Existieren soziale Tatsachen nur, weil wir an sie glauben? Zerfällt die Welt damit in unterschiedliche Sphären des Seins? Nein, sagt John Searle, es gibt nur eine einzige Realität - die durch die Naturwissenschaften beschriebene. Searle ergründet, wie sich die Bestandteile der sozialen Welt nahtlos in diese Realität einfügen lassen und warum sie ebenso wirklich sind wie die Dinge, die unabhängig vom Menschen existieren. Sprache und Denken, Geist und Natur, Freiheit und Determinismus werden ebenso behandelt wie Institutionen oder das Phänomen der Macht. Wie wir die soziale Welt machen führt so sämtliche Lebensthemen Searles zu einer einheitlichen Theorie der menschlichen Zivilisation zusammen.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 30.07.2012Sagen Sie das ruhig noch einmal, Professor Searle
Nachhaltiges Recycling: Der amerikanische Philosoph John R. Searle, der morgen achtzig Jahre alt wird, hält Alltagsintuitionen hoch und erweitert seine Beschreibung sozialer Wirklichkeiten.
Manches muss man einfach noch einmal sagen. Und noch einmal. Weil die Botschaft so wichtig scheint, die These sich noch nicht durchgesetzt hat oder schlicht, weil die Kinder nicht hören wollen. Redundanz ist eine nützliche Sache, sogar in der Philosophie - und das nicht nur, weil es eine Redundanztheorie der Wahrheit gibt, sondern auch, weil sich philosophische Sprösslinge gerne renitent geben.
Insofern muss es nicht überraschen, dass John Searle, nachdem er 1995 bereits in seiner Abhandlung "Die Konstruktion der sozialen Realität" das Wesen gesellschaftlicher Institutionen wie Ehe, Eigentum, Geburtstagspartys, Geld oder Präsidenten erkundet hat, sich erneut der Ontologie des Sozialen widmet. Erstens ist die Botschaft wichtig, weil sie verspricht, das wissenschaftstheoretische Fundament der Sozialwissenschaften freizulegen. Zweitens - das beweisen etliche kritische Sammelbände zu Searles Sozialontologie - wollten die Kinder wirklich nicht hören.
Also setzt Searle erneut an, verschiebt Gewichtungen, setzt neue Akzente. Das Ziel aber bleibt dasselbe, nämlich die Realität sozialer Institutionen so zu fassen, dass soziale Tatsachen einerseits mit Naturtatsachen einen Zusammenhang bilden und insofern keine zweite, geistige oder kulturelle Welt neben der physischen darstellen. Andererseits aber soll diese Wirklichkeit vollständig vom Menschen durch Sprache hervorgebracht werden.
Wieder stehen bei diesem ausgreifenden Fundierungsunternehmen die sogenannten Statusfunktionen im Mittelpunkt. Die menschliche Fähigkeit also, Gegenständen oder Personen dauerhaft Funktionen zuzuweisen, einem Stück Plastik etwa die Funktion, ein Personalausweis zu sein. Wieder bedarf es dazu kollektiver Intentionalität, denn Statusfunktionen können nur objektiv existieren, wenn sie gemeinsam anerkannt werden. Sind diese Funktionen etabliert, tragen sie - wie Searle es nun nennt - "deontische Macht", sind also mit bestimmten Rechten und Pflichten verbunden. Volljähriger Bürger der Bundesrepublik Deutschland zu sein berechtigt dazu, an Wahlen teilzunehmen. Sobald diese Macht etabliert ist, entstehen Gründe für Handlungen, die unabhängig von subjektiven Neigungen sind: Die eingegangene Rechnung liefert einen Grund, auf Annehmlichkeiten zu verzichten und sie zu bezahlen.
Selbst dort, wo Searle seine älteren Überlegungen neu akzentuiert, greift er auf schon Gesagtes zurück, auf seine sprechakttheoretischen Überlegungen der siebziger Jahre. Zum "Machen" der sozialen Welt gehöre notwendig der Sprechakt der Deklaration, wie beispielsweise bei der Erklärung der allgemeinen Menschenrechte, deren Realität Searle ausführlich untersucht, weil es - anders als bei Statusfunktionen wie Ehemann, Bundeskanzlerin oder Eigentum - nicht so einfach begründet werden kann, wie oder warum Menschsein eine Statusfunktion ist.
Je länger man Searles sprachlicher Erschaffung der institutionellen Welt folgt, von der Sprach- und Intentionalitätstheorie bis hin zu Fragen der Macht und einer Analyse der Menschenrechte, desto mehr glaubt man, auf dem Schiff des Theseus unterwegs zu sein, bei dem auf hoher See ständig morsche Planken ausgewechselt werden, das Schiff aber immer dasselbe zu bleiben scheint. Bei Searle allerdings sind es Planken, die bereits in anderen Teilen seines Erkenntnis- und Sprachphilosophie, Handlungs- und Geisttheorie verzahnenden Werks verbaut worden waren. Und es ist doch erstaunlich, wie seetauglich dieses Produkt nachhaltigen philosophischen Recyclings ausgefallen ist.
Gewiss gibt es in der Gegenwartsphilosophie viel komfortablere Boote, etwa im Kontext der Sprach- und Intentionalitätstheorie das Hightechschiff der inferentiellen Semantik von Robert Brandom. Und gewiss merkt man zuweilen, wie notdürftig bei Searle manche Planken zusammengenagelt sind. Wenn er beispielsweise versucht zu beschreiben, wie Willensfreiheit möglich ist. Das Bewusstsein, zwischen zwei Handlungsalternativen zu wählen, führe - so Searle - zum Gefühl einer "kausalen Lücke" zwischen den Gründen für die Handlung und den wirklichen Handlungsabsichten, das Gefühl auch anders handeln zu können. Dass es üblicherweise gerade darum geht, diese "Lücke" theoretisch zu schließen oder sie neurophysiologisch wegzuerklären, stört Searle nicht im Geringsten: "Wenn wir Entscheidungen treffen, müssen wir die Lücke voraussetzen. Sollte die Lücke eine Illusion sein, können wir sie also trotzdem nicht loswerden." Damit ist natürlich theoretisch nichts gewonnen, aber eben lebensweltlich auch nichts verlorengegangen. Willensfreiheit gehört zu jenen plausiblen Alltagsintuitionen, die man nach Searle gar nicht aufgeben kann und die deshalb in immer neuen Anläufen gestützt werden müssen. Sie gehört zum Mantra eines Common Sense, den es gegen Philosophen zu behaupten gilt, die für eine geschmeidige oder ausgefeilte Theorie bereit sind, den Primat der Lebenswelt über Bord zu werfen.
Searles Philosophie dagegen ist im besten Sinne durchdrungen vom Respekt vor der alltäglichen Urteilskraft, die von der Realität der Außenwelt genauso ausgeht wie davon, Wahrheit als Übereinstimmung von Sprache und Welt zu fassen (und nicht als irgendeinen Konsens). Im neuen Buch zeigt sich das vor allem dann, wenn Searle die Schlüsse aus seiner Ontologie der sozialen Institutionen zieht und, für den Leser bei aller Redundanz überraschend, eine Theorie politischer Macht entwirft, die nicht bei Diktatoren, Souveränen oder Leviathanen ansetzt - nicht beim Ausnahmezustand also, sondern beim Regelfall. "Jede befriedigende Erörterung des Machtbegriffs unterliegt der Bedingung, dass man immer dann, wenn von Macht die Rede ist, imstande sein sollte anzugeben, wer genau Macht über wen hat, um diese Person dazu zu bringen, das oder das zu tun."
Diese "Bedingung der Genauigkeit" bringt Searle etwa gegen Theorien in Stellung, die - wie Michel Foucault in seinem Begriff der Biomacht - von einer unspezifischen Macht ausgehen, die sich als anonyme Normierungspraktik im Rücken der Akteure "ereignet". Es mag zwar - so Searle - in Gesellschaften so etwas wie eine "Hintergrundmacht" geben, Formen nicht expliziten gesellschaftlichen Zwangs: der Oktroy dessen, was als tolerierte politische Meinung gelten kann und was nicht.
Aber diese Macht ist für Searle nicht unspezifisch oder anonym, denn es gibt in einer Gesellschaft solche nichtkodifizierten Normen. Buchstäblich jeder, der sie teilt, kann per Sanktion Macht über jene ausüben, die sie nicht befolgen. Zur Machtausübung kommt es also erst, wenn Angehörige einer Gesellschaft anderen Konformität aufzwingen. Dass jegliche Macht - von der Hintergrundmacht bis zu der von Regierungen ausgeübten politischen Macht - in den deontischen Berechtigungen und Verpflichtungen gründet, die mit der sprachlichen Etablierung und Aufrechterhaltung von Statusfunktionen in die Welt kommen, versteht sich fast von selbst. Aber es musste doch noch einmal gesagt werden.
THORSTEN JANTSCHEK
John R. Searle: "Wie wir die soziale Welt machen".
Aus dem Englischen von Joachim Schulte. Suhrkamp Verlag, Berlin 2012. 351 S., geb., 28,95 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Nachhaltiges Recycling: Der amerikanische Philosoph John R. Searle, der morgen achtzig Jahre alt wird, hält Alltagsintuitionen hoch und erweitert seine Beschreibung sozialer Wirklichkeiten.
Manches muss man einfach noch einmal sagen. Und noch einmal. Weil die Botschaft so wichtig scheint, die These sich noch nicht durchgesetzt hat oder schlicht, weil die Kinder nicht hören wollen. Redundanz ist eine nützliche Sache, sogar in der Philosophie - und das nicht nur, weil es eine Redundanztheorie der Wahrheit gibt, sondern auch, weil sich philosophische Sprösslinge gerne renitent geben.
Insofern muss es nicht überraschen, dass John Searle, nachdem er 1995 bereits in seiner Abhandlung "Die Konstruktion der sozialen Realität" das Wesen gesellschaftlicher Institutionen wie Ehe, Eigentum, Geburtstagspartys, Geld oder Präsidenten erkundet hat, sich erneut der Ontologie des Sozialen widmet. Erstens ist die Botschaft wichtig, weil sie verspricht, das wissenschaftstheoretische Fundament der Sozialwissenschaften freizulegen. Zweitens - das beweisen etliche kritische Sammelbände zu Searles Sozialontologie - wollten die Kinder wirklich nicht hören.
Also setzt Searle erneut an, verschiebt Gewichtungen, setzt neue Akzente. Das Ziel aber bleibt dasselbe, nämlich die Realität sozialer Institutionen so zu fassen, dass soziale Tatsachen einerseits mit Naturtatsachen einen Zusammenhang bilden und insofern keine zweite, geistige oder kulturelle Welt neben der physischen darstellen. Andererseits aber soll diese Wirklichkeit vollständig vom Menschen durch Sprache hervorgebracht werden.
Wieder stehen bei diesem ausgreifenden Fundierungsunternehmen die sogenannten Statusfunktionen im Mittelpunkt. Die menschliche Fähigkeit also, Gegenständen oder Personen dauerhaft Funktionen zuzuweisen, einem Stück Plastik etwa die Funktion, ein Personalausweis zu sein. Wieder bedarf es dazu kollektiver Intentionalität, denn Statusfunktionen können nur objektiv existieren, wenn sie gemeinsam anerkannt werden. Sind diese Funktionen etabliert, tragen sie - wie Searle es nun nennt - "deontische Macht", sind also mit bestimmten Rechten und Pflichten verbunden. Volljähriger Bürger der Bundesrepublik Deutschland zu sein berechtigt dazu, an Wahlen teilzunehmen. Sobald diese Macht etabliert ist, entstehen Gründe für Handlungen, die unabhängig von subjektiven Neigungen sind: Die eingegangene Rechnung liefert einen Grund, auf Annehmlichkeiten zu verzichten und sie zu bezahlen.
Selbst dort, wo Searle seine älteren Überlegungen neu akzentuiert, greift er auf schon Gesagtes zurück, auf seine sprechakttheoretischen Überlegungen der siebziger Jahre. Zum "Machen" der sozialen Welt gehöre notwendig der Sprechakt der Deklaration, wie beispielsweise bei der Erklärung der allgemeinen Menschenrechte, deren Realität Searle ausführlich untersucht, weil es - anders als bei Statusfunktionen wie Ehemann, Bundeskanzlerin oder Eigentum - nicht so einfach begründet werden kann, wie oder warum Menschsein eine Statusfunktion ist.
Je länger man Searles sprachlicher Erschaffung der institutionellen Welt folgt, von der Sprach- und Intentionalitätstheorie bis hin zu Fragen der Macht und einer Analyse der Menschenrechte, desto mehr glaubt man, auf dem Schiff des Theseus unterwegs zu sein, bei dem auf hoher See ständig morsche Planken ausgewechselt werden, das Schiff aber immer dasselbe zu bleiben scheint. Bei Searle allerdings sind es Planken, die bereits in anderen Teilen seines Erkenntnis- und Sprachphilosophie, Handlungs- und Geisttheorie verzahnenden Werks verbaut worden waren. Und es ist doch erstaunlich, wie seetauglich dieses Produkt nachhaltigen philosophischen Recyclings ausgefallen ist.
Gewiss gibt es in der Gegenwartsphilosophie viel komfortablere Boote, etwa im Kontext der Sprach- und Intentionalitätstheorie das Hightechschiff der inferentiellen Semantik von Robert Brandom. Und gewiss merkt man zuweilen, wie notdürftig bei Searle manche Planken zusammengenagelt sind. Wenn er beispielsweise versucht zu beschreiben, wie Willensfreiheit möglich ist. Das Bewusstsein, zwischen zwei Handlungsalternativen zu wählen, führe - so Searle - zum Gefühl einer "kausalen Lücke" zwischen den Gründen für die Handlung und den wirklichen Handlungsabsichten, das Gefühl auch anders handeln zu können. Dass es üblicherweise gerade darum geht, diese "Lücke" theoretisch zu schließen oder sie neurophysiologisch wegzuerklären, stört Searle nicht im Geringsten: "Wenn wir Entscheidungen treffen, müssen wir die Lücke voraussetzen. Sollte die Lücke eine Illusion sein, können wir sie also trotzdem nicht loswerden." Damit ist natürlich theoretisch nichts gewonnen, aber eben lebensweltlich auch nichts verlorengegangen. Willensfreiheit gehört zu jenen plausiblen Alltagsintuitionen, die man nach Searle gar nicht aufgeben kann und die deshalb in immer neuen Anläufen gestützt werden müssen. Sie gehört zum Mantra eines Common Sense, den es gegen Philosophen zu behaupten gilt, die für eine geschmeidige oder ausgefeilte Theorie bereit sind, den Primat der Lebenswelt über Bord zu werfen.
Searles Philosophie dagegen ist im besten Sinne durchdrungen vom Respekt vor der alltäglichen Urteilskraft, die von der Realität der Außenwelt genauso ausgeht wie davon, Wahrheit als Übereinstimmung von Sprache und Welt zu fassen (und nicht als irgendeinen Konsens). Im neuen Buch zeigt sich das vor allem dann, wenn Searle die Schlüsse aus seiner Ontologie der sozialen Institutionen zieht und, für den Leser bei aller Redundanz überraschend, eine Theorie politischer Macht entwirft, die nicht bei Diktatoren, Souveränen oder Leviathanen ansetzt - nicht beim Ausnahmezustand also, sondern beim Regelfall. "Jede befriedigende Erörterung des Machtbegriffs unterliegt der Bedingung, dass man immer dann, wenn von Macht die Rede ist, imstande sein sollte anzugeben, wer genau Macht über wen hat, um diese Person dazu zu bringen, das oder das zu tun."
Diese "Bedingung der Genauigkeit" bringt Searle etwa gegen Theorien in Stellung, die - wie Michel Foucault in seinem Begriff der Biomacht - von einer unspezifischen Macht ausgehen, die sich als anonyme Normierungspraktik im Rücken der Akteure "ereignet". Es mag zwar - so Searle - in Gesellschaften so etwas wie eine "Hintergrundmacht" geben, Formen nicht expliziten gesellschaftlichen Zwangs: der Oktroy dessen, was als tolerierte politische Meinung gelten kann und was nicht.
Aber diese Macht ist für Searle nicht unspezifisch oder anonym, denn es gibt in einer Gesellschaft solche nichtkodifizierten Normen. Buchstäblich jeder, der sie teilt, kann per Sanktion Macht über jene ausüben, die sie nicht befolgen. Zur Machtausübung kommt es also erst, wenn Angehörige einer Gesellschaft anderen Konformität aufzwingen. Dass jegliche Macht - von der Hintergrundmacht bis zu der von Regierungen ausgeübten politischen Macht - in den deontischen Berechtigungen und Verpflichtungen gründet, die mit der sprachlichen Etablierung und Aufrechterhaltung von Statusfunktionen in die Welt kommen, versteht sich fast von selbst. Aber es musste doch noch einmal gesagt werden.
THORSTEN JANTSCHEK
John R. Searle: "Wie wir die soziale Welt machen".
Aus dem Englischen von Joachim Schulte. Suhrkamp Verlag, Berlin 2012. 351 S., geb., 28,95 [Euro].
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Perlentaucher-Notiz zur TAZ-Rezension
Tim Caspar Boehme nutzt diesen Band, der nichts grundsätzlich Neues zu bringen scheint, um Searles Sprechakttheorie noch einmal darzulegen. Demnach gibt es verschiedene Funktionen der Sprache: Sie beschreibt entweder in "Assertiva" die Welt, visiert in "Expressiva" eine Möglichkeit der Veränderung der Welt an oder verändert die Welt gar mittels "Deklarativa". Letztere Akte (typisch in: "hiermit erkläre ich Sie für verheiratet") sind für Searle zentral und bilden laut Boehme die Grundlage der ganzen Searleschen Philosophie. Durch "Deklarativa", so der Rezensent, sieht Searle die ganze soziale Welt begründet - und dieser Aspekt, der Boehme ein bisschen überstrapaziert vorzukommen scheint, ist auch der Mittelpunkt des neuen Buchs. Boehme legt es mit höflichem Interesse zur Seite, auch wenn er sich über den bei Sprechakttheoretikern unvermeidlichen Hang zur Systematisierung milde mokiert.
© Perlentaucher Medien GmbH
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