Protokoll eines Missbrauchs, Dokumentation eines Heilungsprozesses - als Verkörperung der Migration unter sowjetischen Erziehungsmethoden, einer Kultur des Schweigens und elterlichem Erwartungsdruck im Übehaus aufgewachsen, wo der Traum, Pianist zu werden, vom Wunsch abgelöst wird, den Steinway-Flügel zu zertrümmern, probiert sich das autofiktionale lyrische Ich an Rebellion - sei es durch Ladendiebstahl, sei es durch Sex mit einer Gojte. Vermittler zwischen familiären Ansprüchen und jugendlichem Zorn wird ihm dabei der Kinderarzt, der sich über Jahre zum immer wichtigeren Teil in Daniels Leben macht, bis schließlich zu jener Nacht, in der »alles an freundschaft und poesie das zwischen uns lebt« infrage gestellt wird. Daniel Arkadij Gerzenberg erzählt in Versen voll bestechender Offenheit davon, wie sich jemand das ihm entgegengebrachte Vertrauen zunutze macht, davon, wie es ist, wenn plötzlich nichts mehr - nicht die Eltern, die berufliche Laufbahn, die eigene Jüdischkeit, alles, was man liebt - unbelastet ist und frei von »seinem blick«, vor allem aber davon, wie Literatur zum Richterhammer werden kann, der ins Recht setzt, was die Wirklichkeit verwehrt.
Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
Tief beeindruckt zeigt sich Rezensentin Insa Wilke von Daniel Arkadij Gerzenbergs Gedichtband. Der Autor arbeitet darin, führt Wilke aus, in autobiografischer Manier eine Missbrauchsgeschichte auf, Täter ist ein Kinderarzt, dessen bildungsbürgerlicher Philosemitismus mit der Tat in einen Zusammenhang gesetzt wird. Es geht primär nicht um Rache, sondern um Heilung, erläutert die Rezensentin, und sie zeichnet nach, wie Gerzenberg in durchaus klassischer Manier das Thema dramaturgisch durcharbeitet, begonnen bei der Familien- und Traumageschichte über die Missbrauchsvorbereitungen und -handlungen des Arztes bis hin zu den Folgen und Heilungsversuchen. Zweifellos geht es, meint Wilke, zunächst einmal um ein individuelles Schicksal, in dem jedoch gleichzeitig etwas Allgemeineres angelegt ist. Die Rezensentin verweist in diesem Zusammenhang auf die "Jerusalemer Erklärung zum Antisemitismus", deren Einsatzpunkt sie mit Gerzenbergs Lyrik verknüpft. Im Weiteren beschreibt sie die sprachlichen und auch schriftbildlichen Strategien des Autors und nennt als mögliche Brüder und Schwestern im Geiste Senthuran Varatharajah und Claudia Rankine.
© Perlentaucher Medien GmbH
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