Napoleon hat abgedankt, das von ihm dominierte Europa muss sich neu aufstellen - doch wie? In Wien versammelt sich der bis dahin größte Kongress der Geschichte und verhandelt über die Zukunft des Kontinentes. Königreiche und Fürstentümer werden vergrößert, verkleinert oder abgeschafft, die Landkarte Europas neu gezeichnet. Bis heute leben wir in einem Europa, das sich auf den Wiener Kongress bezieht. Doch natürlich wird nicht nur verhandelt. King erzählt von den zahllosen Liebschaften und Amouren, die den gekrönten und ungekrönten Teilnehmern oft wichtiger waren, schreibt von den großartigen Bällen und den festlichen Einladungen, bei denen viel mehr Politik gemacht wird als in den trockenen Besprechungen. Aber kein Romanautor hätte sich die Pointe ausdenken können, dass der Kongress unterbrochen werden muss, weil der gefürchtete Napoleon wieder auf der politischen Bühne erscheint und plötzlich alles ganz anders werden könnte, als der tanzende Kongress das geplant hat ...
Perlentaucher-Notiz zur FR-Rezension
Zum Auftakt des Gedenkjahres 2015 nimmt Harro Zimmermann die einschlägigen Erscheinungen zum Wiener Kongress in den Blick. Ausführlich referiert der Rezensent die geschichtlichen Hintergründe und Folgen der Neuordnung Europas, wobei er auf die einzelnen Bücher eher am Rande eingeht. Im Gegensatz zu den eher analytischen Studien von Eberhard Straub und Adam Zamoyski sieht Zimmermann in David King und Thierry Lentz eher "Geschichtserzähler", deren Schilderungen an den handelnden Personen als an trockenen historischen Fakten ausgerichtet ist - im Fall des Wiener Kongresses ein durchaus fruchtbarer Zugang, findet der Rezensent.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 26.11.2014Die Supermacht muss mitspielen wollen
Vor zweihundert Jahren entschieden siegreiche Alliierte schon einmal über das Schicksal der Europäer. Wichtige Neuerscheinungen zum Wiener Kongress zeigen die bis in die Gegenwart reichenden Folgen.
Am Anfang war das Ende Napoleons - zumindest das vorläufige: Es begann mit der größten Feldschlacht der napoleonischen Kriege. Mehr als eine halbe Million Soldaten standen sich Mitte Oktober 1813 gegenüber - aus derart vielen Nationen, dass ihr Kampf als Völkerschlacht in die Geschichte einging. Drei Tage lang beschoss man sich bei Leipzig mit mehr als zweitausend Geschützen - Vorboten der Materialschlachten hundert Jahre später.
Bereits die Kriege Napoleons waren durch ihre Dimensionen Weltkriege - global in der Ausdehnung ihrer Schauplätze bis in die Kolonien hinein, total in ihren Anforderungen an Militär, Wirtschaft und Gesellschaft, schonungslos in ihren Auswirkungen auf Soldaten wie Zivilisten. Kaum ein Historiker hat ihre Geschichte in den letzten Jahren so zu erzählen gewusst wie Adam Zamoyski.
Sein Werk über Napoleons Russlandfeldzug ist bislang unübertroffen. Hier knüpft der Londoner Bestsellerautor nun an. Bei ihm werden nicht nur noch einmal die Schrecken der Gewalt in der Endphase von Napoleons Herrschaft spürbar. Sein Verdienst ist es darüber hinaus, die Monate nach der französischen Niederlage bei Leipzig bis zu Napoleons Abdankung vor allem in einem Aspekt ins kollektive Gedächtnis zurückzuholen: Der Kaiser der Franzosen gab bis zuletzt nicht auf - weder politisch noch auf dem Schlachtfeld. Sein Verhalten nahm erneut etwas vorweg, das eher mit den totalen Kriegen des folgenden Jahrhunderts assoziiert wird: Er führte eine Art Endkampf.
Zamoyski beschreibt, wie Napoleon die letzten Reserven mobilisierte. Dreihunderttausend Soldaten sollten ausgehoben werden. Dazu waren noch jüngere Männer als bislang und Sonderquoten aus den Musterungen weniger berücksichtigter Altersgruppen einzuziehen. Doch mit der Befreiung Deutschlands von französischer Herrschaft schrumpfte nicht nur Napoleons Befehlsbereich, sondern auch die Menge der Soldaten, die er rekrutieren konnte, sowie - für die Kriegführung nicht weniger wichtig - die Zahl der Fabriken, die Munition und Uniformen lieferten. In der Folge verdoppelten sich die Kosten für einen Ersatzsoldaten auf viertausend Francs. Zamoyski berichtet, wie in Gent sogar hundert Seminaristen, die sich auf ihr Priesteramt vorbereiteten, gezwungen wurden, die Reihen von Napoleons Artilleristen aufzufüllen.
Zwar war die französische Armee nach ihrem Desaster in Russland und ihrer Niederlage bei Leipzig nur noch ein Schatten ihrer selbst. Aber Napoleon ging nicht zur Verteidigung über, er griff an. Zamoyski schildert, wie Napoleon am 7. März 1814 bei Craonne die doppelt so starke Armee von Blücher angriff und zurücktrieb, nachdem eine der blutigsten Schlachten der napoleonischen Kriege geschlagen war. Die Franzosen verfolgten die Preußen bis nach Laon, waren jedoch am 10. März nach zwei Tagen erbitterter Kämpfe ihrerseits gezwungen, zurückzuweichen. Zwar vernichtete Napoleon wiederum nur drei Tage später bei Reims ein vorgeschobenes Korps der Russen. Aber nicht nur fehlten ihm zum Weiterkämpfen schlicht die Truppen. Auch der schwindende Kampfgeist seiner Marschälle, wenn sie auf sich alleine gestellt waren, führte schließlich zu einer Serie von militärischen Niederlagen, die Napoleon zur Abdankung zwangen.
Was danach in Wien geschah, wurde von französischen Historikern nicht selten als Erniedrigung Frankreichs bewertet. Aus den Ergebnissen des Wiener Kongresses wurde herausgelesen, dass sein alleiniges Ziel darin bestanden habe, Paris aus der großen Politik zu bannen und von den anderen europäischen Mächten fortan auf das Strengste überwachen zu lassen. Eine Sichtweise, die in den Augen von Thierry Lentz "nicht ganz falsch" ist, aber im richtigen Kontext gesehen werden muss: Nach fünfundzwanzig Kriegsjahren, für die Frankreich nach Meinung der Sieger die Hauptverantwortung trug, habe es nur mehr logisch geschienen, die "Gelüste der Grande Nation" zu zügeln.
Der Direktor der "Fondation Napoléon" in Paris, die sich der Erforschung des französischen Kaiserreichs widmet, erkennt in seiner in Frankreich bereits preisgekrönten Darstellung der Wiener Verhandlungen zugleich ein visionäres Ziel des Kongresses: Man habe Frankreich in seine Grenzen verweisen wollen, ohne es jedoch gänzlich zu zerstören oder seine Vorherrschaft durch eine andere zu ersetzen.
Darauf führt Lentz zurück, dass der Kongress auch an zahlreichen anderen Stellen der Landkarte Korrekturen vornahm, um das Machtgebaren Russlands, Preußens, Österreichs und Englands einzudämmen und ein Gleichgewicht der Kräfte zu erreichen, das auf dem einzigen damals allgemein akzeptierten Prinzip gründete: der monarchischen Legitimität. Lentz dürfte hier mit seinem historischen Urteil richtigliegen, dass die Unterhändler Europas bei anderen Gelegenheiten vor und nach dem großen diplomatischen Treffen 1814/15 mit weit weniger Umsicht und Besonnenheit agiert haben.
Warum sich die innereuropäischen Konflikte des neunzehnten Jahrhunderts nach dem Wiener Kongress nicht wie dann im zwanzigsten Jahrhundert in allgemeinen Kriegen auswuchsen, liest Lentz aus der Geschichte der Diplomatie in Europa seit 1815 ab: Das in Wien ausgehandelte Europäische Konzert versteht er als einen "Sicherheitsrat avant la lettre". Hier dringt Lentz zum Kern seines Gegenstandes vor und fällt ein geradezu zeitloses Urteil mit auch starkem aktuellen Bezug: Funktionieren konnte die neue Sicherheitsarchitektur Europas nur so lange, wie England, die Supermacht jener Zeit, ihre Rolle darin verantwortungsvoll wahrnahm.
Lentz erinnert daran, welch dramatische Folgen es hatte, als sich London "kaltherzig" aus den europäischen Angelegenheiten zurückzog, da diese kaum mehr seine direkten Interessen berührten: Das in Wien mühsam ausgehandelte Gleichgewicht der Mächte geriet ins Wanken. "Das war vor nunmehr einhundert Jahren, und gewiss gibt uns dieses Faktum auch für die Gegenwart zu denken, da sich eine andere Supermacht anzuschicken scheint, ähnlich zu verfahren."
Da kommt Lentz' amerikanischer Kollege David King gerade recht: Er öffnet die Perspektive noch weiter hin zu den internationalen Folgen der Wiener Beschlüsse - sowohl für die damalige Supermacht Großbritannien als auch für die kommende, die Vereinigten Staaten. London hatte bereits in Wien seine Position stärken können. Zahlreiche strategisch bedeutende Inseln, die es sich im Verlauf der napoleonischen Kriege angeeignet hatte, blieben in britischem Besitz. Mit Malta, dem Kap der Guten Hoffnung, Ceylon, Mauritius und den Ionischen Inseln verfügte die Royal Navy nun über wichtige Stützpunkte im Mittelmeer, im Südatlantik und im Indischen Ozean. Dadurch konnte der Seeweg nach Indien abgesichert werden.
Zugleich wird bei King deutlich, wie entscheidend die Ergebnisse von Wien für den weiteren Aufbau des britischen Empire waren: Londons Außenminister hatte mit den gestärkten Niederlanden, Piemont-Sardinien und der neutralen Schweiz einen Ring um Frankreich legen lassen und ebenfalls dazu beigetragen, zugunsten des Mächtegleichgewichts auf dem Kontinent ein stärkeres Preußen zu schaffen. Dies diente nach Kings Analyse den britischen Interessen: Das europäische Festland sollte durch die in Balance gehaltenen Kräfte neutralisiert werden, was der Royal Navy die Konzentration auf die außereuropäische Welt ermöglichte. Das Ergebnis war das größte Imperium, das die Welt bis dahin gesehen hatte.
Für die Vereinigten Staaten wiederum hatte Wien eine indirekte und unerwartete Folge, die King in Erinnerung ruft: Anfang der zwanziger Jahre des neunzehnten Jahrhunderts, als sich mehrere Länder in Südamerika gegen die spanische Herrschaft erhoben, weigerten sich die europäischen Großmächte nicht nur, die neuen revolutionären Regierungen anzuerkennen. Sie drohten ihnen auch, Militärexpeditionen über den Atlantik zu entsenden, um dort Spaniens Autorität wiederherzustellen.
Dies provozierte Washington: Am 2. Dezember 1823 verkündete Präsident Monroe, er werde jeden Einmischungsversuch einer anderen Macht in Südamerika als Ausdruck einer unfreundlichen Haltung gegenüber seinem eigenen Land betrachten. Zwar gibt King selbst zu Bedenken, die Vereinigten Staaten hätten zu diesem Zeitpunkt die europäischen Großmächte nicht ohne die Unterstützung Großbritanniens auf diese Weise herausfordern können - London verfolgte seine eigenen wirtschaftlichen Interessen in der Region und wollte die Ambitionen der konkurrierenden Mächte in Europa durchkreuzen. Aber King betont zu Recht, dass die Monroe-Doktrin ein bedeutender Schritt in einem langwierigen Prozess war, in dessen Verlauf das isolationistische Amerika allmählich eine aktivere Rolle in der internationalen Politik übernahm.
Und Deutschland? Alexandra Bleyer lässt ihre kompakte und einen guten Überblick verschaffende Beschreibung des Systems Metternich im Jahr 1848 enden. Die österreichische Historikerin macht noch einmal die Dynamik dieses Jahres nachvollziehbar: Mit den Revolutionen 1848/49 überwanden im Deutschen Bund die liberalen Kräfte die Karlsbader Beschlüsse und beendeten damit auch die Ordnung Metternichs, der nach England floh. In Frankfurt am Main trat noch im März 1848 mit Zustimmung des Bundestages ein Vorparlament zusammen: Eine Nationalversammlung wurde beschlossen, um eine deutsche Reichsverfassung auszuarbeiten. Sie begann damit im Mai in der Paulskirche.
Wunderbar ergänzt wird Bleyer von Wolf D. Gruner. Der inhaltlich ebenfalls sehr dichte Band des Rostocker Historikers lässt nicht nur die historischen Ereignisse Revue passieren, sondern beleuchtet darüber hinaus ihre Rezeption durch Zeitgenossen und Geschichtsschreibung. Dabei geraten auch neuere Studien in den Blick, die aus der Perspektive moderner internationaler Beziehungen weitere Aspekte des Wiener Kongresses thematisieren: Er war nicht nur der erste internationale Friedenskongress, der humanitäre Fragen diskutierte.
Er bestätigte auch die Zivilrechte der Juden, verdammte den Sklavenhandel und stritt gegen die Verletzung von Autorenrechten durch Raubdrucke - auch dies scheinbar ein Problem, das bis heute historische Konjunkturen erlebt, ähnlich wie die große Frage nach einer dauerhaft tragfähigen Sicherheitsarchitektur in Europa, die sich vor zweihundert Jahren in Wien stellte, dann nach dem Ersten und Zweiten Weltkrieg und nun erneut durch den Krieg in und um die Ukraine.
So ist auch aus dem runden Gedenkjahr des Wiener Kongresses ein Jahr dringlicher Aktualität geworden. Selten dürften Werke zu einem historischen Gegenstand daher mehr zur empfehlen gewesen sein.
THOMAS SPECKMANN.
Alexandra Bleyer: "Das System Metternich". Die Neuordnung Europas nach Napoleon. Primus Verlag, Darmstadt 2014. 160 S., geb., 19,95 [Euro].
David King: "Wien 1814". Von Kaisern, Königen und dem Kongress, der Europa neu erfand. Aus dem Englischen von Helmut Dierlamm, Hans Freundl und Norbert Juraschitz. Piper Verlag, München 2014. 512 S., geb., 29,99 [Euro].
Thierry Lentz: "1815". Der Wiener Kongress und die Neugründung Europas. Aus dem Französischen von Frank Sievers. Siedler Verlag, München 2014. 431 S., Abb., geb., 24,99 [Euro].
Wolf D. Gruner: "Der Wiener Kongress 1814/15". Reclam Verlag, Stuttgart 2014. 261 S., br., 8,- [Euro].
Adam Zamoyski: "1815". Napoleons Sturz und der Wiener Kongress. Aus dem Englischen von Ruth Keen und Erhard Stölting. Verlag C. H. Beck, München 2014. 704 S., Abb., geb., 29,95 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Vor zweihundert Jahren entschieden siegreiche Alliierte schon einmal über das Schicksal der Europäer. Wichtige Neuerscheinungen zum Wiener Kongress zeigen die bis in die Gegenwart reichenden Folgen.
Am Anfang war das Ende Napoleons - zumindest das vorläufige: Es begann mit der größten Feldschlacht der napoleonischen Kriege. Mehr als eine halbe Million Soldaten standen sich Mitte Oktober 1813 gegenüber - aus derart vielen Nationen, dass ihr Kampf als Völkerschlacht in die Geschichte einging. Drei Tage lang beschoss man sich bei Leipzig mit mehr als zweitausend Geschützen - Vorboten der Materialschlachten hundert Jahre später.
Bereits die Kriege Napoleons waren durch ihre Dimensionen Weltkriege - global in der Ausdehnung ihrer Schauplätze bis in die Kolonien hinein, total in ihren Anforderungen an Militär, Wirtschaft und Gesellschaft, schonungslos in ihren Auswirkungen auf Soldaten wie Zivilisten. Kaum ein Historiker hat ihre Geschichte in den letzten Jahren so zu erzählen gewusst wie Adam Zamoyski.
Sein Werk über Napoleons Russlandfeldzug ist bislang unübertroffen. Hier knüpft der Londoner Bestsellerautor nun an. Bei ihm werden nicht nur noch einmal die Schrecken der Gewalt in der Endphase von Napoleons Herrschaft spürbar. Sein Verdienst ist es darüber hinaus, die Monate nach der französischen Niederlage bei Leipzig bis zu Napoleons Abdankung vor allem in einem Aspekt ins kollektive Gedächtnis zurückzuholen: Der Kaiser der Franzosen gab bis zuletzt nicht auf - weder politisch noch auf dem Schlachtfeld. Sein Verhalten nahm erneut etwas vorweg, das eher mit den totalen Kriegen des folgenden Jahrhunderts assoziiert wird: Er führte eine Art Endkampf.
Zamoyski beschreibt, wie Napoleon die letzten Reserven mobilisierte. Dreihunderttausend Soldaten sollten ausgehoben werden. Dazu waren noch jüngere Männer als bislang und Sonderquoten aus den Musterungen weniger berücksichtigter Altersgruppen einzuziehen. Doch mit der Befreiung Deutschlands von französischer Herrschaft schrumpfte nicht nur Napoleons Befehlsbereich, sondern auch die Menge der Soldaten, die er rekrutieren konnte, sowie - für die Kriegführung nicht weniger wichtig - die Zahl der Fabriken, die Munition und Uniformen lieferten. In der Folge verdoppelten sich die Kosten für einen Ersatzsoldaten auf viertausend Francs. Zamoyski berichtet, wie in Gent sogar hundert Seminaristen, die sich auf ihr Priesteramt vorbereiteten, gezwungen wurden, die Reihen von Napoleons Artilleristen aufzufüllen.
Zwar war die französische Armee nach ihrem Desaster in Russland und ihrer Niederlage bei Leipzig nur noch ein Schatten ihrer selbst. Aber Napoleon ging nicht zur Verteidigung über, er griff an. Zamoyski schildert, wie Napoleon am 7. März 1814 bei Craonne die doppelt so starke Armee von Blücher angriff und zurücktrieb, nachdem eine der blutigsten Schlachten der napoleonischen Kriege geschlagen war. Die Franzosen verfolgten die Preußen bis nach Laon, waren jedoch am 10. März nach zwei Tagen erbitterter Kämpfe ihrerseits gezwungen, zurückzuweichen. Zwar vernichtete Napoleon wiederum nur drei Tage später bei Reims ein vorgeschobenes Korps der Russen. Aber nicht nur fehlten ihm zum Weiterkämpfen schlicht die Truppen. Auch der schwindende Kampfgeist seiner Marschälle, wenn sie auf sich alleine gestellt waren, führte schließlich zu einer Serie von militärischen Niederlagen, die Napoleon zur Abdankung zwangen.
Was danach in Wien geschah, wurde von französischen Historikern nicht selten als Erniedrigung Frankreichs bewertet. Aus den Ergebnissen des Wiener Kongresses wurde herausgelesen, dass sein alleiniges Ziel darin bestanden habe, Paris aus der großen Politik zu bannen und von den anderen europäischen Mächten fortan auf das Strengste überwachen zu lassen. Eine Sichtweise, die in den Augen von Thierry Lentz "nicht ganz falsch" ist, aber im richtigen Kontext gesehen werden muss: Nach fünfundzwanzig Kriegsjahren, für die Frankreich nach Meinung der Sieger die Hauptverantwortung trug, habe es nur mehr logisch geschienen, die "Gelüste der Grande Nation" zu zügeln.
Der Direktor der "Fondation Napoléon" in Paris, die sich der Erforschung des französischen Kaiserreichs widmet, erkennt in seiner in Frankreich bereits preisgekrönten Darstellung der Wiener Verhandlungen zugleich ein visionäres Ziel des Kongresses: Man habe Frankreich in seine Grenzen verweisen wollen, ohne es jedoch gänzlich zu zerstören oder seine Vorherrschaft durch eine andere zu ersetzen.
Darauf führt Lentz zurück, dass der Kongress auch an zahlreichen anderen Stellen der Landkarte Korrekturen vornahm, um das Machtgebaren Russlands, Preußens, Österreichs und Englands einzudämmen und ein Gleichgewicht der Kräfte zu erreichen, das auf dem einzigen damals allgemein akzeptierten Prinzip gründete: der monarchischen Legitimität. Lentz dürfte hier mit seinem historischen Urteil richtigliegen, dass die Unterhändler Europas bei anderen Gelegenheiten vor und nach dem großen diplomatischen Treffen 1814/15 mit weit weniger Umsicht und Besonnenheit agiert haben.
Warum sich die innereuropäischen Konflikte des neunzehnten Jahrhunderts nach dem Wiener Kongress nicht wie dann im zwanzigsten Jahrhundert in allgemeinen Kriegen auswuchsen, liest Lentz aus der Geschichte der Diplomatie in Europa seit 1815 ab: Das in Wien ausgehandelte Europäische Konzert versteht er als einen "Sicherheitsrat avant la lettre". Hier dringt Lentz zum Kern seines Gegenstandes vor und fällt ein geradezu zeitloses Urteil mit auch starkem aktuellen Bezug: Funktionieren konnte die neue Sicherheitsarchitektur Europas nur so lange, wie England, die Supermacht jener Zeit, ihre Rolle darin verantwortungsvoll wahrnahm.
Lentz erinnert daran, welch dramatische Folgen es hatte, als sich London "kaltherzig" aus den europäischen Angelegenheiten zurückzog, da diese kaum mehr seine direkten Interessen berührten: Das in Wien mühsam ausgehandelte Gleichgewicht der Mächte geriet ins Wanken. "Das war vor nunmehr einhundert Jahren, und gewiss gibt uns dieses Faktum auch für die Gegenwart zu denken, da sich eine andere Supermacht anzuschicken scheint, ähnlich zu verfahren."
Da kommt Lentz' amerikanischer Kollege David King gerade recht: Er öffnet die Perspektive noch weiter hin zu den internationalen Folgen der Wiener Beschlüsse - sowohl für die damalige Supermacht Großbritannien als auch für die kommende, die Vereinigten Staaten. London hatte bereits in Wien seine Position stärken können. Zahlreiche strategisch bedeutende Inseln, die es sich im Verlauf der napoleonischen Kriege angeeignet hatte, blieben in britischem Besitz. Mit Malta, dem Kap der Guten Hoffnung, Ceylon, Mauritius und den Ionischen Inseln verfügte die Royal Navy nun über wichtige Stützpunkte im Mittelmeer, im Südatlantik und im Indischen Ozean. Dadurch konnte der Seeweg nach Indien abgesichert werden.
Zugleich wird bei King deutlich, wie entscheidend die Ergebnisse von Wien für den weiteren Aufbau des britischen Empire waren: Londons Außenminister hatte mit den gestärkten Niederlanden, Piemont-Sardinien und der neutralen Schweiz einen Ring um Frankreich legen lassen und ebenfalls dazu beigetragen, zugunsten des Mächtegleichgewichts auf dem Kontinent ein stärkeres Preußen zu schaffen. Dies diente nach Kings Analyse den britischen Interessen: Das europäische Festland sollte durch die in Balance gehaltenen Kräfte neutralisiert werden, was der Royal Navy die Konzentration auf die außereuropäische Welt ermöglichte. Das Ergebnis war das größte Imperium, das die Welt bis dahin gesehen hatte.
Für die Vereinigten Staaten wiederum hatte Wien eine indirekte und unerwartete Folge, die King in Erinnerung ruft: Anfang der zwanziger Jahre des neunzehnten Jahrhunderts, als sich mehrere Länder in Südamerika gegen die spanische Herrschaft erhoben, weigerten sich die europäischen Großmächte nicht nur, die neuen revolutionären Regierungen anzuerkennen. Sie drohten ihnen auch, Militärexpeditionen über den Atlantik zu entsenden, um dort Spaniens Autorität wiederherzustellen.
Dies provozierte Washington: Am 2. Dezember 1823 verkündete Präsident Monroe, er werde jeden Einmischungsversuch einer anderen Macht in Südamerika als Ausdruck einer unfreundlichen Haltung gegenüber seinem eigenen Land betrachten. Zwar gibt King selbst zu Bedenken, die Vereinigten Staaten hätten zu diesem Zeitpunkt die europäischen Großmächte nicht ohne die Unterstützung Großbritanniens auf diese Weise herausfordern können - London verfolgte seine eigenen wirtschaftlichen Interessen in der Region und wollte die Ambitionen der konkurrierenden Mächte in Europa durchkreuzen. Aber King betont zu Recht, dass die Monroe-Doktrin ein bedeutender Schritt in einem langwierigen Prozess war, in dessen Verlauf das isolationistische Amerika allmählich eine aktivere Rolle in der internationalen Politik übernahm.
Und Deutschland? Alexandra Bleyer lässt ihre kompakte und einen guten Überblick verschaffende Beschreibung des Systems Metternich im Jahr 1848 enden. Die österreichische Historikerin macht noch einmal die Dynamik dieses Jahres nachvollziehbar: Mit den Revolutionen 1848/49 überwanden im Deutschen Bund die liberalen Kräfte die Karlsbader Beschlüsse und beendeten damit auch die Ordnung Metternichs, der nach England floh. In Frankfurt am Main trat noch im März 1848 mit Zustimmung des Bundestages ein Vorparlament zusammen: Eine Nationalversammlung wurde beschlossen, um eine deutsche Reichsverfassung auszuarbeiten. Sie begann damit im Mai in der Paulskirche.
Wunderbar ergänzt wird Bleyer von Wolf D. Gruner. Der inhaltlich ebenfalls sehr dichte Band des Rostocker Historikers lässt nicht nur die historischen Ereignisse Revue passieren, sondern beleuchtet darüber hinaus ihre Rezeption durch Zeitgenossen und Geschichtsschreibung. Dabei geraten auch neuere Studien in den Blick, die aus der Perspektive moderner internationaler Beziehungen weitere Aspekte des Wiener Kongresses thematisieren: Er war nicht nur der erste internationale Friedenskongress, der humanitäre Fragen diskutierte.
Er bestätigte auch die Zivilrechte der Juden, verdammte den Sklavenhandel und stritt gegen die Verletzung von Autorenrechten durch Raubdrucke - auch dies scheinbar ein Problem, das bis heute historische Konjunkturen erlebt, ähnlich wie die große Frage nach einer dauerhaft tragfähigen Sicherheitsarchitektur in Europa, die sich vor zweihundert Jahren in Wien stellte, dann nach dem Ersten und Zweiten Weltkrieg und nun erneut durch den Krieg in und um die Ukraine.
So ist auch aus dem runden Gedenkjahr des Wiener Kongresses ein Jahr dringlicher Aktualität geworden. Selten dürften Werke zu einem historischen Gegenstand daher mehr zur empfehlen gewesen sein.
THOMAS SPECKMANN.
Alexandra Bleyer: "Das System Metternich". Die Neuordnung Europas nach Napoleon. Primus Verlag, Darmstadt 2014. 160 S., geb., 19,95 [Euro].
David King: "Wien 1814". Von Kaisern, Königen und dem Kongress, der Europa neu erfand. Aus dem Englischen von Helmut Dierlamm, Hans Freundl und Norbert Juraschitz. Piper Verlag, München 2014. 512 S., geb., 29,99 [Euro].
Thierry Lentz: "1815". Der Wiener Kongress und die Neugründung Europas. Aus dem Französischen von Frank Sievers. Siedler Verlag, München 2014. 431 S., Abb., geb., 24,99 [Euro].
Wolf D. Gruner: "Der Wiener Kongress 1814/15". Reclam Verlag, Stuttgart 2014. 261 S., br., 8,- [Euro].
Adam Zamoyski: "1815". Napoleons Sturz und der Wiener Kongress. Aus dem Englischen von Ruth Keen und Erhard Stölting. Verlag C. H. Beck, München 2014. 704 S., Abb., geb., 29,95 [Euro].
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"King liefert eine süffisante Ergänzung zum eigentlich ersten Thema, die ihren Reiz aus vielen kleinen oder größeren Anekdoten zieht.", Mannheimer Morgen, 23.03.2015