NIETZSCHE ZWISCHEN DEN FRONTEN DES 20. JAHRHUNDERTS - EINE RASANTE GESCHICHTE
Nach 1945 liegt Nietzsches Ruf genauso in Trümmern wie der europäische Kontinent. Ausgerechnet Giorgio Colli und Mazzino Montinari, zwei italienische Antifaschisten, entschließen sich, den gefährlichen Denker zu rehabilitieren. Ihr Ziel: Nietzsches Nachlass neu zu entziffern, um alle postumen Verfälschungen rückgängig zu machen. Ihr Problem: Zehntausende kaum lesbarer Seiten, die sich in der DDR befinden, wo Nietzsche offiziell als Staatsfeind gilt. In seinem brillant geschriebenen Buch erzählt Philipp Felsch ein intellektuelles Abenteuer im Spannungsfeld des Kalten Krieges, das von Florenz über Weimar und Ost-Berlin bis ins Paris der Postmoderne führt.
Wer die von Giorgio Colli und Mazzino Montinari herausgegebene Nietzsche-Gesamtausgabe aufschlägt, betritt eine Wüste akribischer Gelehrsamkeit. In seinem aufregenden neuen Buch folgt Philipp Felsch den beiden Philologen auf ihrer epischen Suche nach dem echten Nietzsche, die zwischen die politischen und philosophischen Fronten des Kalten Krieges führt. Während Colli und Montinari im Osten ins Visier der Staatssicherheit geraten, schlägt ihnen im Westen der Widerstand der neuen Meisterdenker entgegen, die die Idee des authentischen Urtexts, ja der Wahrheit selbst in Frage stellen. Zu guter Letzt wird ihre Ausgabe sogar für den Fall der Mauer verantwortlich gemacht. Die Geschichte des Kampfs um Nietzsches Überlieferung, zugleich ein intellektuelles Porträt der Epoche, macht deutlich, welche Sprengkraft bis heute in seinem Denken liegt.
Der schillerndste aller Philosophen und seine Wandlung vom rechten zum linken Denker Die Geschichte eines intellektuellen Abenteurers zwischen Florenz, Ost-Berlin und Paris Schriftstellerisch glänzend und intellektuell brillant Vom Autor des Kultbuches "Der lange Sommer der Theorie"
Nach 1945 liegt Nietzsches Ruf genauso in Trümmern wie der europäische Kontinent. Ausgerechnet Giorgio Colli und Mazzino Montinari, zwei italienische Antifaschisten, entschließen sich, den gefährlichen Denker zu rehabilitieren. Ihr Ziel: Nietzsches Nachlass neu zu entziffern, um alle postumen Verfälschungen rückgängig zu machen. Ihr Problem: Zehntausende kaum lesbarer Seiten, die sich in der DDR befinden, wo Nietzsche offiziell als Staatsfeind gilt. In seinem brillant geschriebenen Buch erzählt Philipp Felsch ein intellektuelles Abenteuer im Spannungsfeld des Kalten Krieges, das von Florenz über Weimar und Ost-Berlin bis ins Paris der Postmoderne führt.
Wer die von Giorgio Colli und Mazzino Montinari herausgegebene Nietzsche-Gesamtausgabe aufschlägt, betritt eine Wüste akribischer Gelehrsamkeit. In seinem aufregenden neuen Buch folgt Philipp Felsch den beiden Philologen auf ihrer epischen Suche nach dem echten Nietzsche, die zwischen die politischen und philosophischen Fronten des Kalten Krieges führt. Während Colli und Montinari im Osten ins Visier der Staatssicherheit geraten, schlägt ihnen im Westen der Widerstand der neuen Meisterdenker entgegen, die die Idee des authentischen Urtexts, ja der Wahrheit selbst in Frage stellen. Zu guter Letzt wird ihre Ausgabe sogar für den Fall der Mauer verantwortlich gemacht. Die Geschichte des Kampfs um Nietzsches Überlieferung, zugleich ein intellektuelles Porträt der Epoche, macht deutlich, welche Sprengkraft bis heute in seinem Denken liegt.
Der schillerndste aller Philosophen und seine Wandlung vom rechten zum linken Denker Die Geschichte eines intellektuellen Abenteurers zwischen Florenz, Ost-Berlin und Paris Schriftstellerisch glänzend und intellektuell brillant Vom Autor des Kultbuches "Der lange Sommer der Theorie"
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 20.03.2022Auf Taubenfüßen
Der Philosoph, der aus der Kälte kam: Philipp Felsch erzählt, wie zwei Italiener Nietzsche retteten und damit die Postmoderne inspirierten.
Sich einen italienischen Kommunisten vorzustellen, wie er an einem Apriltag 1961, vier Monate vor dem Mauerbau, im Goethe- und Schiller-Archiv in Weimar zum ersten Mal einen Originalzettel Nietzsches in der Hand hält und davon so ergriffen ist, dass er zum lebenslangen Leser dieses "Antiphilosophen" wird, das ist eine wirklich nietzscheanische Aufgabe. Nietzscheanisch in dem Sinn, dass Nietzsche immer unzeitgemäß sein und verstanden werden wollte. Und was kann in einer Zeit, in der das oder der Böse wieder einen Namen hat, mehr aus der Zeit gefallen sein als die Beschäftigung mit dem Autor eines Buches, das "Jenseits von Gut und Böse" heißt?
Mazzino Montinari, so heißt der italienische Kommunist, um den es hier auch geht, fand Weimar Anfang der Sechzigerjahre wie "aus der Zeit" gefallen. Dort, ausgerechnet "in einer bildungsbürgerlichen Enklave des real existierenden Sozialismus", habe er sein "persönliches Posthistoire" gefunden, wie Philipp Felsch schreibt. Felsch, Kulturwissenschaftler an der Humboldt Universität in Berlin, erzählt in seiner gerade erschienenen Studie "Wie Nietzsche aus der Kälte kam" die "Geschichte einer Rettung", wie es im Untertitel heißt, und zwar eines Denkers, der schon im ganz Bösen versunken war. Das Böse waren in diesem Fall Adolf Hitler und die Nazis und ihr Wille zur Macht. Ein Wille, den die Nazis und ihre jungen Gefolgsleute aus den bildungswilligen Oberschichten auch den Schriften Nietzsches abgeschöpft hatten.
1901 war ein Band mit angeblich von Nietzsche stammenden Aphorismen unter dem Titel "Der Wille zur Macht. Versuch einer Umwertung aller Werte" herausgebracht worden, mit einem Vorwort von Nietzsches Schwester Elisabeth Förster-Nietzsche. Frau Förster-Nietzsche, die die Nachlassrechte am Werk ihres Bruders besaß, hatte gleich nach dessen Tod im August 1900 begonnen, sein angebliches Hauptwerk, als das sie den "Willen zur Macht" verkaufte, in stark bearbeiteter und verfälschender Weise zu publizieren. Dass heute alle Kompilationen, die unter ihrer Bearbeitung entstanden sind, als unhaltbar gelten, liegt an der akribischen philologischen Arbeit von Mazzino Montinari und seines Partners Giorgio Colli, die für die einzig wissenschaftlich relevante kritische Ausgabe der Werke Nietzsches verantwortlich zeichnen.
Wie Philipp Felsch zeigen kann, hatten Colli und Montinari mit ihrer Philologie nicht nur Nietzsche aus der Kälte seiner Schwester und der Nazis geholt, sie hatten auch die großen Jahre jener Theorie mit angestoßen, die man heute unter so dünnen Begriffen wie "Postmoderne" und "Posthistoire" verbucht. Felsch, bekannt geworden mit seinem Buch "Der lange Sommer der Theorie: Geschichte einer Revolte", unternimmt in seinem Nietzsche-Buch so etwas wie eine Tiefenbohrung zum langen Sommer der Theorie. Wobei Tiefenbohrung einen nicht abschrecken sollte. Felsch folgt bei aller Genauigkeit eben nicht Montinaris heiliger Versenkung in Nietzsches Zettel, in denen "kein Bild, kein Wort, nicht einmal ein Interpunktionszeichen anstelle eines anderen" beliebig seien, wie Montinari schrieb. Felsch geht es um zwei besondere Gründungsakte: um die beiden Italiener und ihre Motive bei der Hinwendung zu Nietzsches Schriften und um den Einbruch der Texte Nietzsches in die Theoriewelten der sogenannten Postmoderne. Als Ausgangspunkt dafür wählt er, ganz im Kanon der Ideengeschichte, ein Nietzsche-Kolloquium im Juli 1964 in Royaumont in der Nähe von Paris. Felsch lässt seine Nietzsche-Studie mit einer zerschlissenen Kopie des Programms der Tage von Royaumont beginnen, das anschaulich macht, wer hier zusammentraf.
Es waren auf der einen Seite Veteranen des Nietzscheanismus wie Jean Wahl und Karl Löwith. Letzterer hatte alle Phasen der Nietzsche-Verehrung seit der Jugendbewegung der Weimarer Republik durchlaufen, bis die Nazis ein Berufsverbot über ihn verhängten wegen seiner jüdischen Herkunft. Auf der anderen Seite standen hier junge, noch unbekannte Denker wie Michel Foucault und Gilles Deleuze. Dass Foucaults Beitrag "Nietzsche, Freud, Marx" es in der Folge zu Weltruhm brachte und, wie Felsch richtig bemerkt, der einzige ist, der heute noch gelesen wird, bildet nur einen Teil der Wirkungsgeschichte. Der andere, der lebendige Teil ist jener, den Felsch vorstellt und der die Qualität seiner Schreibweise ausmacht.
Denn was hier aufeinandertraf, waren nicht einfach Ideen, es waren Lebensformen und Mentalitäten. Foucault hatte in seinem Vortrag das Trio Nietzsche, Freud und Marx als Repräsentanten einer neuen, wilden Form der Lektüre vorgestellt. Als Leser und Interpreten, die nicht stur und stumm an heiligen Texten arbeiteten, sondern neue Kombinatoriken einführten, die ebenso das Ungeschriebene, die Latenzen der Zeit wie die Stimmungen und Töne der Umgebungen mitzulesen versuchten und in ihre Texte einfließen ließen. Ein Ansatz, der Colli und Montinari, die manchmal eine Woche daran arbeiteten, um nur einen Zettel Nietzsches zu entziffern, so fremd geblieben sein muss wie der ganze Kongress von Royaumont.
Felschs Qualität besteht darin, genau diese Fremdheit anschaulich zu machen. Er lässt die Tage von Royaumont mit der Busfahrt von Paris zum Kongressort beginnen und beschreibt, wie die beiden Italiener den Gesprächen der anderen über sie zuhören. In den Pausen des Kolloquiums werden die beiden beim Kaffee dann wohl auch eher allein und verloren herumgestanden haben, folgert Felsch. Das ist keine beliebige Spekulation, sondern erlebte Erfahrung. Felsch hat mittlerweile selbst genug Symposien oder Kolloquien organisiert, um zu wissen, wie es Außenseitern auf solchen Veranstaltungen ergeht. Und der Abstand zwischen den beiden Italienern, die eine vergangene Welt so getreu wie möglich rekonstruieren wollten, und den jungen Franzosen, die eine neue Welt in Buchstaben fassen wollten, muss sehr groß gewesen sein. Felsch gelingt es, diesen Abstand zu ermessen.
Mazzino Montinari war, als er von Gilles Deleuze die Einladung nach Royaumont erhielt, gerade dabei, aus der Toskana nach Weimar in der "Ostzone", wie die DDR damals oft genannt wurde, überzusiedeln. Eine Bewegung, die Nietzsches Lebensweg von Weimar über die Schweiz und Frankreich nach Italien in geradezu grotesker Weise umkehrt. Wer waren diese beiden italienischen Dilettanten, und wie kamen sie dazu, die Schriften von Nietzsche zu edieren, fragt Felsch dann auch an zentraler Stelle seines Buches und widmet den ersten Teil seiner Studie dieser Frage. Woher rührt ihre Hingabe an das Werk eines Philosophen, der - zumal für Linke - in den Sechzigerjahren noch ein Repräsentant des Bösen war? Wie Felsch dann dieses "unwahrscheinliche Paar" beschreibt, das sagt auch etwas über die Bedingungen der Postmoderne. In den verschiedensten Formen der sozialdemokratischen, westeuropäischen Bildungsoffensiven konnten sich die Klassen neu treffen. Colli und Montinari kannten einander aus der Schule. Colli war in der toskanischen Kleinstadt Lucca der Philosophielehrer Montinaris. Ein bürgerlicher Privatgelehrter mit graecophilen Obsessionen begegnete einem zwölf Jahre jüngeren Kommunisten mit proletarischem Familienhintergrund.
"Vom Glück, Kommunist zu sein", überschreibt Felsch eines der Kapitel zur Geschichte des jungen Montinari. Der Klassenunterschied spiegelte sich auch in Collis und Montinaris Persönlichkeiten. Der eine sei schweigsam, aristokratisch, in den Glorienschein einer fernen Vergangenheit entrückt gewesen, der andere lebendig, mitreißend, empathisch, der Gegenwart und ihrer Veränderung zugewandt, hat ein italienischer Journalist in einem Porträt der beiden geschrieben.
Was sie mit ganz unterschiedlichen Motiven zusammenführt, ist der Drang zur Wahrheit in den Texten Nietzsches. "Aller Luxus fließt an ihm ab, er will nur arbeiten", berichtete der Informelle Mitarbeiter des Ministeriums für Staatssicherheit, der Montinari im Goethe- und Schiller-Archiv observierte. Für die DDR-Sicherheit ging von diesem Mann keine Gefahr aus, für die Kommunistischen Parteien des Westens vor allem in Italien und Frankreich aber schon. Liest man deren orthodoxe Geschichtsschreibung heute, dann waren es postmoderne Denker wie Gilles Deleuze und Michel Foucault, die das unorganisierte Chaos priesen, es auch in die linken Bewegungen einsickern ließen und sie damit auflösten, weil sie eine Welt ohne Halt und klares Oben und Unten in das Denken einführten.
Wie es dazu kommen konnte inmitten der kulturellen und politischen Beschleunigung der Sechzigerjahre, davon erzählt Philipp Felsch auf eine Weise, die diese Form der Philologie eben nicht als weltflüchtigen Eskapismus erscheinen lässt, sondern als einen jener Antriebe zur Veränderung die, wie Nietzsche mit Paulus wusste, auf Taubenfüßen daherkommen und nicht mit großem Kanonenknall.
CORD RIECHELMANN.
Philipp Felsch: "Wie Nietzsche aus der Kälte kam: Geschichte einer Rettung". C. H. Beck, 287 Seiten, 26 Euro
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Der Philosoph, der aus der Kälte kam: Philipp Felsch erzählt, wie zwei Italiener Nietzsche retteten und damit die Postmoderne inspirierten.
Sich einen italienischen Kommunisten vorzustellen, wie er an einem Apriltag 1961, vier Monate vor dem Mauerbau, im Goethe- und Schiller-Archiv in Weimar zum ersten Mal einen Originalzettel Nietzsches in der Hand hält und davon so ergriffen ist, dass er zum lebenslangen Leser dieses "Antiphilosophen" wird, das ist eine wirklich nietzscheanische Aufgabe. Nietzscheanisch in dem Sinn, dass Nietzsche immer unzeitgemäß sein und verstanden werden wollte. Und was kann in einer Zeit, in der das oder der Böse wieder einen Namen hat, mehr aus der Zeit gefallen sein als die Beschäftigung mit dem Autor eines Buches, das "Jenseits von Gut und Böse" heißt?
Mazzino Montinari, so heißt der italienische Kommunist, um den es hier auch geht, fand Weimar Anfang der Sechzigerjahre wie "aus der Zeit" gefallen. Dort, ausgerechnet "in einer bildungsbürgerlichen Enklave des real existierenden Sozialismus", habe er sein "persönliches Posthistoire" gefunden, wie Philipp Felsch schreibt. Felsch, Kulturwissenschaftler an der Humboldt Universität in Berlin, erzählt in seiner gerade erschienenen Studie "Wie Nietzsche aus der Kälte kam" die "Geschichte einer Rettung", wie es im Untertitel heißt, und zwar eines Denkers, der schon im ganz Bösen versunken war. Das Böse waren in diesem Fall Adolf Hitler und die Nazis und ihr Wille zur Macht. Ein Wille, den die Nazis und ihre jungen Gefolgsleute aus den bildungswilligen Oberschichten auch den Schriften Nietzsches abgeschöpft hatten.
1901 war ein Band mit angeblich von Nietzsche stammenden Aphorismen unter dem Titel "Der Wille zur Macht. Versuch einer Umwertung aller Werte" herausgebracht worden, mit einem Vorwort von Nietzsches Schwester Elisabeth Förster-Nietzsche. Frau Förster-Nietzsche, die die Nachlassrechte am Werk ihres Bruders besaß, hatte gleich nach dessen Tod im August 1900 begonnen, sein angebliches Hauptwerk, als das sie den "Willen zur Macht" verkaufte, in stark bearbeiteter und verfälschender Weise zu publizieren. Dass heute alle Kompilationen, die unter ihrer Bearbeitung entstanden sind, als unhaltbar gelten, liegt an der akribischen philologischen Arbeit von Mazzino Montinari und seines Partners Giorgio Colli, die für die einzig wissenschaftlich relevante kritische Ausgabe der Werke Nietzsches verantwortlich zeichnen.
Wie Philipp Felsch zeigen kann, hatten Colli und Montinari mit ihrer Philologie nicht nur Nietzsche aus der Kälte seiner Schwester und der Nazis geholt, sie hatten auch die großen Jahre jener Theorie mit angestoßen, die man heute unter so dünnen Begriffen wie "Postmoderne" und "Posthistoire" verbucht. Felsch, bekannt geworden mit seinem Buch "Der lange Sommer der Theorie: Geschichte einer Revolte", unternimmt in seinem Nietzsche-Buch so etwas wie eine Tiefenbohrung zum langen Sommer der Theorie. Wobei Tiefenbohrung einen nicht abschrecken sollte. Felsch folgt bei aller Genauigkeit eben nicht Montinaris heiliger Versenkung in Nietzsches Zettel, in denen "kein Bild, kein Wort, nicht einmal ein Interpunktionszeichen anstelle eines anderen" beliebig seien, wie Montinari schrieb. Felsch geht es um zwei besondere Gründungsakte: um die beiden Italiener und ihre Motive bei der Hinwendung zu Nietzsches Schriften und um den Einbruch der Texte Nietzsches in die Theoriewelten der sogenannten Postmoderne. Als Ausgangspunkt dafür wählt er, ganz im Kanon der Ideengeschichte, ein Nietzsche-Kolloquium im Juli 1964 in Royaumont in der Nähe von Paris. Felsch lässt seine Nietzsche-Studie mit einer zerschlissenen Kopie des Programms der Tage von Royaumont beginnen, das anschaulich macht, wer hier zusammentraf.
Es waren auf der einen Seite Veteranen des Nietzscheanismus wie Jean Wahl und Karl Löwith. Letzterer hatte alle Phasen der Nietzsche-Verehrung seit der Jugendbewegung der Weimarer Republik durchlaufen, bis die Nazis ein Berufsverbot über ihn verhängten wegen seiner jüdischen Herkunft. Auf der anderen Seite standen hier junge, noch unbekannte Denker wie Michel Foucault und Gilles Deleuze. Dass Foucaults Beitrag "Nietzsche, Freud, Marx" es in der Folge zu Weltruhm brachte und, wie Felsch richtig bemerkt, der einzige ist, der heute noch gelesen wird, bildet nur einen Teil der Wirkungsgeschichte. Der andere, der lebendige Teil ist jener, den Felsch vorstellt und der die Qualität seiner Schreibweise ausmacht.
Denn was hier aufeinandertraf, waren nicht einfach Ideen, es waren Lebensformen und Mentalitäten. Foucault hatte in seinem Vortrag das Trio Nietzsche, Freud und Marx als Repräsentanten einer neuen, wilden Form der Lektüre vorgestellt. Als Leser und Interpreten, die nicht stur und stumm an heiligen Texten arbeiteten, sondern neue Kombinatoriken einführten, die ebenso das Ungeschriebene, die Latenzen der Zeit wie die Stimmungen und Töne der Umgebungen mitzulesen versuchten und in ihre Texte einfließen ließen. Ein Ansatz, der Colli und Montinari, die manchmal eine Woche daran arbeiteten, um nur einen Zettel Nietzsches zu entziffern, so fremd geblieben sein muss wie der ganze Kongress von Royaumont.
Felschs Qualität besteht darin, genau diese Fremdheit anschaulich zu machen. Er lässt die Tage von Royaumont mit der Busfahrt von Paris zum Kongressort beginnen und beschreibt, wie die beiden Italiener den Gesprächen der anderen über sie zuhören. In den Pausen des Kolloquiums werden die beiden beim Kaffee dann wohl auch eher allein und verloren herumgestanden haben, folgert Felsch. Das ist keine beliebige Spekulation, sondern erlebte Erfahrung. Felsch hat mittlerweile selbst genug Symposien oder Kolloquien organisiert, um zu wissen, wie es Außenseitern auf solchen Veranstaltungen ergeht. Und der Abstand zwischen den beiden Italienern, die eine vergangene Welt so getreu wie möglich rekonstruieren wollten, und den jungen Franzosen, die eine neue Welt in Buchstaben fassen wollten, muss sehr groß gewesen sein. Felsch gelingt es, diesen Abstand zu ermessen.
Mazzino Montinari war, als er von Gilles Deleuze die Einladung nach Royaumont erhielt, gerade dabei, aus der Toskana nach Weimar in der "Ostzone", wie die DDR damals oft genannt wurde, überzusiedeln. Eine Bewegung, die Nietzsches Lebensweg von Weimar über die Schweiz und Frankreich nach Italien in geradezu grotesker Weise umkehrt. Wer waren diese beiden italienischen Dilettanten, und wie kamen sie dazu, die Schriften von Nietzsche zu edieren, fragt Felsch dann auch an zentraler Stelle seines Buches und widmet den ersten Teil seiner Studie dieser Frage. Woher rührt ihre Hingabe an das Werk eines Philosophen, der - zumal für Linke - in den Sechzigerjahren noch ein Repräsentant des Bösen war? Wie Felsch dann dieses "unwahrscheinliche Paar" beschreibt, das sagt auch etwas über die Bedingungen der Postmoderne. In den verschiedensten Formen der sozialdemokratischen, westeuropäischen Bildungsoffensiven konnten sich die Klassen neu treffen. Colli und Montinari kannten einander aus der Schule. Colli war in der toskanischen Kleinstadt Lucca der Philosophielehrer Montinaris. Ein bürgerlicher Privatgelehrter mit graecophilen Obsessionen begegnete einem zwölf Jahre jüngeren Kommunisten mit proletarischem Familienhintergrund.
"Vom Glück, Kommunist zu sein", überschreibt Felsch eines der Kapitel zur Geschichte des jungen Montinari. Der Klassenunterschied spiegelte sich auch in Collis und Montinaris Persönlichkeiten. Der eine sei schweigsam, aristokratisch, in den Glorienschein einer fernen Vergangenheit entrückt gewesen, der andere lebendig, mitreißend, empathisch, der Gegenwart und ihrer Veränderung zugewandt, hat ein italienischer Journalist in einem Porträt der beiden geschrieben.
Was sie mit ganz unterschiedlichen Motiven zusammenführt, ist der Drang zur Wahrheit in den Texten Nietzsches. "Aller Luxus fließt an ihm ab, er will nur arbeiten", berichtete der Informelle Mitarbeiter des Ministeriums für Staatssicherheit, der Montinari im Goethe- und Schiller-Archiv observierte. Für die DDR-Sicherheit ging von diesem Mann keine Gefahr aus, für die Kommunistischen Parteien des Westens vor allem in Italien und Frankreich aber schon. Liest man deren orthodoxe Geschichtsschreibung heute, dann waren es postmoderne Denker wie Gilles Deleuze und Michel Foucault, die das unorganisierte Chaos priesen, es auch in die linken Bewegungen einsickern ließen und sie damit auflösten, weil sie eine Welt ohne Halt und klares Oben und Unten in das Denken einführten.
Wie es dazu kommen konnte inmitten der kulturellen und politischen Beschleunigung der Sechzigerjahre, davon erzählt Philipp Felsch auf eine Weise, die diese Form der Philologie eben nicht als weltflüchtigen Eskapismus erscheinen lässt, sondern als einen jener Antriebe zur Veränderung die, wie Nietzsche mit Paulus wusste, auf Taubenfüßen daherkommen und nicht mit großem Kanonenknall.
CORD RIECHELMANN.
Philipp Felsch: "Wie Nietzsche aus der Kälte kam: Geschichte einer Rettung". C. H. Beck, 287 Seiten, 26 Euro
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Perlentaucher-Notiz zur FR-Rezension
Rezensent Wilhelm von Sternburg erkennt mit Philipp Felsch und dessen Geschichte einer Rettung, dass Nietzsche ein Moderner war. So informativ wie spannend findet er, wie der Kulturhistoriker Felsch die Rehabilitierung Nietzsches durch Colli/Montinari nachzeichnet, von der philologischen Großtat der Entzifferung der Handschriften bis zu Mutmaßungen über ideologische Vereinnahmungen des Philosophen im Kalten Krieg. Die Begeisterung der beiden italienischen Wissenschaftler scheint sich durch Felschs Rekonstruktion auf den Rezensenten zu übertragen.
© Perlentaucher Medien GmbH
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