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Protokoll eines Missbrauchs, Dokumentation eines Heilungsprozesses - als Verkörperung der Migration unter sowjetischen Erziehungsmethoden, einer Kultur des Schweigens und elterlichem Erwartungsdruck im Übehaus aufgewachsen, wo der Traum, Pianist zu werden, vom Wunsch abgelöst wird, den Steinway-Flügel zu zertrümmern, probiert sich das autofiktionale lyrische Ich an Rebellion - sei es durch Ladendiebstahl, sei es durch Sex mit einer Gojte. Vermittler zwischen familiären Ansprüchen und jugendlichem Zorn wird ihm dabei der Kinderarzt, der sich über Jahre zum immer wichtigeren Teil in Daniels…mehr

Produktbeschreibung
Protokoll eines Missbrauchs, Dokumentation eines Heilungsprozesses - als Verkörperung der Migration unter sowjetischen Erziehungsmethoden, einer Kultur des Schweigens und elterlichem Erwartungsdruck im Übehaus aufgewachsen, wo der Traum, Pianist zu werden, vom Wunsch abgelöst wird, den Steinway-Flügel zu zertrümmern, probiert sich das autofiktionale lyrische Ich an Rebellion - sei es durch Ladendiebstahl, sei es durch Sex mit einer Gojte. Vermittler zwischen familiären Ansprüchen und jugendlichem Zorn wird ihm dabei der Kinderarzt, der sich über Jahre zum immer wichtigeren Teil in Daniels Leben macht, bis schließlich zu jener Nacht, in der »alles an freundschaft und poesie das zwischen uns lebt« infrage gestellt wird. Daniel Arkadij Gerzenberg erzählt in Versen voll bestechender Offenheit davon, wie sich jemand das ihm entgegengebrachte Vertrauen zunutze macht, davon, wie es ist, wenn plötzlich nichts mehr - nicht die Eltern, die berufliche Laufbahn, die eigene Jüdischkeit, alles, was man liebt - unbelastet ist und frei von »seinem blick«, vor allem aber davon, wie Literatur zum Richterhammer werden kann, der ins Recht setzt, was die Wirklichkeit verwehrt.
Autorenporträt
Daniel Arkadij Gerzenberg (*1991) ist Lyriker, Liedpianist, Librettist und Mitglied des Lyrikkollektivs G13. Er arbeitet zu den Themen Identität, Antisemitismus und sexualisierte Gewalt. Gemeinsam mit Max Czollek kuratierte er 2022 die vierteilige Reihe 'Lieder für das Jetzt' beim Internationalen Musikfestival Heidelberger Frühling und gab die daraus hervorgegangene Ausgabe 'Lieder' der Zeitschrift Akzente mit heraus. Er unterrichtet an der Hochschule für Musik Hanns Eisler Berlin das Fach Lyrik und ist Mitglied der Coalition for Pluralistic Public Discourse (CPPD). WIEDERGUTMACHUNGSJUDE ist sein Debüt.
Rezensionen

Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension

Tief beeindruckt zeigt sich Rezensentin Insa Wilke von Daniel Arkadij Gerzenbergs Gedichtband. Der Autor arbeitet darin, führt Wilke aus, in autobiografischer Manier eine Missbrauchsgeschichte auf, Täter ist ein Kinderarzt, dessen bildungsbürgerlicher Philosemitismus mit der Tat in einen Zusammenhang gesetzt wird. Es geht primär nicht um Rache, sondern um Heilung, erläutert die Rezensentin, und sie zeichnet nach, wie Gerzenberg in durchaus klassischer Manier das Thema dramaturgisch durcharbeitet, begonnen bei der Familien- und Traumageschichte über die Missbrauchsvorbereitungen und -handlungen des Arztes bis hin zu den Folgen und Heilungsversuchen. Zweifellos geht es, meint Wilke, zunächst einmal um ein individuelles Schicksal, in dem jedoch gleichzeitig etwas Allgemeineres angelegt ist. Die Rezensentin verweist in diesem Zusammenhang auf die "Jerusalemer Erklärung zum Antisemitismus", deren Einsatzpunkt sie mit Gerzenbergs Lyrik verknüpft. Im Weiteren beschreibt sie die sprachlichen und auch schriftbildlichen Strategien des Autors und nennt als mögliche Brüder und Schwestern im Geiste Senthuran Varatharajah und Claudia Rankine.

© Perlentaucher Medien GmbH

Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 03.01.2024

Elend und Doppelmoral
In Daniel Arkadij Gerzenbergs Gedichtband „Wiedergutmachungsjude“ wird ein jüdischer Junge missbraucht – und das Verbrechen zum Symptom deutscher Schuldbewältigung.
„Mein Gedicht ist mein Messer“ hieß in den Sechzigerjahren eine Lyrik-Anthologie. Das klang immer etwas nach Papiertiger. Jetzt ist ein Buch erschienen, das tatsächlich zu den wehrhaften zählt: die lyrische Montage „Wiedergutmachungsjude“, das in vielerlei Hinsicht enorm starke literarische Debüt des Autors und Pianisten Daniel Arkadij Gerzenberg, der unter anderem an der Universität der Künste in Berlin Liedinterpretation lehrt.
Es handelt vom seelischen und sexuellen Missbrauch des autobiografischen Ich durch seinen Kinderarzt. Die Motivation der Taten verbindet der Text ausdrücklich und motivisch mit dem bildungsbürgerlich getriebenen Philosemitismus des Arztes. „DER ANGEKLAGTE“, dessen Name geschwärzt ist, „WIRD DESWEGEN IN LYRIK EINGESPERRT.“ Das lyrische Gerichtsverfahren, zu dem Leserinnen und Leser als Zuschauer eingeladen werden, ist jedoch weniger Racheakt als Teil eines Heilungsprozesses: „Ein Stift eine / Krücke“, schreibt Gerzenberg. Und: „ich werde die / wunden meiner seele / untersuchen und / buch führen für die / die nicht verstehen“.
Aufgebaut ist dieses Gedächtnisprotokoll eigentlich wie ein klassisches Drama: Vorbereitung, Zuspitzung, Auflösung. Der Auftakt startet in der Gegenwart, die Szene ist klug gewählt: eine öffentliche Toilette. Einerseits in der Literaturgeschichte ein Ort, der sofort eine Note von Sex, Elend und gesellschaftlicher Doppelmoral setzt. Andererseits hier auch: die Öffentlichkeit als Kloake. Es ist keine Selbstverständlichkeit, dass dieses Ich den Blick heben kann und in sich selbst ein Gegenüber findet.
Von da geht es in die Erinnerung und über sie hinaus, weit vor der Geburt des Ich in Hamburg 1991 als Sohn jüdischer Eltern, die kurz vorher als „Kontingentflüchtlinge“ aus der Sowjetunion nach Deutschland eingewandert sind und sich in den kommenden Jahren als Musiker etablieren. Die eigene transgenerationelle Versehrtheit und den überlebensnotwendigen Leistungsdruck geben diese Eltern an den Sohn weiter, den sie ins „übehaus“ einsperren, auf das die Klimax des ersten Teils zuläuft. Der Daniel dieses Textes muss wie einst die Mutter mit nur fünf Jahren die Kindheit gegen die Karriere eintauschen. Ausbruchsversuche scheitern und wenden sich ins Selbstzerstörerische. In diese Konstellation dringt der spätere Täter, der Kinderarzt der Familie. Der zweite Teil des Textes handelt von seiner geduldigen Vorbereitung des Missbrauchs, den er vollzieht, als Daniel siebzehn Jahre alt, einsam und bedürftig ist, er handelt auch von den Reaktionen der Behörden, die eine Schuldumkehr betreiben, und er handelt von den schlimmen Folgen für Daniels Leben.
Im dritten Teil helfen Freundschaften und endlich auch die seriöse Zuwendung erwachsener Personen dem Ich, Gestalt anzunehmen. Auch die koboldhaft und wirkungsvoll als Orakel auftretende Lyrik trägt dazu bei: „ICH FRAGE LYRIK / KANNST DU WUT / SAGT LYRIK / KANNST DU GEDULD“. So münden die erzählerische Bewegung und die Komposition der Motive in die Möglichkeit dieses schmalen Bandes, dem als Kunstwerk gelingt, diskret zu bleiben und doch direkt Kritik zu üben.
Daniel Arkadij Gerzenbergs Debüt bezeugt einen Einzelfall, aber es legt ein strukturelles Versagen des staatlichen Schutzversprechens frei. Bei einem Auftritt im Berliner Brecht-Haus erklärte der Autor: Die deutschen Gesetze schützten die Opfer von sexuellem Missbrauch und sexueller Gewalt nicht, weil sie die Täterstrategien nicht berücksichtigen und auch nicht die psychischen Mechanismen, die bei einem Opfer von sexuellem Missbrauch ablaufen.
Aber Gerzenberg geht weiter. Liest man etwa die in Hinblick auf einen gesellschaftlichen Frieden konstruktive „Jerusalemer Erklärung zum Antisemitismus“ vergleichend mit den beiden Entschließungsanträgen zum Schutz jüdischen Lebens in Deutschland, die von Ampel- und Unionsfraktionen am 9. November 2023 dem Bundestag vorgelegt wurden, so kommt einem unweigerlich in den Sinn, worauf Daniel Arkadij Gerzenbergs Titel anspielt.
Mit dem Begriff „Wiedergutmachungsjude“ bezieht er sich auf den Soziologen Y. Michal Bodemann, dessen Kritik der deutschen Erinnerungskultur der Autor Max Czollek als „Gedächtnistheater“ populär gemacht hat. Bei Gerzenberg geht es um zwei Formen der Wiedergutmachungsrhetorik als Teil von Verdrängungs- und Verschiebungsstrategien angesichts nicht wiedergutzumachender Taten: die den Juden gegenüber, um sich mit der Kontinuität von Antisemitismus nicht auseinandersetzen zu müssen, und die des Arztes, um sich seiner Tat nicht stellen zu müssen.
Die gesellschaftliche und politische Brisanz der Verzahnung von deutscher Schuldbewältigung und sexuellem Missbrauch, von Mord und lüsterner Begierde, von Täterstrategien der Manipulation, Verschiebung und Leugnung und den Konsequenzen für Opfer und Fragen der Gerechtigkeit, liegt auf der Hand.
Dieser ganz große gegenwärtige Kontext kommt einem bei der Lektüre von „Wiedergutmachungsjude“ durch die drastische Dramaturgie des Textes in den Sinn. Ohne die literarische Qualität dieser schmalen lyrischen Montage von autobiografischem Bericht, Behördenbriefen, Aussagen des Täters und essayistisch-informativen Passagen, psychotherapeutischen Wissens, bliebe auch sie papieren. Wie zeigt sich diese Qualität?
Gerzenberg verfügt über eine Begabung für einfache Bilder und Bildfolgen. Dazu gehören das „übehaus“, in dem man schon akustisch Ungutes mitschwingen hören kann, dazu gehört das Wagnis, allein durch eine schnell springende Motivfolge (Zucker – Zähne – Fehler – Fremde – Diebstahl – Strafe – Verrat) die ganze familiär sich vererbende Bürde aufzurufen.
Dazu gehört aber auch, im Motiv der Beschneidung die körperliche, psychische und ästhetische Erfahrung zu überblenden und es durch die beschnittenen Textränder sogar zu visualisieren. Die Literarizität des Textes zeigt sich außerdem durch den Rhythmus des Schriftbildes und die gezielte Setzung von so kleinen, gemeinen, ineinander gespielten Wörtchen wie „hihi“, „hey“ und „bäm“, die das antisemitisch Böse in den Text holen, um dann von einer Phrase gestoppt und eingefroren zu werden: „das erschloss sich mir emotional nicht ganz“.
An welche Wahlverwandten denkt man angesichts dieses Werkes? An Senthuran Varatharajahs konsequenten Umgang mit der Gewalt der Grammatik. An Claudia Rankines Evidenz herstellende poetischen Berichte. An all die Schreibenden, die Schrift- und Tonbilder in Seelenbilder verwandelt haben, all jene, die dokumentarische Dichtung in absoluten Räumen der Gewalt, wie die Kulturwissenschaftlerin Iris Därmann es nennt, in eine Möglichkeit verwandelt haben, Widerstand zu leisten und ihre Souveränität zu verteidigen oder wiederherzustellen.
Es könnte hier der Einwand kommen, „Wiedergutmachungsjude“ übe durch seine Setzungen stilistisch selbst Gewalt aus. Dem kann man entgegnen: Das ist ein Missverständnis. Hier ist die Erfahrung von Gewalt, und zwar auch die durch Unterlassung von Hilfe, in den Stil eingegangen und verweist in einer dialektischen Bewegung auf eine Fragilität, die in einem langen Prozess der Auseinandersetzung angenommen und integriert werden konnte. Alleingelassen wurde das Kind, der Junge, der Erwachsene in diesem Text und wohl auch außerhalb von ihm. Man hat ihn nicht anhören wollen.
INSA WILKE
Dokumentarische
Dichtung als Versuch,
Widerstand zu leisten
Daniel Arkadij Gerzenberg: Wiedergutmachungsjude. Matthes & Seitz Berlin, Berlin 2023, 129 Seiten,
12 Euro.
Wiedergutmachungsrhetorik angesichts nicht wiedergutzumachender Taten: Stolpersteine im ehemaligen jüdischen Viertel Hamburgs.
Foto: Lars Berg / imago
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