Im Unterschied zu den Sechzigern haben die siebziger Jahre keine gute Presse. Die Sechziger gelten als cool und heroisch, sie tragen das Gesicht von John F. Kennedy und den Sound von Miles Davis. Die Männer fuhren schnell und bewegten sich sparsam, die Frauen waren intellektuell und trugen Mähne. Alles war noch auf Anfang gestellt, alles war vintage. Die Siebziger stehen im Ruf der Wiederholung und im Zeichen der Dekadenz, sie waren zu bunt, zu laut, zu formlos. In Deutschland mündeten sie in die Katastrophe der RAF-Morde, international in die letzte, harte Phase des Kalten Krieges. Ästhetisch hinterließen sie Betonwüsten, bildungspolitisch die reformierte Massenuniversität. Ihr Farbspektrum war nicht besser als ihr politisches und moralisches Design. Es ist nicht leicht, die Siebziger zu mögen. Außer wenn man sie intensiv erlebt hat und auf dem Weg war, ein Intellektueller zu werden.
Perlentaucher-Notiz zur NZZ-Rezension
Hans Ulrich Gumbrecht staunt nicht schlecht, wie die "Dysphonie" der Grabenkämpfe linker Splittergruppen und die Exzesse ideologischer Orthodoxie der Siebziger bei Ulrich Raulff im Rückblick zu einer Epoche intellektueller Intensität und des "wilden" Lesens werden. Gumbrecht schiebt das auf die Distanz, die, so schreibt er, drastische Ironie vermeidet, aber auch die Vernunft historischer Interpretationen. So vorbereitet kann der Rezensent das Buch genießen, kann Raulffs Kontrastierung der Frankfurter Schule mit der intellektuellen Welt von Paris folgen, sich die Porträts von Roland Barthes und Deleuze zu Gemüte führen und sogar das herbstliche Frankfurt mit Raulff am "roten" Büchertisch mit einiger Wehmut betrachten.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 23.09.2014Es ging doch mindestens um alles
Als Begriffe ernst genommen wurden, Roland Barthes elegante Damen faszinierte und man noch
mit heißen Ohren las: Ulrich Raulff erinnert an die Siebzigerjahre zwischen Marburg und Paris
VON STEPHAN SPEICHER
Ein Mann, Ende fünfzig wohl, ist nach Marburg zurückgekehrt, wo er studiert hatte. Er lässt sich treiben, überall lagert Erlebtes „in dichten Schichten“, er horcht seiner Studentenzeit nach. „Aber in mir rührte sich nichts. Kein Funkenflug aus der Vergangenheit, kein Flirt mit der Erinnerung.“ Dann aber hört er eine Art „Buschtrommel“, die Ruderern den Takt schlägt. Ein Boot schiebt sich die Lahn herauf, die dem Beobachter plötzlich wie ein Nebenfluss des Kongo erscheint – Herz der Finsternis. Er weiß wieder, wer und wo er ist. „Nur die Zeit hatte sich verändert und mit ihr der Stil des Lebens.“ Wie war es einmal gewesen? Wild offenbar, aber auch stammeshaft.
Mit dieser schönen Geschichte setzt Ulrich Raulff ein, in seinem „Wiedersehen mit den Siebzigern“. Über diese Zeit Auskunft zu geben, ist Raulff berufen wie kein anderer. 1950 geboren, hat er in den Siebzigern studiert, er hat als Übersetzer, Herausgeber und Autor geholfen, die Stars der Zeit, die französischen Theoretiker, in Deutschland zu verbreiten, er arbeitete wissenschaftlich und publizistisch, wurde Feuilletonchef der Frankfurter Allgemeinen, später leitender Redakteur der Süddeutschen; seit 2004 ist er Direktor des Deutschen Literaturarchivs Marbach. Raulff ist ein Mann von stupender Belesenheit, aufgeräumt im Kopf und auch von aufgeräumter Stimmung, vor allem erzählt er großartig.
Was macht die Siebzigerjahre in Raulffs Augen aus? 68, das liegt hinter ihm, die Strahlkraft des Marxismus ist schon abgedämpft. Ein Transparent in Marburg, dem roten Marburg – im Rötegrad nur von wenigen Unis übertroffen – forderte „Marx an die Uni – Deppe auf H4“. Das war schon Schwundstufe, wenn Studenten für Ihren Lieblingslehrer Deppe die Professur mit der besten materiellen Ausstattung forderten. Doch was weiterlebt, das ist das Interesse an der Theorie. Man glaubte „tatsächlich noch an den Wert von Begriffen und ihre Bedeutung für das Leben“, in den Diskussionen „ging es noch um mindestens alles“.
Und es wurde gelesen und gelesen. Nicht von allen selbstverständlich, es ist für viele die Zeit der großen Abschlaffe. May Spills Film „Zur Sache Schätzchen“, gehörte zum ständigen Repertoire aller Programmkinos. Aber Raulff schreibt keine Sozialgeschichte, er interessiert sich für die Intellektuellen. Die haben noch einmal eine große Zeit. Belesenheit und Bücherbesitz verschaffen Prestigegewinne, speziell bei Frauen, „denen wir mit Geist imponierten“. Alle Bekannten Raulffs bauten ihre individuellen Bibliotheken auf, in denen dann immer dieselben Titel standen.
Das war wohl das Stammeshafte. Und was war das Wilde? Die theoretischen Welten, in denen Raulff sich tummelt, werden nicht mehr von der Frankfurter Schule bestimmt, es sind die wenig schulmäßigen französischen Denker, die ihn faszinieren: Barthes, Foucault, Deleuze, Serres. In Deutschland wirken sie neu, fremdartig und gefährlich. Auch im Rückblick, gesteht Raulff, sei es nicht leicht, ihren Reiz zu beschreiben, „oft blieben sie dann noch unverständlich, wenn man sie unter Mühen ins Deutsche gebracht hatte“. Rechts des Rheins wurde regelmäßig ihr Irrationalismus beklagt und die davon ausgehende politische Gefahr, nicht von Dunkelmännern, sondern von Köpfen wie Jean Améry oder Alfred Schmidt, der die Tradition der kritischen Theorie verteidigte.
Raulff ging nach Paris, es muss seine beste Zeit gewesen sein. Er beschreibt sich selbst als ungelenk, so wie sich Französinnen aus guter Familie einen deutschen Philosophen vorstellten. Aber er lernte die bewunderten Männer kennen, und stellte sich als Übersetzer und Herausgeber in den Dienst ihres Denkens. Wenn er jetzt zu ihnen zurückkehrt, so nicht, um noch einmal ihre Lehren zu resümieren, sondern um den Glanz aufscheinen zu lassen, den sie verbreiteten. Barthes und Foucault widmet er Kürzestportraits von kaum einer Seite Umfang, leicht gestrichelte Skizzen ihre Auftretens und Wirkens. Roland Barthes hielt Vorlesungen, die gesellschaftliche Ereignisse waren, elegante Damen „gewissen Alters“ sicherten sich rechtzeitig die besten Plätze. Er war ein Mann mit Humor und scherzte mit den Zuhörern. Michel Foucault war strenger, „old school“, und sammelte eine andere Gefolgschaft, hier dominierte der asketische Intellektuelle, „unrasiert und schlecht gelüftet“.
Dass Raulffs „Wiedersehen mit den Siebzigern“ so viel Vergnügen macht, liegt wesentlich an seiner Fähigkeit, in wenigen Zeilen Situationen und Charaktere ins Leben zu rufen. Dabei hält er auf scharf geschliffenes Besteck, mit dem sich schneiden lässt, ohne dass es gleich nach Blutbad aussieht. Tatsächlich gehen bei aller Leichtigkeit des Tons die Schnitte gelegentlich recht tief, wenn er Theweleit oder Negt/Kluge (mit ihrem Buch „Geschichte und Eigensinn“) als epigonal abfertigt und über Jakob Taubes und Odo Marquard sagte: „Marquard war Skeptiker und Humorist, Taubes Spieler und Apokalyptiker. Taubes faszinierte, Marquard gefiel.“ Der ihm doch wohl fremde Wolfgang Abendroth, Politologe in Marburg, bekommt dagegen eine vornehme Erinnerung. (Dessen Schüler schneiden schlechter ab.)
Die deutschen Schulen, stumpf und schwerfällig, stoßen Raulff ab. Die Franzosen bewegen ihn ästhetisch wie große Dichtung und Malerei. Michel Serres „berührte mich wie eine Erleuchtung. Wie alle Erleuchtungen hatte auch diese den Charakter der Ahnung, des großen Ungefähren.“ Es hat an diesem Problem auch Raulff als Autor Anteil. Er spricht etwa über den Renegaten als Typus des 20. Jahrhunderts und findet als ein früheres Beispiel Petrus in der Nacht von Gethsemane. Gleich fällt er sich selbst ins Wort: Dessen Opportunismus passe nicht ins Bild. Doch warum streicht er die Assoziation nicht? Weil er es nun mal geschrieben hat, und er sich dem Strom hingeben will. (Opportunismus passt übrigens auch nicht auf Petrus.)
Aber dies und anderes sind kleinere Einwände, Bedenken eines Buchprüfers. Schön bleibt die Erinnerung an eine Zeit des Lesens, die der Theorie solche Bedeutung zumaß. Und geistreich ist die Idee, dass etwas Neues sich ankündigte, dass in der schnellen, fahrigen Lektüre schon das digitale Zeitalter aufleuchtete. Und doch: „Wir lasen nervös, flüchtig, querbeet und nicht wie wir sollten, aber wir lasen mit heißen Ohren.“ Von heute betrachtet lebte da ein altmodisches Bildungsideal. Und wenn so vieles nur gelesen und nicht richtig verstanden wurde, so war es doch ein „klassisches Überforderungsprogramm“, geboren aus dem Glauben, dass es über unserem Horizont etwas gibt, das der Mühe wert ist.
„Wir lasen nervös, flüchtig,
querbeet . . . “
Unter den Zuhörern Michel Foucaults, so Ulrich Raulff, „dominierte der asketische Typ des angehenden Intellektuellen“: Hier das Vorbild.
Foto: ddp images/Jacques Haillot
Ulrich Raulff: Wiedersehen mit den Siebzigern. Die wilden Jahre des Lesens. Klett-Cotta, Stuttgart 2014. 170 Seiten, 17,95 Euro. E-Book 14,99 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Als Begriffe ernst genommen wurden, Roland Barthes elegante Damen faszinierte und man noch
mit heißen Ohren las: Ulrich Raulff erinnert an die Siebzigerjahre zwischen Marburg und Paris
VON STEPHAN SPEICHER
Ein Mann, Ende fünfzig wohl, ist nach Marburg zurückgekehrt, wo er studiert hatte. Er lässt sich treiben, überall lagert Erlebtes „in dichten Schichten“, er horcht seiner Studentenzeit nach. „Aber in mir rührte sich nichts. Kein Funkenflug aus der Vergangenheit, kein Flirt mit der Erinnerung.“ Dann aber hört er eine Art „Buschtrommel“, die Ruderern den Takt schlägt. Ein Boot schiebt sich die Lahn herauf, die dem Beobachter plötzlich wie ein Nebenfluss des Kongo erscheint – Herz der Finsternis. Er weiß wieder, wer und wo er ist. „Nur die Zeit hatte sich verändert und mit ihr der Stil des Lebens.“ Wie war es einmal gewesen? Wild offenbar, aber auch stammeshaft.
Mit dieser schönen Geschichte setzt Ulrich Raulff ein, in seinem „Wiedersehen mit den Siebzigern“. Über diese Zeit Auskunft zu geben, ist Raulff berufen wie kein anderer. 1950 geboren, hat er in den Siebzigern studiert, er hat als Übersetzer, Herausgeber und Autor geholfen, die Stars der Zeit, die französischen Theoretiker, in Deutschland zu verbreiten, er arbeitete wissenschaftlich und publizistisch, wurde Feuilletonchef der Frankfurter Allgemeinen, später leitender Redakteur der Süddeutschen; seit 2004 ist er Direktor des Deutschen Literaturarchivs Marbach. Raulff ist ein Mann von stupender Belesenheit, aufgeräumt im Kopf und auch von aufgeräumter Stimmung, vor allem erzählt er großartig.
Was macht die Siebzigerjahre in Raulffs Augen aus? 68, das liegt hinter ihm, die Strahlkraft des Marxismus ist schon abgedämpft. Ein Transparent in Marburg, dem roten Marburg – im Rötegrad nur von wenigen Unis übertroffen – forderte „Marx an die Uni – Deppe auf H4“. Das war schon Schwundstufe, wenn Studenten für Ihren Lieblingslehrer Deppe die Professur mit der besten materiellen Ausstattung forderten. Doch was weiterlebt, das ist das Interesse an der Theorie. Man glaubte „tatsächlich noch an den Wert von Begriffen und ihre Bedeutung für das Leben“, in den Diskussionen „ging es noch um mindestens alles“.
Und es wurde gelesen und gelesen. Nicht von allen selbstverständlich, es ist für viele die Zeit der großen Abschlaffe. May Spills Film „Zur Sache Schätzchen“, gehörte zum ständigen Repertoire aller Programmkinos. Aber Raulff schreibt keine Sozialgeschichte, er interessiert sich für die Intellektuellen. Die haben noch einmal eine große Zeit. Belesenheit und Bücherbesitz verschaffen Prestigegewinne, speziell bei Frauen, „denen wir mit Geist imponierten“. Alle Bekannten Raulffs bauten ihre individuellen Bibliotheken auf, in denen dann immer dieselben Titel standen.
Das war wohl das Stammeshafte. Und was war das Wilde? Die theoretischen Welten, in denen Raulff sich tummelt, werden nicht mehr von der Frankfurter Schule bestimmt, es sind die wenig schulmäßigen französischen Denker, die ihn faszinieren: Barthes, Foucault, Deleuze, Serres. In Deutschland wirken sie neu, fremdartig und gefährlich. Auch im Rückblick, gesteht Raulff, sei es nicht leicht, ihren Reiz zu beschreiben, „oft blieben sie dann noch unverständlich, wenn man sie unter Mühen ins Deutsche gebracht hatte“. Rechts des Rheins wurde regelmäßig ihr Irrationalismus beklagt und die davon ausgehende politische Gefahr, nicht von Dunkelmännern, sondern von Köpfen wie Jean Améry oder Alfred Schmidt, der die Tradition der kritischen Theorie verteidigte.
Raulff ging nach Paris, es muss seine beste Zeit gewesen sein. Er beschreibt sich selbst als ungelenk, so wie sich Französinnen aus guter Familie einen deutschen Philosophen vorstellten. Aber er lernte die bewunderten Männer kennen, und stellte sich als Übersetzer und Herausgeber in den Dienst ihres Denkens. Wenn er jetzt zu ihnen zurückkehrt, so nicht, um noch einmal ihre Lehren zu resümieren, sondern um den Glanz aufscheinen zu lassen, den sie verbreiteten. Barthes und Foucault widmet er Kürzestportraits von kaum einer Seite Umfang, leicht gestrichelte Skizzen ihre Auftretens und Wirkens. Roland Barthes hielt Vorlesungen, die gesellschaftliche Ereignisse waren, elegante Damen „gewissen Alters“ sicherten sich rechtzeitig die besten Plätze. Er war ein Mann mit Humor und scherzte mit den Zuhörern. Michel Foucault war strenger, „old school“, und sammelte eine andere Gefolgschaft, hier dominierte der asketische Intellektuelle, „unrasiert und schlecht gelüftet“.
Dass Raulffs „Wiedersehen mit den Siebzigern“ so viel Vergnügen macht, liegt wesentlich an seiner Fähigkeit, in wenigen Zeilen Situationen und Charaktere ins Leben zu rufen. Dabei hält er auf scharf geschliffenes Besteck, mit dem sich schneiden lässt, ohne dass es gleich nach Blutbad aussieht. Tatsächlich gehen bei aller Leichtigkeit des Tons die Schnitte gelegentlich recht tief, wenn er Theweleit oder Negt/Kluge (mit ihrem Buch „Geschichte und Eigensinn“) als epigonal abfertigt und über Jakob Taubes und Odo Marquard sagte: „Marquard war Skeptiker und Humorist, Taubes Spieler und Apokalyptiker. Taubes faszinierte, Marquard gefiel.“ Der ihm doch wohl fremde Wolfgang Abendroth, Politologe in Marburg, bekommt dagegen eine vornehme Erinnerung. (Dessen Schüler schneiden schlechter ab.)
Die deutschen Schulen, stumpf und schwerfällig, stoßen Raulff ab. Die Franzosen bewegen ihn ästhetisch wie große Dichtung und Malerei. Michel Serres „berührte mich wie eine Erleuchtung. Wie alle Erleuchtungen hatte auch diese den Charakter der Ahnung, des großen Ungefähren.“ Es hat an diesem Problem auch Raulff als Autor Anteil. Er spricht etwa über den Renegaten als Typus des 20. Jahrhunderts und findet als ein früheres Beispiel Petrus in der Nacht von Gethsemane. Gleich fällt er sich selbst ins Wort: Dessen Opportunismus passe nicht ins Bild. Doch warum streicht er die Assoziation nicht? Weil er es nun mal geschrieben hat, und er sich dem Strom hingeben will. (Opportunismus passt übrigens auch nicht auf Petrus.)
Aber dies und anderes sind kleinere Einwände, Bedenken eines Buchprüfers. Schön bleibt die Erinnerung an eine Zeit des Lesens, die der Theorie solche Bedeutung zumaß. Und geistreich ist die Idee, dass etwas Neues sich ankündigte, dass in der schnellen, fahrigen Lektüre schon das digitale Zeitalter aufleuchtete. Und doch: „Wir lasen nervös, flüchtig, querbeet und nicht wie wir sollten, aber wir lasen mit heißen Ohren.“ Von heute betrachtet lebte da ein altmodisches Bildungsideal. Und wenn so vieles nur gelesen und nicht richtig verstanden wurde, so war es doch ein „klassisches Überforderungsprogramm“, geboren aus dem Glauben, dass es über unserem Horizont etwas gibt, das der Mühe wert ist.
„Wir lasen nervös, flüchtig,
querbeet . . . “
Unter den Zuhörern Michel Foucaults, so Ulrich Raulff, „dominierte der asketische Typ des angehenden Intellektuellen“: Hier das Vorbild.
Foto: ddp images/Jacques Haillot
Ulrich Raulff: Wiedersehen mit den Siebzigern. Die wilden Jahre des Lesens. Klett-Cotta, Stuttgart 2014. 170 Seiten, 17,95 Euro. E-Book 14,99 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 04.10.2014Als das Streunen noch erlaubt war
Ich bin, was ich lese: Ulrich Raulff blickt zurück auf seine Bildungsbiographie und findet sich in Paris bei Barthes und Foucault wieder.
Von Günther Nonnenmacher
Ulrich Raulff, seit zehn Jahren Direktor des Deutschen Literaturarchivs, davor Journalist (unter anderem Feuilletonchef dieser Zeitung), hat 2009 eine große, zu Recht gepriesene Studie über den George-Kreis und sein Nachleben in der Bundesrepublik vorgelegt - methodisch eine exemplarische Zusammenschau von Kultur- und Realgeschichte. Jetzt hat er sich eine Art Capriccio erlaubt, eine autobiographische Bildungsnovelle, die seine Studienjahre umfasst, ihre Orte - den Anfang in Marburg, immer wieder Paris, ein wenig Frankfurt und Berlin, zum Schluss London -, angereichert mit skizzenhaften Porträts der Gelehrten und Lehrer, die er dabei gefunden hat, vor allem die Denker des französischen Strukturalismus: Roland Barthes, Gilles Deleuze, am einflussreichsten Michel Foucault.
Die im engeren Sinne autobiographischen Einsprengsel bleiben dezent und selbstironisch, etwa wenn von "kognitiven und erotischen Verwirrungen" der frühen Studienjahre die Rede ist oder die Herkunftswelt angedeutet wird: Als Schüler gehörte Raulff zu denjenigen, die in der Pause nicht auf dem Schulhof kickten, sondern sich auf ein Pöstchen in der Lehrerbibliothek zurückzogen, aus Angst, sonst von den stärkeren, wilderen Mitschülern verprügelt zu werden. Diese Angst war aber nicht der alleinige Grund für den Rückzug. Raulff, so beschreibt er sich, war von Kind auf ein Lesemensch und Bücherwurm, das Biotop, in dem er sich später (und wohl bis heute) am wohlsten fühlt, sind Bibliotheken und Archive - ein früh vorbestimmter Abenteurer des Geistes.
Die Beschreibungen der deutschen Universitäten und der dort herrschenden Atmosphäre Anfang der siebziger Jahre sind treffend: Der Aufbruch von 1968 hatte sich in der Aufsplitterung marxistischer Gruppen und Grüppchen zu (teilweise heftig konkurrierenden) Orthodoxien festgefahren, unter den Professoren waren noch Anreger der Studentenrevolte, vor allem aber ihre Epigonen tätig; ihre entschiedenen Gegner (damals im "Bund Freiheit der Wissenschaft" organisiert), hat Raulff offenbar nicht getroffen. Die meisten Hochschullehrer versuchten ohnehin mit der Lage irgendwie zurechtzukommen.
Kennzeichnend war, dass viele Professoren (dem Marburger Politologen Wolfgang Abendroth beispielsweise ist ein sympathisches Kurzporträt gewidmet) einen Lebenslauf hatten, der vom Kaiserreich über die Nazi-Zeit und den Krieg bis in die Bundesrepublik reichte - Erfahrungen, die, so oder so, Spuren, teilweise auch Narben hinterlassen hatten.
Und kennzeichnend war weiterhin, dass die meisten von ihnen noch Gelehrte im alten Wortsinn waren, jedenfalls nicht dem heute dominierenden Typus des Forschungs- und Bildungsmanagers entsprachen, der einen Großteil seiner Zeit mit dem Schreiben von Anträgen oder Gutachten, mit der Organisation von Exzellenzclustern und dem Einwerben von Drittmitteln verbringt.
Insofern weht in Raulffs Rückblick für diejenigen, die in den Siebzigern studiert haben, eine nostalgische Melodie durch den Text. Das hat, worauf Raulff nicht näher eingeht, nicht zuletzt damit zu tun, dass Studienordnungen damals noch nicht von minutiös ausgerechneten und "abzuhakenden" Stundenplänen durchgetaktet waren - das späte Stichwort dazu heißt Bologna -, weil sich die alten, traditions- und selbstbewussten Universitäten lange beharrlich weigerten, die von den Wissenschaftsministerien geforderten Studienordnungen zu liefern.
"Wilde Jahre des Lesens" konnte es eben auch deshalb geben, weil die Unis noch eine Art streunendes Studieren zuließen, in dem die Studenten ohne einengende Vorgaben ihre Interessen verfolgen konnten. Das hatte übrigens hohe Nebenkosten, denn diese Art Freiheit war eine Versuchung zum Bummeln, der viele erlagen, oder eine Überforderung der weniger Begabten (oder weniger Interessierten), die zu einer hohen Zahl von Studienabbrechern führte.
Raulff war der Typus des erfolgreichen Streuners (oder, wie man inzwischen lieber sagt: Flaneurs), der sich überall umsah, alles in sich aufsog und dabei seinen eigenen Weg fand. Das lag, wie dieses Buch beschreibt, hauptsächlich an den eindrucksvoll-prägenden Gelehrten und Gestalten, die damals, jeder auf seine Art, in Frankreich den Strukturalismus verkörperten.
Roland Barthes und Michel Foucault widmet Raulff liebevolle, von Anekdoten gespickte Kurzporträts. Was sich im Zuge des Flanierens bei ihm als "Theorie" festgesetzt hat, ist weniger in diesem Buch zu finden, als aus seinen Forschungen über das Nachleben des George-Kreises zu erschließen. Das jetzt vorgelegte Capriccio und das George-Buch zusammengenommen zeigen auf hohem Niveau und gut lesbar, dass und warum heute originelle, bahnbrechende Studien oft außerhalb des universitären Betriebs entstehen.
Ulrich Raulff: "Wiedersehen mit den Siebzigern". Die wilden Jahre des Lesens.
Klett-Cotta Verlag, Stuttgart 2014. 170 S., geb., 17,95 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Ich bin, was ich lese: Ulrich Raulff blickt zurück auf seine Bildungsbiographie und findet sich in Paris bei Barthes und Foucault wieder.
Von Günther Nonnenmacher
Ulrich Raulff, seit zehn Jahren Direktor des Deutschen Literaturarchivs, davor Journalist (unter anderem Feuilletonchef dieser Zeitung), hat 2009 eine große, zu Recht gepriesene Studie über den George-Kreis und sein Nachleben in der Bundesrepublik vorgelegt - methodisch eine exemplarische Zusammenschau von Kultur- und Realgeschichte. Jetzt hat er sich eine Art Capriccio erlaubt, eine autobiographische Bildungsnovelle, die seine Studienjahre umfasst, ihre Orte - den Anfang in Marburg, immer wieder Paris, ein wenig Frankfurt und Berlin, zum Schluss London -, angereichert mit skizzenhaften Porträts der Gelehrten und Lehrer, die er dabei gefunden hat, vor allem die Denker des französischen Strukturalismus: Roland Barthes, Gilles Deleuze, am einflussreichsten Michel Foucault.
Die im engeren Sinne autobiographischen Einsprengsel bleiben dezent und selbstironisch, etwa wenn von "kognitiven und erotischen Verwirrungen" der frühen Studienjahre die Rede ist oder die Herkunftswelt angedeutet wird: Als Schüler gehörte Raulff zu denjenigen, die in der Pause nicht auf dem Schulhof kickten, sondern sich auf ein Pöstchen in der Lehrerbibliothek zurückzogen, aus Angst, sonst von den stärkeren, wilderen Mitschülern verprügelt zu werden. Diese Angst war aber nicht der alleinige Grund für den Rückzug. Raulff, so beschreibt er sich, war von Kind auf ein Lesemensch und Bücherwurm, das Biotop, in dem er sich später (und wohl bis heute) am wohlsten fühlt, sind Bibliotheken und Archive - ein früh vorbestimmter Abenteurer des Geistes.
Die Beschreibungen der deutschen Universitäten und der dort herrschenden Atmosphäre Anfang der siebziger Jahre sind treffend: Der Aufbruch von 1968 hatte sich in der Aufsplitterung marxistischer Gruppen und Grüppchen zu (teilweise heftig konkurrierenden) Orthodoxien festgefahren, unter den Professoren waren noch Anreger der Studentenrevolte, vor allem aber ihre Epigonen tätig; ihre entschiedenen Gegner (damals im "Bund Freiheit der Wissenschaft" organisiert), hat Raulff offenbar nicht getroffen. Die meisten Hochschullehrer versuchten ohnehin mit der Lage irgendwie zurechtzukommen.
Kennzeichnend war, dass viele Professoren (dem Marburger Politologen Wolfgang Abendroth beispielsweise ist ein sympathisches Kurzporträt gewidmet) einen Lebenslauf hatten, der vom Kaiserreich über die Nazi-Zeit und den Krieg bis in die Bundesrepublik reichte - Erfahrungen, die, so oder so, Spuren, teilweise auch Narben hinterlassen hatten.
Und kennzeichnend war weiterhin, dass die meisten von ihnen noch Gelehrte im alten Wortsinn waren, jedenfalls nicht dem heute dominierenden Typus des Forschungs- und Bildungsmanagers entsprachen, der einen Großteil seiner Zeit mit dem Schreiben von Anträgen oder Gutachten, mit der Organisation von Exzellenzclustern und dem Einwerben von Drittmitteln verbringt.
Insofern weht in Raulffs Rückblick für diejenigen, die in den Siebzigern studiert haben, eine nostalgische Melodie durch den Text. Das hat, worauf Raulff nicht näher eingeht, nicht zuletzt damit zu tun, dass Studienordnungen damals noch nicht von minutiös ausgerechneten und "abzuhakenden" Stundenplänen durchgetaktet waren - das späte Stichwort dazu heißt Bologna -, weil sich die alten, traditions- und selbstbewussten Universitäten lange beharrlich weigerten, die von den Wissenschaftsministerien geforderten Studienordnungen zu liefern.
"Wilde Jahre des Lesens" konnte es eben auch deshalb geben, weil die Unis noch eine Art streunendes Studieren zuließen, in dem die Studenten ohne einengende Vorgaben ihre Interessen verfolgen konnten. Das hatte übrigens hohe Nebenkosten, denn diese Art Freiheit war eine Versuchung zum Bummeln, der viele erlagen, oder eine Überforderung der weniger Begabten (oder weniger Interessierten), die zu einer hohen Zahl von Studienabbrechern führte.
Raulff war der Typus des erfolgreichen Streuners (oder, wie man inzwischen lieber sagt: Flaneurs), der sich überall umsah, alles in sich aufsog und dabei seinen eigenen Weg fand. Das lag, wie dieses Buch beschreibt, hauptsächlich an den eindrucksvoll-prägenden Gelehrten und Gestalten, die damals, jeder auf seine Art, in Frankreich den Strukturalismus verkörperten.
Roland Barthes und Michel Foucault widmet Raulff liebevolle, von Anekdoten gespickte Kurzporträts. Was sich im Zuge des Flanierens bei ihm als "Theorie" festgesetzt hat, ist weniger in diesem Buch zu finden, als aus seinen Forschungen über das Nachleben des George-Kreises zu erschließen. Das jetzt vorgelegte Capriccio und das George-Buch zusammengenommen zeigen auf hohem Niveau und gut lesbar, dass und warum heute originelle, bahnbrechende Studien oft außerhalb des universitären Betriebs entstehen.
Ulrich Raulff: "Wiedersehen mit den Siebzigern". Die wilden Jahre des Lesens.
Klett-Cotta Verlag, Stuttgart 2014. 170 S., geb., 17,95 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
»Raulff schaut auf sein Leben zwischen zwanzig und dreißig und skizziert zugleich sein Porträt der siebziger Jahre. ... Raulffs siebziger Jahre sind ein Jahrzehnt der Bücher, der Lektüren, des Erlebens von Denkern und Theorien - ein Zeitvertreib, der hier kaum weniger wild wirkt als die freie Liebe.« Alexander Cammann, Zeit Literatur, Oktober 2014 »Raulff hat sie als geistige Lehrjahre seiner Generation vergegenwärtigt, mit einer Distanz, welche die oft drastische Ironie von Flauberts "Lehrjahren des Herzens" ebenso vermeidet wie die konturierende Vernunft historischer Interpretation oder übergreifender Thesen.« Hans Ulrich Gumbrecht, Neue Zürcher Zeitung, 4.10.2014 »Aus dem Anekdotischen und Persönlichen heraus entsteht so das Bild einer Epoche, die es nicht nur intensiv mit der Theorie, sondern auch noch ausschließlich mit gedruckten Texten zu tun hatte.« Catherine Newmark, Deutschlandradio Kultur, 7.10.2014 »So liest man Ulrich Raulffs Buch über die Siebziger also nicht nur mit Behagen und Genuss, sondern auch mit Gewinn - auf dem Gebiet, auf welchem die postmodernen Siebziger sich austobten, der Theorie.« Michael Rutschky, Die Welt, 27.9.2014 »Über diese Zeit Auskunft zu geben, ist Raulff berufen wie kein anderer. ... Raulff ist ein Mann von stupender Belesenheit, aufgeräumt im Kopf und auch von aufgeräumter Stimmung, vor allem erzählt er großartig. ... Das Raulffs "Wiedersehen mit den Siebzigern" so viel Vergnügen macht, liegt wesentlich an seiner Fähigkeit, in wenigen Zeilen Situationen und Charaktere ins Leben zu rufen.« Stephan Speicher, Süddeutsche Zeitung, 23.9.2014 »Ulrich Raulffs Buch über die siebziger Jahre ist nicht nur der Bericht eines Intellektuellen über seine geistige Entwicklung. Er bietet in nuce auch das Panorama einer Zeit und ihrer Akteure.« Manfred Papst, Neue Zürcher Zeitung am Sonntag, 14.9.2014 »Raulffs Überlegungen über das Lesen geben mehr Einblick in die Mentalitäts- und Zeitgeschichte als so manche historische Abhandlung.« Mithu Sanyal, WDR 5, 22.11.2014 »Die siebziger Jahre sind wieder da: und zwar als "die wilden Jahre des Lesens", als die der Kulturhistoriker Ulrich Raulff sie in seinem ebenso anekdotenreichen wie vergnüglichen und niveauvollen Buch "Wiedersehen mit den Siebzigern" erinnert.« Neue Zürcher Zeitung, 27./28.12.2014 »Nachdenklich und ironisch, gelegentlich lustvoll Widerspruch provozierend.« Guntram Lenz, Mittelhessen, Dezember 2014 »Dass dieser Autor ein Stilist von Graden ist, braucht er nicht mehr zu beweisen: Seine journalistische Brillanz wie seine von einem kühlen Gestaltungswillen geprägte Ästhetisierung der Philologenhochburg im schwäbischen Hinterland, die im Literaturmuseum der Moderne Gestalt gefunden hat, belegen dies zur Genüge. Allein schon aus diesem Grund ist es ein Genuss, diesen intellektuellen Bildungsroman zu lesen.« Bettina Schulte, Badische Zeitung, 12.11.2014 »Raulff liefert das Gedächtnisprotokoll einer Expedition durch die "wilden Jahre des Lesens", wie der Untertitel lautet. ... Raulffs elegante Prosa ist so fesselnd wie ein Campus-Roman, so lustig wie eine Gelehrten-Satire.« Stefan Kister, Stuttgarter Zeitung, 29.9.2014