Wie man über Bücher spricht, die man nicht gelesen hat, wollten wir immer schon mal wissen. Pierre Bayards wunderbar witzige und blitzgescheite Literatur- und Gesellschaftssatire gibt die Antwort. Sie haben neulich Proust zitiert, ohne sein Werk zu kennen, über den neuen Nobelpreisträger geplaudert, obwohl Sie sich nicht mal an den Buchtitel erinnern konnten? Kein Problem, sagt der französische Literaturprofessor Pierre Bayard. Wie man auf hohem Niveau und schamfrei über Bücher spricht, die man nicht gelesen hat, zeigt uns dieses wunderbare Buch. Der versierte Nichtleser unterscheidet vier Haupttypen: unbekannte Bücher, Bücher, die man quergelesen hat, Bücher, die man nur vom Hörensagen kennt, und solche, deren Inhalt wir schon wieder vergessen haben - über alle lässt sich hervorragend reden. Dass Bayard seine Einladung zum unverfrorenen Umgang mit Büchern mit einer Fülle literarischer Beispiele untermauert, versteht sich von selbst: von Musils Bibliothekar, der kein Buch durch Lektüre bevorzugen will und deshalb gar nicht liest, über Ecos scharfsinnigen William von Baskerville bis zu David Lodge.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 10.10.2007Mitreden reicht
Zeitig zur Buchmesse: Anleitung zum Nichtlesen
Wie liest man ein Buch? Die Frage stellt sich heute, am ersten Tag der Buchmesse, auf der 7448 Aussteller aus 108 Ländern fast vierhunderttausend Bücher präsentieren, nicht ohne eine gewisse Dringlichkeit. Nehmen wir zum Beispiel dieses: Es heißt "Wie man ein Buch liest" und stammt von Mortimer J. Adler und Charles van Doren. Erschienen ist es soeben bei Zweitausendeins, und wer das Buch in die Hand nimmt, sollte es hinten aufschlagen, im Anhang, und zwar auf Seite 378. Hier finden sich, auf drei Seiten zusammengefasst, die "Leseregeln auf einen Blick". Wer nur diese drei Seiten liest, befolgt damit bereits einige der dort genannten Regeln: Er verschafft sich einen Eindruck davon, von welcher Art das Buch ist, wovon es handelt, wie es aufgebaut ist und wie seine grundlegenden Argumente lauten. Auf dieser Grundlage lässt sich entscheiden, ob das Buch systematisch von vorne bis hinten, nur in Auszügen oder gar nicht gelesen werden sollte.
"How to read a book", so der Originaltitel, erschien 1940 und stand länger als ein Jahr an der Spitze der amerikanischen Bestsellerliste. Bereits 1941 erschien eine deutschsprachige Ausgabe in der Schweiz, zwei Jahre später die erste Parodie ("How to read two books"), und 1967 erfolgte die erste Überarbeitung. Für die vorliegende, abermals überarbeitete Fassung aus dem Jahr 1972 verpflichtete Mortimer J. Adler seinen Freund und Kollegen Charles van Doren als Mitautor. Beide haben lange für die "Encyclopedia Britannica" gearbeitet.
Die Frage, ob ein vor fast sieben Jahrzehnten geschriebenes und zuletzt vor fünfunddreißig Jahren überarbeitetes Werk heute noch gültige Erkenntnisse vermitteln kann, wird bereits auf der zweiten Seite der Einleitung beantwortet. Hier heißt es, dass unsere Schüler in der Regel zwar lesen können, aber oft nicht in der Lage sind, "einer Seite mit Gedrucktem zu entnehmen, was sie aussagt". Es habe sich gezeigt, dass der durchschnittliche Schüler "erstaunlich unbeholfen ist, wenn er den zentralen Gedanken eines Abschnitts formulieren oder Aussagen darüber machen soll, wie nachdrücklich ein Argument vorgebracht wird oder welcher Rang diesem Gedanken in einer Erörterung zukommt". Im Grunde seien viele Schulabgänger mit ihrer Lesefertigkeit nie über den Stand eines Sechstklässlers hinausgekommen. Adler zitiert diese Sätze aus einem Aufsatz von James Mursell, der unter dem Titel "Das Versagen der Schule" in "Atlantic Monthly" erschienen ist. Erscheinungsdatum: 1940.
"Wie man ein Buch liest" ist auch heute noch von größter Aktualität. Aber naturgemäß hat die Verbreitung der Leseschwäche heute zum Teil vollständig andere Ursachen als damals. Der Buchmarkt nimmt solche Probleme vor allem als Leseunlust wahr und reagiert darauf auf seine Weise: Er bietet Bücher zum Nichtlesen an, Lesevermeidungsliteratur. Seit zwei, drei Jahren erscheinen in großer Zahl kleine schmale Bücher, die von sehr vielen großen und dicken Büchern handeln. Sie tragen Titel wie "Das Buch der Bücher" (Hoffmann und Campe) oder "Bibliomania. Ein listenreiches Buch über Bücher" (Dörlemann). Man kann darin manches Wissenwerte erfahren; aber viel interessanter ist die Frage, warum solche Bücher gerade heute so großen Erfolg haben. Das im Residenz Verlag erschienene Bändchen "Das merkwürdige Leben der Literaten" zum Beispiel reiht auf kaum mehr als hundert Seiten ohne ein erkennbares Ordnungsprinzip Anekdoten aus dem Leben von mehr als dreihundert Autoren der Weltliteratur aneinander. Das ist zuweilen sehr unterhaltsam und oft banal.
Dumm und ärgerlich ist "500 Romane in einem Satz", das laut Untertitel "Schnellste Literaturlexikon der Weltliteratur" (DuMont), während das dickleibige Kompendium "Was geschah mit Schillers Schädel" von Rainer Schmitz (Eichborn Berlin) ein profundes Sammelsurium der Weltliteratur darstellt, das jede Bibliothek bereichert und dank der Quellenangaben und Verweise ein veritables Hilfsmittel ist. Gemeinsam ist diesen Büchern, das man sie nicht lesen muss, sondern einfach irgendwo aufschlagen kann. Damit kommen sie all jenen entgegen, die unter der Linearität des Lesevorgangs leiden.
Wer weder Zeit noch die nötige Konzentrationsfähigkeit für die Lektüre Seite um Seite aufbringen kann, wird in diesem Herbst vielleicht auch zu einem verführerischen Titel des Franzosen Pierre Bayard greifen. "Wie man über Bücher spricht, die man nicht gelesen hat" (Kunstmann) hält indes mehr und ganz anderes bereit, als der Titel verheißt. Denn Bayard versteht seinen Gegenstand als hochkomplexe Kulturtechnik, die jeder nötig hat, der nicht vor der ungeheuren Masse der Bücher kapitulieren will: Bayard empfiehlt Nichtlesen als Lesetechnik. Wie man ein Buch mit Gewinn nicht liest, erklärt der gelehrte Literaturwissenschaftler auf 220 Seiten. Keine leichte Lektüre.
HUBERT SPIEGEL
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Zeitig zur Buchmesse: Anleitung zum Nichtlesen
Wie liest man ein Buch? Die Frage stellt sich heute, am ersten Tag der Buchmesse, auf der 7448 Aussteller aus 108 Ländern fast vierhunderttausend Bücher präsentieren, nicht ohne eine gewisse Dringlichkeit. Nehmen wir zum Beispiel dieses: Es heißt "Wie man ein Buch liest" und stammt von Mortimer J. Adler und Charles van Doren. Erschienen ist es soeben bei Zweitausendeins, und wer das Buch in die Hand nimmt, sollte es hinten aufschlagen, im Anhang, und zwar auf Seite 378. Hier finden sich, auf drei Seiten zusammengefasst, die "Leseregeln auf einen Blick". Wer nur diese drei Seiten liest, befolgt damit bereits einige der dort genannten Regeln: Er verschafft sich einen Eindruck davon, von welcher Art das Buch ist, wovon es handelt, wie es aufgebaut ist und wie seine grundlegenden Argumente lauten. Auf dieser Grundlage lässt sich entscheiden, ob das Buch systematisch von vorne bis hinten, nur in Auszügen oder gar nicht gelesen werden sollte.
"How to read a book", so der Originaltitel, erschien 1940 und stand länger als ein Jahr an der Spitze der amerikanischen Bestsellerliste. Bereits 1941 erschien eine deutschsprachige Ausgabe in der Schweiz, zwei Jahre später die erste Parodie ("How to read two books"), und 1967 erfolgte die erste Überarbeitung. Für die vorliegende, abermals überarbeitete Fassung aus dem Jahr 1972 verpflichtete Mortimer J. Adler seinen Freund und Kollegen Charles van Doren als Mitautor. Beide haben lange für die "Encyclopedia Britannica" gearbeitet.
Die Frage, ob ein vor fast sieben Jahrzehnten geschriebenes und zuletzt vor fünfunddreißig Jahren überarbeitetes Werk heute noch gültige Erkenntnisse vermitteln kann, wird bereits auf der zweiten Seite der Einleitung beantwortet. Hier heißt es, dass unsere Schüler in der Regel zwar lesen können, aber oft nicht in der Lage sind, "einer Seite mit Gedrucktem zu entnehmen, was sie aussagt". Es habe sich gezeigt, dass der durchschnittliche Schüler "erstaunlich unbeholfen ist, wenn er den zentralen Gedanken eines Abschnitts formulieren oder Aussagen darüber machen soll, wie nachdrücklich ein Argument vorgebracht wird oder welcher Rang diesem Gedanken in einer Erörterung zukommt". Im Grunde seien viele Schulabgänger mit ihrer Lesefertigkeit nie über den Stand eines Sechstklässlers hinausgekommen. Adler zitiert diese Sätze aus einem Aufsatz von James Mursell, der unter dem Titel "Das Versagen der Schule" in "Atlantic Monthly" erschienen ist. Erscheinungsdatum: 1940.
"Wie man ein Buch liest" ist auch heute noch von größter Aktualität. Aber naturgemäß hat die Verbreitung der Leseschwäche heute zum Teil vollständig andere Ursachen als damals. Der Buchmarkt nimmt solche Probleme vor allem als Leseunlust wahr und reagiert darauf auf seine Weise: Er bietet Bücher zum Nichtlesen an, Lesevermeidungsliteratur. Seit zwei, drei Jahren erscheinen in großer Zahl kleine schmale Bücher, die von sehr vielen großen und dicken Büchern handeln. Sie tragen Titel wie "Das Buch der Bücher" (Hoffmann und Campe) oder "Bibliomania. Ein listenreiches Buch über Bücher" (Dörlemann). Man kann darin manches Wissenwerte erfahren; aber viel interessanter ist die Frage, warum solche Bücher gerade heute so großen Erfolg haben. Das im Residenz Verlag erschienene Bändchen "Das merkwürdige Leben der Literaten" zum Beispiel reiht auf kaum mehr als hundert Seiten ohne ein erkennbares Ordnungsprinzip Anekdoten aus dem Leben von mehr als dreihundert Autoren der Weltliteratur aneinander. Das ist zuweilen sehr unterhaltsam und oft banal.
Dumm und ärgerlich ist "500 Romane in einem Satz", das laut Untertitel "Schnellste Literaturlexikon der Weltliteratur" (DuMont), während das dickleibige Kompendium "Was geschah mit Schillers Schädel" von Rainer Schmitz (Eichborn Berlin) ein profundes Sammelsurium der Weltliteratur darstellt, das jede Bibliothek bereichert und dank der Quellenangaben und Verweise ein veritables Hilfsmittel ist. Gemeinsam ist diesen Büchern, das man sie nicht lesen muss, sondern einfach irgendwo aufschlagen kann. Damit kommen sie all jenen entgegen, die unter der Linearität des Lesevorgangs leiden.
Wer weder Zeit noch die nötige Konzentrationsfähigkeit für die Lektüre Seite um Seite aufbringen kann, wird in diesem Herbst vielleicht auch zu einem verführerischen Titel des Franzosen Pierre Bayard greifen. "Wie man über Bücher spricht, die man nicht gelesen hat" (Kunstmann) hält indes mehr und ganz anderes bereit, als der Titel verheißt. Denn Bayard versteht seinen Gegenstand als hochkomplexe Kulturtechnik, die jeder nötig hat, der nicht vor der ungeheuren Masse der Bücher kapitulieren will: Bayard empfiehlt Nichtlesen als Lesetechnik. Wie man ein Buch mit Gewinn nicht liest, erklärt der gelehrte Literaturwissenschaftler auf 220 Seiten. Keine leichte Lektüre.
HUBERT SPIEGEL
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main