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Unglaubliches geschieht im Frühjahr 1974: Die schwedische Popgruppe Abba gewinnt den Eurovision Song Contest und wird über Nacht weltberühmt. Ben Schneider und seine Freunde wittern Verrat: Ihre musikalischen Helden heißen Hendrix, Lennon und Dylan, in deren Songs geht es um Existenzielles, um Revolte, Drogen und Utopien. Sie leiden darunter, dass ihnen fortan aus Hitparaden und Jugendclubs Waterloo entgegenschallt. Gegen die dörfliche Tristesse am Rande des Ruhrgebiets hilft Ben manchmal nur das Spiel auf einem alten Klavier, das neben dem Grundig- Musikschrank wie ein Fremdkörper…mehr

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Produktbeschreibung
Unglaubliches geschieht im Frühjahr 1974: Die schwedische Popgruppe Abba gewinnt den Eurovision Song Contest und wird über Nacht weltberühmt. Ben Schneider und seine Freunde wittern Verrat: Ihre musikalischen Helden heißen Hendrix, Lennon und Dylan, in deren Songs geht es um Existenzielles, um Revolte, Drogen und Utopien. Sie leiden darunter, dass ihnen fortan aus Hitparaden und Jugendclubs Waterloo entgegenschallt. Gegen die dörfliche Tristesse am Rande des Ruhrgebiets hilft Ben manchmal nur das Spiel auf einem alten Klavier, das neben dem Grundig- Musikschrank wie ein Fremdkörper wirkt.

Ein elektrisierendes Alter in einer dörflich entschleunigten Zeit, die Ben und seine Freunde jedoch nicht vor den Tragödien des Lebens bewahrt. Denn wo steht geschrieben, wie man ein Mädchen das erste Mal küsst, oder wie man verkraften soll, dass ein Klassenkamerad stirbt? Es beginnt ein Sommer der stillen Revolte und der ersten Liebe. Alles könnte so leicht sein, aber das ist es nicht - denn das Herz funktioniert anders als der Verstand und das Unbehagen ist allgegenwärtig, schielt aus muffigen Partykellern und gepflegten Vorgärten und lässt sich nur gemeinsam ertragen - mit Freunden, exzessiver Musik und der Hoffnung auf rauschhafte Momente.
Autorenporträt
Andreas Heidtmann, geboren 1961 in Hünxe, wuchs zwischen Ruhrgebiet und Münsterland auf. An der Kölner Musikhochschule studierte er Klavier und anschließend Germanistik in Berlin. Einige Jahre arbeitete er als Lektor und schrieb Prosa, wofür er mehrere Stipendien erhielt. Nach der Jahrtausendwende gründete er in Leipzig das literarische Webportal poetenladen, aus dem der poetenladen Verlag als erfolgreicher Independentverlag erwuchs. Erzählungen, Romane, Gedichte und die Zeitschrift poet*inerscheinen im Verlag. Andreas Heidtmann wurde für seine Arbeit unter anderem mit dem Hermann- Hesse-Preis, dem Lessing-Förderpreis und dem künstlerischen Initiativpreis ausgezeichnet. Wie wir uns lange Zeit nicht küssten, als ABBA berühmt wurde ist sein Debütroman.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 02.07.2020

Verbauern und versauern

Ritueller Leerlauf: Andreas Heidtmanns Debütroman erzählt nostalgisch-sentimental von den siebziger Jahren.

Erste Liebe, Unordnung und frühes Leid durch elterliches Unverständnis, strenge Lehrer und tragische Todesfälle, dazu die quälende Alternativlosigkeit des Sommers 1974 auf dem Land: Jägermeister oder Jägerzaun, Abba oder Christian Anders, Partykeller oder Schützenfest? Man kennt die Versatzstücke des Coming-of-Age-Romans mittlerweile hinlänglich. Fast alle Autoren, darunter neuerdings auch Prominente wie Matthias Brandt oder Axel Milberg, eröffnen ihre literarische Laufbahn mit einem mehr oder weniger autobiographischen Roman über ihr Heranwachsen in der wunderbar schrecklichen Provinz. Namentlich das Ruhrgebiet und die siebziger Jahre dürfen mittlerweile als weitgehend abgegrastes Erzählgelände gelten; dennoch schlägt Andreas Heidtmann in seinem Roman mit dem sperrigen Titel "Wie wir uns lange Zeit nicht küssten, als ABBA berühmt wurde" unverdrossen in diese nostalgisch-sentimentale Kerbe.

Als Gründer des Webportals "poetenladen" und der Literaturzeitschrift "Poet", als Verleger, Lektor und Autor hat Heidtmann viel für die Literatur getan, aber erstaunlicherweise bislang noch keinen Roman geschrieben. Diesen Mangel hat er nun im reifen Debütantenalter von fast sechzig Jahren behoben. Aber seine Erinnerungen an eine Pubertät am Rande des Ruhrgebiets, genauer: zwischen Hünxe, Schermbeck und Dorsten, gehen selten über routinierte Empfindsamkeit und Tagebuchpathos hinaus. "Wir hofften auf brillante Gefühle, auf euphorische Momente abseits der dorfgewordenen Ereignislosigkeit, während wir am Schwanenteich hockten, sommerabendelang Bier und Wein tranken und rauchten und uns ausmalten, wie wir der Monotonie und dem Mief entkämen, Verrücktheiten sponnen, um all das zu vergessen, was unser Alltag war: die geharkten Bürgersteige, die sauber geschnittenen Hecken, die schummrigen Partykeller, der Stumpfsinn der Kneipen, die schlagerbestückten Musicboxen und der rituelle Leerlauf der Feiertage."

Ben, der Erzähler, ist vierzehn und will raus aus der dörflichen Enge, weg von Schützenverein, kirchlichen Jugendclubs, Kiosk Bohnekamp und Eiscafé Rinaldo, jedenfalls nicht kampflos verbauern und versauern. So gilt er, obwohl aus waschechtem Malocher-Elternhaus stammend, bald nicht ganz zu Unrecht als Snob und "arrogantes kleines Arschloch". Ben liest natürlich, wie alle Junglyriker damals, Nietzsche, Hesse, Whitman und Brinkmann und zieht, wie alle jungen Menschen von Geschmack, Jimi Hendrix und die Stones Tony Marshall und den schwedischen Hupfdohlen von Abba vor. Als begabter Klavierschüler kennt und schätzt er sogar Beethoven-Sonaten, Fritz Wunderlich und Bartóks Allegro barbaro. Als Mann von Welt raucht er natürlich Camel und nicht Kim wie die Mädchen oder Samson-Tabak wie die halbstarken poser. Ben trinkt zwar notfalls auch Kellergeister, aber nur, um sich auf der Kirmes die Sonnenuntergänge mit Susanna im roten Autoscooter noch röter und romantischer einzufärben.

Jene Susanna, eine dreizehnjährige Fee mit der "atemraubend aparten Art" und dem entzückenden Kamm in der Potasche, ist Bens große Liebe. Wenn er an ihr rummacht, läuft "Sugar Baby Love", wenn sie ihn unter ihr Shirt lässt, rast sein Herz: "Während ich tastend die leichten Wölbungen entlangfuhr, wurde unser Küssen zu einer wilden Vereinnahmung." So plätschert der Sommer of Love dahin: Knutschen am Schwanenteich, Anfälle von Eifersucht, Techtelmechtel mit anderen Mädchen, etwa der Abba-Verehrerin Mona, der blonden Gabi oder der zarten, kultivierten Chopin-Kennerin Rebecca, Herumhängen mit Freunden, kleine Fluchten in die Illegalität. Der Rest ist klassisches Distinktionstheater: Fanta oder Eierlikör, Bounty oder Brühwürstchen, Geha- oder Pelikan-Füller.

Am Ende pinselt Ben Liebesschwüre auf die Garagenwand und Hausbesetzerparolen auf Bettlaken: "Wir bleiben hier" als Solidaritätserklärung an einen zwangsgeräumten Freund, kein Versprechen. In Lippfeld bleibt niemand freiwillig, im Hier und Jetzt verklärter Vergangenheit schon. "Mein Herz kümmerte sich nicht darum, dass mein Verstand Gelassenheit befahl, und schlug heftig und schnell."

Heidtmann gelingen schön sentimentale Szenen und Porträts, aber wenig davon ist originell. Mick, Bens bester Freund, ist natürlich der König der Luftgitarre, Kuddel trinkt zu viel, Vickie, die Sandkastenfreundin, ist eigentlich auch ganz patent. Die Mütter bügeln Bügelfalten in die Jeans und Sextanerscheitel in die Mähne ihrer Söhne, die Väter sind abwesend, unter Tage oder lausige Hippies. Jan-Henri bemüht sich rührend unbeholfen um die Anerkennung der großen Macker und wird nach seinem frühen Herztod zu Bens Gewissenswurm. Heidtmann tapeziert Bens Erinnerungen mit den knallbunten Kuschelflokatis, Dorfpunk-Parolen und Redensarten der siebziger Jahre, aber seine Figuren bleiben meist Abziehbilder. Man hat Bens Geschichte schon zu oft so oder ähnlich gelesen, als dass sich noch das ungestüme Herzklopfen der ersten Liebe einstellen wollte.

MARTIN HALTER.

Andreas Heidtmann: "Wie wir uns lange Zeit nicht küssten, als ABBA berühmt wurde". Roman.

Steidl Verlag, Göttingen 2020. 352 S., geb., 22,- [Euro].

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