Jutta Reichelt erzählt in ihrem schmalen, aber gewichtigen Roman (an dem sie gut sechs Jahre arbeitete) ganz unaufgeregt, fast beiläufig von Menschen, die sich oder anderen keine Auskunft geben, keine Antwort geben können - über sich selbst. Weil sie ihre eigene Geschichte nicht kennen. Weil ihnen die Worte fehlen oder weil sie den erlebten Schrecken niemandem zumuten wollen.
Jutta Reichelt: eine einfühlsame, eine "hintergründige" Wahrnehmerin. Eine Erzählerin mit Tiefgang. Und trotzdem nicht "schwer". Und ja doch: eine richtige literarische Entdeckung.
Jutta Reichelt: eine einfühlsame, eine "hintergründige" Wahrnehmerin. Eine Erzählerin mit Tiefgang. Und trotzdem nicht "schwer". Und ja doch: eine richtige literarische Entdeckung.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 08.03.2016Wenigstens nicht untreu
Jutta Reichelt bittet zur Familienaufstellung
Katharina und Christoph sind seit Jahren ein Paar, gerade haben sie ihr kleines Wohnhaus in einem Bremer Arbeiterviertel renoviert. Katharina ist Schriftstellerin und arbeitet nebenher in einem Antiquariat; Christoph ringt mit dem Thema seiner kulturwissenschaftlichen Doktorarbeit, hat eine Dauerkarte für das Weserstadion und kümmert sich liebevoll um seinen kleinen Neffen Finn. Alles könnte behaglich so weitergehen, mit gutem Essen beim Italiener um die Ecke und mit kleinen Sticheleien zwischen Freundinnen, die ihre Lebensentwürfe - Kinder oder nicht - vergleichen.
Eines Tages jedoch kommt Christoph nicht nach Hause und schickt stattdessen eine rätselhafte SMS: Katharina solle sich bitte keine Sorgen machen, aber er habe sich "idiotisch in eine Sache verrannt". Wenig beruhigend bleibt der Nachsatz, dass er weder kriminell noch spielsüchtig oder untreu geworden sei. Das lässt wenig Möglichkeiten offen; Katharinas wälzt sie unablässig hin und her.
Jutta Reichelt schildert eindringlich Katharinas Verwirrung und deren Versuche, angesichts des Geheimnisvollen einen analytisch kühlen Kopf zu bewahren. Auch wenn er nie in die Ich-Perspektive wechselt, liest sich der Roman über weite Strecken wie ein intimes Tagebuch. Alles wird aus Katharinas Perspektive geschildert, immer im Präsens und oft mit größter Detailgenauigkeit: "Sie schreibt mit großen Druckbuchstaben Christophs Namen und macht ein rechteckiges Kästchen um die Buchstaben." So ähnlich lernt man es in Kursen zum literarischen Schreiben, und auch damit kennt sich Jutta Reichelt aus, die seit langem eine Schreibwerkstätte leitet.
So ist denn auch in ihrem Roman alles fein durchdacht, aufeinander abgestimmt, klug komponiert. Liegt es vielleicht sogar an dieser wohlkalkulierten Struktur, dass keine Spannung aufkommen mag, dass die Abgründe hinter dieser handwerklich perfekten Oberfläche eher seicht als tragisch erscheinen?
Christoph kommt nach Hause zurück, und allmählich begreift Katharina, dass es in der Familie ihres Partners ein verdecktes Geheimnis gibt. Alte Familienfotos werden mit der Lupe untersucht, Christophs Eltern und seine Schwester, Finns Mutter, beobachtet und befragt, Reisen ins Ungewisse unternommen. In seinem letzten Drittel liest sich der Roman fast wie eine erzählerische Umsetzung des Konzepts der Familienaufstellung: Geheimnisse gelangen ans Tageslicht, indem spannungsvolle Konstellationen sichtbar gemacht werden.
Ähnlich scheint Jutta Reichelt ihre Poetik zu verstehen; geduldig begleitet sie ihre Protagonisten auf der Reise in die familiäre Vergangenheit. Und Katharina "erinnert sich an die Prognose ihrer Nachbarin, dass es immer gut wäre, wenn solche alten Geschichten ans Licht kämen, aber nicht für alle in der gleichen Weise. Für Christoph ist es gut, denkt Katharina. Und dass sie die Geschichte aufschreiben wird." So schließt sich der Kreis; Literatur wird zur etwas plakativen Lebenshilfe. Mit weniger Programmatik wäre der Roman runder, lebendiger und anrührender geworden.
SABINE DOERING.
Jutta Reichelt: "Wiederholte Verdächtigungen". Roman.
Klöpfer und Meyer Verlag, Tübingen 2015. 182 S., geb., 20,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Jutta Reichelt bittet zur Familienaufstellung
Katharina und Christoph sind seit Jahren ein Paar, gerade haben sie ihr kleines Wohnhaus in einem Bremer Arbeiterviertel renoviert. Katharina ist Schriftstellerin und arbeitet nebenher in einem Antiquariat; Christoph ringt mit dem Thema seiner kulturwissenschaftlichen Doktorarbeit, hat eine Dauerkarte für das Weserstadion und kümmert sich liebevoll um seinen kleinen Neffen Finn. Alles könnte behaglich so weitergehen, mit gutem Essen beim Italiener um die Ecke und mit kleinen Sticheleien zwischen Freundinnen, die ihre Lebensentwürfe - Kinder oder nicht - vergleichen.
Eines Tages jedoch kommt Christoph nicht nach Hause und schickt stattdessen eine rätselhafte SMS: Katharina solle sich bitte keine Sorgen machen, aber er habe sich "idiotisch in eine Sache verrannt". Wenig beruhigend bleibt der Nachsatz, dass er weder kriminell noch spielsüchtig oder untreu geworden sei. Das lässt wenig Möglichkeiten offen; Katharinas wälzt sie unablässig hin und her.
Jutta Reichelt schildert eindringlich Katharinas Verwirrung und deren Versuche, angesichts des Geheimnisvollen einen analytisch kühlen Kopf zu bewahren. Auch wenn er nie in die Ich-Perspektive wechselt, liest sich der Roman über weite Strecken wie ein intimes Tagebuch. Alles wird aus Katharinas Perspektive geschildert, immer im Präsens und oft mit größter Detailgenauigkeit: "Sie schreibt mit großen Druckbuchstaben Christophs Namen und macht ein rechteckiges Kästchen um die Buchstaben." So ähnlich lernt man es in Kursen zum literarischen Schreiben, und auch damit kennt sich Jutta Reichelt aus, die seit langem eine Schreibwerkstätte leitet.
So ist denn auch in ihrem Roman alles fein durchdacht, aufeinander abgestimmt, klug komponiert. Liegt es vielleicht sogar an dieser wohlkalkulierten Struktur, dass keine Spannung aufkommen mag, dass die Abgründe hinter dieser handwerklich perfekten Oberfläche eher seicht als tragisch erscheinen?
Christoph kommt nach Hause zurück, und allmählich begreift Katharina, dass es in der Familie ihres Partners ein verdecktes Geheimnis gibt. Alte Familienfotos werden mit der Lupe untersucht, Christophs Eltern und seine Schwester, Finns Mutter, beobachtet und befragt, Reisen ins Ungewisse unternommen. In seinem letzten Drittel liest sich der Roman fast wie eine erzählerische Umsetzung des Konzepts der Familienaufstellung: Geheimnisse gelangen ans Tageslicht, indem spannungsvolle Konstellationen sichtbar gemacht werden.
Ähnlich scheint Jutta Reichelt ihre Poetik zu verstehen; geduldig begleitet sie ihre Protagonisten auf der Reise in die familiäre Vergangenheit. Und Katharina "erinnert sich an die Prognose ihrer Nachbarin, dass es immer gut wäre, wenn solche alten Geschichten ans Licht kämen, aber nicht für alle in der gleichen Weise. Für Christoph ist es gut, denkt Katharina. Und dass sie die Geschichte aufschreiben wird." So schließt sich der Kreis; Literatur wird zur etwas plakativen Lebenshilfe. Mit weniger Programmatik wäre der Roman runder, lebendiger und anrührender geworden.
SABINE DOERING.
Jutta Reichelt: "Wiederholte Verdächtigungen". Roman.
Klöpfer und Meyer Verlag, Tübingen 2015. 182 S., geb., 20,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Eigentlich macht Jutta Reichelt in ihrem neuen Roman doch alles richtig, seufzt Rezensentin Sabine Doering, Doch trotz größtmöglicher Intimität und Detailgenauigkeit dieser viele Abgründe offenlegenden Familiengeschichte will bei der Kritikerin keine Spannung aufkommen. Zu glatt und perfekt konstruiert erscheint ihr diese Familienaufstellung, in der Protagonistin Katharina mit ihrem Ehemann dessen geheimnisvolle Familiengeschichte aufarbeitet. Leider gerät das ein wenig zur "plakativen", aber wenig mitreißenden Lebenshilfe, klagt die Rezensentin.
© Perlentaucher Medien GmbH
© Perlentaucher Medien GmbH
"Ein eindringlich erzählter, dramaturgisch fesselnder und
wirklich kluger Roman der Bremer Autorin Jutta Reichelt:
Sie entwickelt darin ein Spiel vom Fragen, das Erwartungen,
Vermutungen, Zuschreibungen der Figuren (als
auch des Lesers) ein ums andere Mal gekonnt unterläuft.
Die verblüffend vielschichtigen Mutmaßungen über
Christoph setzen eine Geschichte in Gang, die den
Roman zu einer so subtilen wie überzeugenden Lesefreude
macht."
Hendrik Werner, Kulturredakteur des Weser-Kuriers
"Aus der Tragik schlüpft bei ihr der Witz!"
Herta Müller in ihrer Laudatio auf Jutta Reichelt zum Würth-Literaturpreis
wirklich kluger Roman der Bremer Autorin Jutta Reichelt:
Sie entwickelt darin ein Spiel vom Fragen, das Erwartungen,
Vermutungen, Zuschreibungen der Figuren (als
auch des Lesers) ein ums andere Mal gekonnt unterläuft.
Die verblüffend vielschichtigen Mutmaßungen über
Christoph setzen eine Geschichte in Gang, die den
Roman zu einer so subtilen wie überzeugenden Lesefreude
macht."
Hendrik Werner, Kulturredakteur des Weser-Kuriers
"Aus der Tragik schlüpft bei ihr der Witz!"
Herta Müller in ihrer Laudatio auf Jutta Reichelt zum Würth-Literaturpreis