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Produktdetails
  • Verlag: Kiepenheuer & Witsch
  • 1997.
  • Deutsch
  • Gewicht: 346g
  • ISBN-13: 9783462025835
  • ISBN-10: 346202583X
  • Artikelnr.: 06601165
Autorenporträt
Wolf Biermann, geboren 1936 in Hamburg, ist Liedermacher, Dichter, Übersetzer und Essayist. 1953 ging er in die damalige DDR und 1976 wurde er ausgebürgert. Lebt seitdem wieder in seiner Vaterstadt.
Literaturpreise u.a.: Theodor-Fontane-Preis 1968, Jacques-Offenbach-Preis 1971, Friedrich-Hölderlin-Preis 1989, Georg-Büchner-Preis 1991, Heinrich-Heine-Preis 1993, 2006 Joachim-Ringelnatz-Preis für Lyrik der Stadt Cuxhaven. 2006 erhielt Wolf Biermann das Bundesverdienstkreuz.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 25.03.1997

Schatten in der Höhle des Gemüts
Wie man Verse macht und Lieder: Wolf Biermanns Poetik / Von Hans-Herbert Räkel

Bei dieser "Poetik in acht Gängen" - so der Untertitel des neuen Buches von Wolf Biermann - denkt der eingestimmte Leser an den Traktor von Kalle mit dem steifen Bein (Rückwärtsgänge nicht mitgezählt): Mensch, der zog 'ne Furche! Aber hier wird nicht proletarisch geackert, sondern akademisch spaziert. Die dem Buche zugrunde liegende Vorlesungsreihe an der Heinrich-Heine-Universität in Düsseldorf hat sich über anderthalb Jahre erstreckt. Die knisternde Spannung, welche jene dramatischen "Uraufführungen" begleitet haben muß, ist auch für Leserinnen und Leser noch deutlich spürbar.

Das Buch liest sich, als ob der Liedermacher selber "amphitheatralisch" auf dem Katheder stünde. Es gehört als eine Art Saldo-Geste an die Seite der beiden Sammlungen "Alle Lieder" (1991) und "Alle Gedichte" (1995), wo er notierte, es sei "an der Zeit, die Summe eines Lebens zu ziehn, das noch dauert". In diesem Leben ist nun Persönliches besonders eng, ja unentwirrbar mit der Liedermacherei und der Geschichte des geteilten und wiedervereinigten Deutschland verbunden. Anders gesagt: Moral, Poesie und Politik lassen sich nicht voneinander trennen, und die Frage, "wie man Verse macht und Lieder", ist für Biermann nicht nur eine poetologische, sondern auch eine moralische und eine politische Frage.

Die achte und letzte Vorlesung mit dem Titel "Talent und Charakter" macht diesen Zusammenhang zum Thema. Aber das Buch fängt eigentlich auch schon damit an, es ist sein A und sein O: Zu dem kleinen Umschlagmotiv, einer Zeichnung von A. R. Penck, liest man auf Seite drei, noch vor dem Titelblatt, ein sehr schönes fragendes Gedicht, in dem es heißt: "Sind die Mörder nun die Opfer? Gibt es nicht mehr falsch und richtig?" Freilich hält der Poetik-Professor es gerade nicht für die Aufgabe eines Dichters, "den Menschen im Gedicht oder im Lied die Welt zu erklären". Im Rückgriff auf Plato möchte er nur "gern sehn, welche Schatten die wirkliche Welt in der Steinhöhle des Gemüts eines Dichters wirft". "Gemüt" ist hier nichts Gemütliches; es soll alle Seelenkräfte, also Kopf und Herz umfassen.

Wie kommt Wolf Biermann zu seinem dichterischen Gemüt? Indem er sich zuerst einmal einen Stammbaum pflanzt, dessen Wurzeln bis in die Renaissance reichen. Bei John Donne, der das Universum um sein Liebeslager rotieren läßt, bei François Villon, dessen Hals lernen muß, was sein Hintern wiegt, da scheint das Ich des dichtenden Subjekts zuerst zu sich selber gefunden zu haben. Gewiß soll auch die Welt im Gedicht präsent sein, "aber der Dichter eben zuallererst. Und deshalb ist das Ich des dichtenden Subjekts im lyrischen Gedicht immer beides: Es ist ein Kunst-Ich und ist zugleich auch das konkrete Ich-Ich dieses einen bestimmten Dichters und Sängers." Dies ist also die poetologische Substanz: Der Lyriker "muß so sein und so leben, daß er das lyrische Fundamentalwörtchen ,Ich' radikal und rücksichtslos in Gebrauch nehmen kann", muß "ein Ich haben, das sich für ein Gedicht lohnt", ja, "das Leben eines lyrischen Dichters muß selbst schon die Qualität eines guten Gedichts haben".

Daß man im Proseminar das Autor-Ich und das lyrische Ich nicht verwechseln darf, ist eine gescheite pädagogische Forderung, auch Biermann verwechselt sie nicht, aber bei solchen dialektischen Kippschaltern ist das Licht auch beim besten Willen eben immer nur an oder aus. Steht im Proseminar das Ich-Ich meistens im Dunkeln, so bei Biermann das Kunst-Ich, und auch das kann schlimme Folgen haben: Gerade in der zentralen vierten Vorlesung ("Dichtkunst") erzählt er, wie Wladimir Majakowski für seine Schrift "Wie macht man Verse" sein Gedicht gegen den Selbstmord von Jessenin benutzte. Als er selber dann aus Verzweiflung über die gescheiterte russische Revolution "sich in Moskau eine Pistole an die Schläfe seines klobigen Schädels setzte, da schrieb er mit Hilfe dieser kleinen Metallbeförderungsmaschine und mit seinem eigenen Blut zu seinem tintengeschriebenen Gedicht gegen Jessenins Selbstmord die wahre Schlußstrophe. Und die, verehrte Zuhörer, sollten Sie nicht vergessen." Macht man so Verse oder doch wenigstens Schlußstrophen? Dann hat Theodor Körner 1813 auch so eine letzte Strophe zu "Lützows wilde verwegene Jagd" geschrieben. Gewiß, so etwas ist nicht gleichgültig. Aber das Schreiben mit der Pistole bleibt doch so uneigentlich wie das Schießen mit der Gitarre.

Allerdings geht es Biermann nicht anders als Verlaine und Majakowski, die ihren eigenen poetischen Programmen zu ihrem Vorteil untreu wurden. Ist sein achtzehnstrophiges gereimtes Vierzeilergedicht mit dem Titel "Dichtkunst" nicht geradezu ein Musterbeispiel für ein "Gedacht", wie das an der Lyrik Erich Frieds exemplifizierte Wort für "Lern-was-Lyrik" lautet? Und Brechts "freches kleines Gedicht über den 17. Juni" (in dem er der DDR-Regierung empfiehlt, ein anderes Volk zu wählen) - kann man sich ein besseres "Gedacht" vorstellen?

Wenn der Ausdruck als Wesen der Lyrik in solche Schwierigkeiten führt, liegt es vielleicht ganz einfach daran, daß er nicht der wahre Jakob ist. Vielleicht ist das Wesen der Lyrik ja gar nicht der Ausdruck, sondern die Aussage, zu der man sich entschließt. Man kann die eigentümliche Form des Verses als Stilisierung der Aussage verstehen, als Huldigung an jenes Wunder der Sprache, etwas mit etwas anderem verknüpfen zu können. Ausdruck darf auch dabeisein, aber das Ich trifft seine Auswahl, stellt Zusammenhänge her . . . und macht sich so einen Vers auf die Welt!

An dem kleinen Motto-Gedicht kann man leicht sehen, wie souverän der Dichter Biermann das macht. In seiner früheren Fassung (im Nachwort von "Alle Gedichte") ist es wortreicher und kommt beinahe direkt aus der überlaufenden Gemütshöhle: "Sind hier noch die Mörder Mörder? / Sind geworfne Steine Steine?" Jetzt ist es abgespeckt, evoziert weniger Umwelt und scheidet strenger zwischen ja und nein: "Sind noch Mörder Mörder? / Sind die Steine Steine?" Dieses Gedicht ist gut - allerdings weil es ein besonders gutes "Gedacht" ist.

Biermanns Poetik spricht also nicht wirklich davon, wie man Verse macht. Der Ratschlag, "heiße Lebenssuppe" auszuteilen, zu stammeln, zu stottern, zu spucken, zu keifen, also ohne Rücksicht und ungeschönt das abzuzeichnen, was sich an Welt in der Gemütshöhle nicht nur gespiegelt, sondern (wie es später einmal heißt) eingebrannt hat, unterschlägt jenen wesentlichen Teil der dichterischen Arbeit, in der gerade Wolf Biermann ein Meister ist: Selektion und Manipulation der Lebenssuppe, bis sie Form annimmt, gültig und kommunizierbar wird.

Diesen Vorgang beschreibt die Vorlesung über "Dolmetzscherey" viel klarer als die über "Dichtkunst". Wo ist da das eingebrannte Abbild in der Gemütshöhle des Dichters? Biermann sieht hier ein ausschließlich sprachliches Problem: "Wer Gedichte und Lieder aus fremden Sprachen nachdichten will", schreibt er, "muß kein Sterbenswörtchen der fremden Sprache verstehen. Er hat beim Nachdichten nur ein wirkliches Problem: seine eigene Sprache." Und da eine Übersetzung nie so gut sein kann wie das Original, folgert er, daß sie besser sein müsse! Das hieße nun aber doch, daß der nachdichtende Wolf Biermann besser Ich sagen kann als sein Vorgänger, der dieses Ich legitim auf den Weltschatten in seiner eigenen Gemütshöhle gegründet hatte.

In dieser ausweglosen Situation kommt der Poetik Biermanns ein Satz Hegels zustatten: Man erkennt nur das, was man kennt. Biermann verstärkt ihn in dem bekannten Sinne: "Was nicht als Möglichkeit latent in meinem eigenen Kopf gefühlt, im eigenen Herzen gedacht oder im eigenen Leben gelebt wurde, das erkenne ich auch nicht in fremden Werken und kann es also auch nicht kenntlich machen in der eigenen Sprache." Aber dürfen wir ihm diesen strengen Autismus glauben? Sollte nicht wenigstens ein Dichter auch noch über den Weg der Sprache etwas erfahren können, das nicht schon von selbst in seinem Kopf, Herzen und Leben wuchert? Wie macht er es denn, wenn er ein Gedicht oder ein Lied eines anderen "in sein Deutsch" bringt?

Am Beispiel eines Liedes von Aragon ("Il n'y a pas d'amour heureux") gibt er hierüber Auskunft. Nachdem er mit der ersten Strophe schon recht zufrieden ist und sie sogar gegenüber dem Original ein bißchen verbessert hat, macht ihm dieser platte Refrain zu schaffen: "Es gibt keine glückliche Liebe" - das klinge gesungen lächerlich, konstatiert er und stellt um: "Glückliche Liebe gibt es nicht". Das singe sich gut, "aber merken Sie es? Riechen Sie den Gestank der Sprache? ,Glückliche Liebe gibt es nicht' - das klingt wie ein Satz in einer deutschen Polizeiverordnung." Viel später gelingt ihm dann die entscheidende Zeile doch noch: "Glückliche Liebe, die gibt's nie".

Da er uns genau erklärt hat, woher diese Zeile kommt, nehmen wir ihm seine Onto-Lyrik nicht mehr so richtig ab: Die Gemütshöhle, aus der er dieses Abbild herausgespiegelt hat, die hat der Übersetzer-Dichter sich selber gebaut und eingerichtet. Es ist das, was er sich unter "einer lebendigen Menschenbrust" vorstellt, die ihre Trauer in spontanem Ausdruck preisgibt.

Natürlich kann der Dichter, muß er das so machen, und wie gut ist es ihm hier gelungen! Aber niemand hat die Trauer seines Ich-Ich ausgedrückt; Wolf Biermann hat eine Aussage konstruiert, von der er weiß, daß sie sich dazu eignet, das zu vermitteln, was ihm der französische Dichter in seiner Sprache vermittelt hatte.

Bei der Formulierung des traurigen Refrains "Glückliche Liebe, die gibt's nie" war Rücksicht auf die Melodie zu nehmen. Beim Dichten von Liedern verfährt der Liedermacher aber meistens umgekehrt: Er schreibt zuerst den Text und erfindet dann eine Melodie, die Rücksicht auf den Text zu nehmen hat. Dem Verhältnis von Text und Melodie widmet er eine ganze Vorlesung und fächert es nach vier Funktionen auf: Die Musik kann den Text servieren, sie kann ihn kopieren, sie kann ihn interpretieren, und sie kann ihn kontrapunktieren. Diese letzte Funktion beansprucht Biermann für sich.

An einem gut gewählten Beispiel zeigt er, wie "die Musik im Kontrapunkt Ängste formuliert, die noch nicht ausgestanden sind". Er kann sie auch genau identifizieren: "In Wirklichkeit wühlten in mir Erfahrungen, die ich unmittelbar nach der Ausbürgerung im Westen gemacht, aber noch lange nicht begriffen und verarbeitet hatte." Und er resümiert: "Es werden also Affekte des Textes musikalisch kontrapunktiert." Da ist es wieder, unser Dichter-Ich, das sich hier als Komponisten-Ich verdoppelt hat, aber immer noch daran festhält, sich auszudrücken. Die Angst, die der Text verheimlicht, dringt also in der Melodie nach außen, etwa so wie Zittern und Rotwerden die Unsicherheit dessen verraten, der sich zu beherrschen sucht.

Aber dann führt er uns ein anderes Beispiel vor: Für das "Große Gebet der alten Kommunistin Oma Meume in Hamburg" hatte er den "paradox drolligen" Refrain gedichtet: "Gott, laß Du den Kommunismus siegen". Er mißfällt ihm gründlich, denn "es sollte ja ein De Profundis ohne Augenzwinkern werden, ein plebejisches Aus-tiefster-Not-schrei-ich-zu-Dir! . . . Die Musik sollte nun den entscheidenden Ausdruck, den verzweifelten, den heiligen Ernst liefern." Für diesen erhabenen Zweck entlehnt er, "besser gut geklaut als schlecht erfunden", ein Thema von Bach. "Und siehe da, it works! Der drollige Duktus . . . ist wie weggeblasen. Das Komische schimmert nur noch ein bißchen durch und gibt dem Traurigen die tiefere Tragik." Dieser musikalische Kontrapunkt zittert also nicht im Affekt. Die Melodie ist nicht Ausdruck, sondern Ausdrucksmittel, konventionell, treffend und verständlich.

Was hier erscheint, ist eine Dimension von Biermanns Kunst, der er selber wenig theoretische Beachtung zu schenken scheint: Das Ausdrucksmittel ist offensichtlich nicht von einem existentiellen Ausdrucksbedürfnis abhängig. Neben den vier Funktionen des Verhältnisses von Musik und Text, die Biermann alle unter dem Primat des Ausdrucks faßt, vergißt er eine, die doch für seine eigene Karriere die wichtigste gewesen ist: Die Melodie ist ein Medium, sie ist die Erscheinungsform des Textes. Sie ist immer etwas ganz anderes als der Text, wie "verludert beliebig", parallel, interpretierend, kontrapunktisch sie auch sein mag; und immer trägt sie ihn. Lieder bekommen dadurch Objektivität, sie werden realer, vielleicht wahrer als ihr Ich-Ich wollte.

Die großen Ahnen, auf die Biermann sich beruft, die Troubadours und Walther von der Vogelweide, hatten kein anderes Medium als dieses. Nach allem, was man von ihren Melodien weiß, war genau das ihre Stärke: Objektivierung, Vergesellschaftung und Entindividualisierung. Das geschieht auch Biermanns Liedern, wenn er sie vorträgt, und es ist gut so. In seiner Ich-Verliebtheit versucht er aber immer wieder zu zeigen, daß sie ihm gehören, und das tut er, indem er störend, also krächzend dazwischenfährt.

Damit, daß Biermann seine Poetik nicht befolgt, befindet er sich in der besten Gesellschaft, aber damit, daß er sie so laut bekennt, gerät er ins Zwielicht. Im Glauben an seine Onto-Poetik und die Musen macht er wahrscheinlich seine besten Gedichte und seine besten Lieder - aber weil er dem Kunst-Ich, dem er sie in Wirklichkeit verdankt, nicht über den Weg traut, muß er nun der Authentizität seiner Gedichte unablässig persönlich nachlaufen und sich vor dem Publikum in gläserner Durchsichtigkeit präsentieren. Darum ist er auf Konzert- und Vortragsreisen, auch im kleinen Kreis, unermüdlich bereit, über sich Auskunft zu geben, und erst lange später merkt man, daß er so gar nichts über andere wissen wollte: eine Poetik des Ich-Ich.

Wolf Biermann: "Wie man Verse macht und Lieder". Eine Poetik in acht Gängen. Kiepenheuer & Witsch Verlag, Köln 1997. 288 S., br., 29,80 DM.

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