoo-Laden" mit chinesischen Segenssprüchen eine Rolle spielt, buddhistisch-kosmologische Züge: "Die Welt ist voller Luft. Voller Himmel und Weltall. Auch voller Meer", was im Umkehrschluss darauf abzielt, wie winzig und nichtig der Mensch und seine Intrigen aus dieser Perspektive betrachtet sind. Im Fluss der Schritte und Gedankenflüge gestaltet McGhee Exerzitien der Bewältigung von Scham und Pein. So versucht Will, das Rezept von Dads selbst gebackenem Maisbrot, das er zu dessen Lebzeiten nicht zu schätzen wusste, zu rekonstruieren. Und über alldem schwebt die Frage, warum der Vater tatsächlich seinem Leben ein Ende machte - Antworten gibt es da naturgemäß nicht, allenfalls Vermutungen, die etwa das Problem gesellschaftlicher Fassaden eines Menschen berühren, der sich nie freilaufen konnte.
McGhees melancholischer Roman erzählt verdichtetes Leid. Erzählerisch birgt das Gefahren, nicht zuletzt die des Sozialkitsches, aber Wills ironischer Abstand zu den Dingen und Menschen auch als Wohltäter verhindert das: Der Läufer durch Brennpunkte von Los Angeles lernt das Gehen mit "aufrechtem Gang" und das Verrücktsein als Frage des Standpunktes zu verstehen.
Am Ende verlassen Will und Playa, der er das erste winzige Lachen "seit es passiert ist" entlockt, die Raumkapsel der Trauer und Isolation. Während Wills Dad mit einem Bowie-Zitat "in einer Blechbüchse hoch über der Erde" schwebt, lernen Will und Playa im Smog von Los Angeles die Sterne zu sehen.
STEFFEN GNAM
Alison McGhee: "Wie man eine Raumkapsel verlässt". Roman.
Aus dem Englischen von Birgitt Kollmann. dtv Reihe Hanser, München 2021. 208 S., br., 12,95 Euro. Ab 12 J.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
Ein zartes Buch, nennt Rezensent Florian Welle Alison McGhees neuen Jugendroman - zart trotz der gewaltvollen Ereignisse, die den Ausgangspunkt der Erzählung bilden: Die Vergewaltigung von Wills bester Freundin und der Selbstmord seines Vaters, lesen wir. Will - so heißt der sechzehnjährige Ich-Erzähler, der in hundert Kapiteln von je hundert Wörtern Länge seine Beobachtungen während seiner Spaziergänge durch L.A. beschreibt. Diese Spaziergänge, so Welle, haben etwas manisches, führen sie doch stets um die fürchterlichen Ereignisse der Vergangenheit herum und trotzdem immer wieder in elliptischen Kurven darauf zu. Durch die drängenden Fragen, auf die der Ich-Erzähler stets zurückkommt, wird seine ganze Ohnmacht angesichts dieser Ereignisse spürbar, gleichzeitig fühlt man sich als Leser ins Vertrauen gezogen, so Welle. Lobend erwähnt der Rezensent außerdem den Titel, der schon Hoffnung macht, so der berührte Rezensent.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 27.08.2021Raus aus dem Gehäuse
Sich befreien in 100 Wörtern und mithilfe eines Songs von David Bowie
Alison McGhee hat ihrem neuen Jugendbuch eine minimalistisch konzentrierte Form gegeben. Jedes der hundert Kapitel besteht aus hundert Wörtern. Im englischen Original von 2018 ebenso wie nun in der vorzüglichen deutschen Übersetzung von Birgitt Kollmann. Sie sind auf der rechten Seite angeordnet, während auf der linken die Kapitelzahlen als chinesische Zeichen zu lesen sind.
In den kurzen, tagebuchartigen Notizen beschreibt der Icherzähler Will, was er auf seinen Streifzügen durch Los Angeles sieht, oder wem er auf seinem Weg zu seinem Aushilfsjob im „Dollar Only“ – Laden begegnet. Einem angeleinten, aggressiven Hund etwa oder dem kleinen „Kerlchen“, das jeden Tag abwartet, bis sich immer zur gleichen Zeit fünf Schmetterlinge auf einer Garagenwand niederlassen. Vor allem jedoch versucht der Sechzehnjährige damit klarzukommen, was sein Teenagerleben einst gesprengt hatte: Vor drei Jahren brachte sich sein depressiver Vater um, später wurde Playa, Wills Freundin aus unbeschwerten Kindergartentagen, nach einem Schulfest vergewaltigt. Seitdem verschanzt sie sich zu Hause.
Viele von Wills Überlegungen enden mit einer Frage, die sich direkt an uns zu wenden scheint. „Weißt du, was ich meine?“, heißt es einmal. Ein anderes Mal „Verstehst du das?“ oder „Das soll der Grund sein? Dafür, dass sie die Tür verschlossen und sie vergewaltigt haben? Als wäre das logisch? Eine Erklärung?“ In den Fragen drückt sich seine ganze Hilflosigkeit angesichts der unerklärlichen Ereignisse aus. Gleichzeitig fordern sie die Leser und Leserinnen auf, sich ihre eigenen Gedanken zu machen.
„Gehen. Gehen. Gehen. Raus mit dem Tag. Gehen. Das ist schon fast so etwas wie ein Mantra.“ Laufen, das kann man heute überall lesen, hat therapeutisches Potenzial. Will spürt das intuitiv, als er einen Tag nach dem Tod seines Vaters damit beginnt. In Flip-Flops und dem Shirt mit David-Bowie-Aufdruck, das er in der Schublade seines Vaters gefunden hat. Gleichzeitig verbindet es ihn mit seiner Mutter, die sich als Krankenschwester mit vielen Nachtschichten wenig um ihn kümmern kann, deren Lieblingslied Bowies melancholisches „Space Oddity“ ist. „Musik ist die Zuflucht der Einsamen“, hat sein Vater immer gesagt.
„What I leave behind“ heißt das Buch im Original. Der Titel verheißt eine hellere Zukunft, die sich am Sternenhimmel von Los Angeles für die beiden Jugendlichen abzuzeichnen beginnt. Gleichzeitig spielt er auf die Traumata der Vergangenheit an. Wills manisches Laufen trägt nämlich zunächst vor allem Züge des Umgehens und Davonlaufens. Die Schuldgefühle, die er auch deshalb mit sich schleppt, weil er seinerzeit das Schulfest früher als Playa verlassen hat, wiegen so schwer, dass er die Strecke zu ihrem Haus konsequent meidet.
Aber auch der deutsche Titel „Wie man eine Raumkapsel verlässt“ sitzt. Er nimmt nicht nur auf Bowies Weltraum-Song Bezug, dessen Text sich wie ein Leitmotiv durch das Buch zieht: „Ground control to Major Tom/Your circuit’s dead/There’s something wrong.“ Er passt auch auf das Schicksal all derer, die in diesem leisen und trotz der tragischen Ereignisse nicht anders als zart zu nennenden Buch, das über weite Strecken nahezu meditative Züge trägt, nach einem Ausgang suchen: Raus aus ihrem schützenden Gehäuse
und damit aus der Isolation, „hinaus in
die unsichtbare Luft“, die die Welt bedeutet.
Will gelingt dies, indem er alle, die ihm im Leben wichtig sind, heimlich mit Kleinigkeiten aus dem „Dollar Only“-Laden beglückt. „Gespenstergeschenke“ nennt er sie, die Zuneigung und Mitgefühl ausdrücken. Und, obwohl klein, starke Gesten des unbedingten Überlebenswillens sind. (ab 12 Jahre)
FLORIAN WELLE
Alison McGhee: Wie man eine Raumkapsel verlässt. Aus dem Englischen von Birgitt Kollmann. dtv, München 2021. 208 Seiten, 12,95 Euro.
Musik ist die Zuflucht
der Einsamen,
hat sein Vater immer gesagt
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Sich befreien in 100 Wörtern und mithilfe eines Songs von David Bowie
Alison McGhee hat ihrem neuen Jugendbuch eine minimalistisch konzentrierte Form gegeben. Jedes der hundert Kapitel besteht aus hundert Wörtern. Im englischen Original von 2018 ebenso wie nun in der vorzüglichen deutschen Übersetzung von Birgitt Kollmann. Sie sind auf der rechten Seite angeordnet, während auf der linken die Kapitelzahlen als chinesische Zeichen zu lesen sind.
In den kurzen, tagebuchartigen Notizen beschreibt der Icherzähler Will, was er auf seinen Streifzügen durch Los Angeles sieht, oder wem er auf seinem Weg zu seinem Aushilfsjob im „Dollar Only“ – Laden begegnet. Einem angeleinten, aggressiven Hund etwa oder dem kleinen „Kerlchen“, das jeden Tag abwartet, bis sich immer zur gleichen Zeit fünf Schmetterlinge auf einer Garagenwand niederlassen. Vor allem jedoch versucht der Sechzehnjährige damit klarzukommen, was sein Teenagerleben einst gesprengt hatte: Vor drei Jahren brachte sich sein depressiver Vater um, später wurde Playa, Wills Freundin aus unbeschwerten Kindergartentagen, nach einem Schulfest vergewaltigt. Seitdem verschanzt sie sich zu Hause.
Viele von Wills Überlegungen enden mit einer Frage, die sich direkt an uns zu wenden scheint. „Weißt du, was ich meine?“, heißt es einmal. Ein anderes Mal „Verstehst du das?“ oder „Das soll der Grund sein? Dafür, dass sie die Tür verschlossen und sie vergewaltigt haben? Als wäre das logisch? Eine Erklärung?“ In den Fragen drückt sich seine ganze Hilflosigkeit angesichts der unerklärlichen Ereignisse aus. Gleichzeitig fordern sie die Leser und Leserinnen auf, sich ihre eigenen Gedanken zu machen.
„Gehen. Gehen. Gehen. Raus mit dem Tag. Gehen. Das ist schon fast so etwas wie ein Mantra.“ Laufen, das kann man heute überall lesen, hat therapeutisches Potenzial. Will spürt das intuitiv, als er einen Tag nach dem Tod seines Vaters damit beginnt. In Flip-Flops und dem Shirt mit David-Bowie-Aufdruck, das er in der Schublade seines Vaters gefunden hat. Gleichzeitig verbindet es ihn mit seiner Mutter, die sich als Krankenschwester mit vielen Nachtschichten wenig um ihn kümmern kann, deren Lieblingslied Bowies melancholisches „Space Oddity“ ist. „Musik ist die Zuflucht der Einsamen“, hat sein Vater immer gesagt.
„What I leave behind“ heißt das Buch im Original. Der Titel verheißt eine hellere Zukunft, die sich am Sternenhimmel von Los Angeles für die beiden Jugendlichen abzuzeichnen beginnt. Gleichzeitig spielt er auf die Traumata der Vergangenheit an. Wills manisches Laufen trägt nämlich zunächst vor allem Züge des Umgehens und Davonlaufens. Die Schuldgefühle, die er auch deshalb mit sich schleppt, weil er seinerzeit das Schulfest früher als Playa verlassen hat, wiegen so schwer, dass er die Strecke zu ihrem Haus konsequent meidet.
Aber auch der deutsche Titel „Wie man eine Raumkapsel verlässt“ sitzt. Er nimmt nicht nur auf Bowies Weltraum-Song Bezug, dessen Text sich wie ein Leitmotiv durch das Buch zieht: „Ground control to Major Tom/Your circuit’s dead/There’s something wrong.“ Er passt auch auf das Schicksal all derer, die in diesem leisen und trotz der tragischen Ereignisse nicht anders als zart zu nennenden Buch, das über weite Strecken nahezu meditative Züge trägt, nach einem Ausgang suchen: Raus aus ihrem schützenden Gehäuse
und damit aus der Isolation, „hinaus in
die unsichtbare Luft“, die die Welt bedeutet.
Will gelingt dies, indem er alle, die ihm im Leben wichtig sind, heimlich mit Kleinigkeiten aus dem „Dollar Only“-Laden beglückt. „Gespenstergeschenke“ nennt er sie, die Zuneigung und Mitgefühl ausdrücken. Und, obwohl klein, starke Gesten des unbedingten Überlebenswillens sind. (ab 12 Jahre)
FLORIAN WELLE
Alison McGhee: Wie man eine Raumkapsel verlässt. Aus dem Englischen von Birgitt Kollmann. dtv, München 2021. 208 Seiten, 12,95 Euro.
Musik ist die Zuflucht
der Einsamen,
hat sein Vater immer gesagt
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