Ludwig Hirschfeld (1882-1942) war einer der bekanntesten Publizisten seiner Zeit. Einer jüdischen Industriellenfamilie aus Wien-Leopoldstadt entstammend, interessierte er sich früh für Literatur, Theater und Journalismus. Ab 1906 war er für die "Neue Freie Presse" tätig, 1918 bis 1926 war er Chefredakteur des neu gegründeten Magazins "Die moderne Welt. Illustrierte Halbmonatsschrift für Kunst, Literatur und Mode". Mehr als tausend Artikel zum Wiener Kultur- und Gesellschaftsleben stammten aus seiner Feder, dazu zahlreiche Novellen, Lustspiele und Operetten-Libretti. Hauptthema seiner Feuilletons sind die Veränderungen des urbanen Alltagslebens, von der Jahrhundertwende über die Notzeit des Ersten Weltkriegs bis hin zur Wirtschaftskrise und dem Modernisierungsschub der Zwischenkriegszeit. Über mehr als dreißig Jahre hinweg entstand so ein einzigartiger Kommentar zur Wiener Stadtgeschichte. Die humorvollen, stets tiefgründigen und stilistisch fein geschliffenen Betrachtungen erfreuten sich enormer Popularität. Karl Kraus bezeichnete ihn einmal als "mondänen Causeur, der lachend die Wahrheit sagt". 1938 floh Hirschfeld mit seiner Frau und seinen zwei Kindern nach Frankreich, vier Jahre später wurden sie ins KZ Auschwitz deportiert und dort ermordet. Das Buch veröffentlicht erstmals eine repräsentative Auswahl seiner Feuilletons, im Kontext der Wiener Stadtgeschichte und der bislang weitgehend unbekannten Biografie des Autors. Dieser brachte 1927 seinen Zugang zu Wien mit den ironischen Worten auf den Punkt: "Ich kenne meine Vaterstadt genau, aber ich liebe sie."
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 23.10.2020Bitte links gehen!
Ludwig Hirschfelds Wien-Führer von 1927 in einer neuen Ausgabe
Karl Kraus beschimpfte ihn als "den grauslichsten von allen Wohlstandsplauderern", Felix Salten pries ihn als "Schriftsteller von ausgesprochen journalistischem Temperament". Das Lob wie die Polemik zielten auf denselben Habitus, den der 1882 geborene Ludwig Hirschfeld, Chefredakteur der von Kraus verachteten "Neuen Freien Presse" sowie Verfasser populärer Schauspiele und Erzählungen, im Wien der zehner und zwanziger Jahre verkörperte. Als schriftstellernde Journalisten wurden damals solche Autoren qualifiziert, die sich mit Artikeln für die Tagespresse ein Einkommen sicherten, den Anspruch, Schriftsteller zu sein, aber nicht preisgaben, sondern im Feuilleton eine neue Ausdrucksmöglichkeit sahen.
Von solcher - je nach Sichtweise - Doppel- oder Halbbegabung ist der Prosaband "Wien" getragen, den Hirschfeld 1927 als Auftragsarbeit für die im Münchener Piper-Verlag erschienene Reihe "Was nicht im Baedeker steht" geschrieben hat und der nun mitsamt Originalillustrationen von Adalbert Sipos und Leopold Gedö neu herausgekommen ist. Die Buchreihe sollte den Gebrauchswert von Reiseführern mit einem auf eigene Erfahrung statt auf bloße Information vertrauenden Zugang verbinden. Entsprechend stellt sich Hirschfelds Buch als Sammlung feuilletonistischer Prosastücke dar, in denen ein plauderfreudiges Ich ein imaginäres Paar jenseits touristischer Pfade durch die Stadt führt. Diese Fiktion benötigt Hirschfeld, wie er erklärt, um sich mit seiner Aufgabe nicht zu langweilen. Weshalb er sich "eine nette Begleitung gesucht und erfunden (habe). Und das sind Sie, mein Herr Leser, und Sie, meine Frau Leserin. Sie sind zwei Fremde, die zum ersten Mal nach Wien kommen. Ein Herr und eine Dame, die gar nicht zusammengehören, aber ich (...) habe mir erlaubt, Sie für die Dauer dieses Buches ein bißchen miteinander zu verheiraten".
Die achtzehn Kapitel, in denen der Autor sein Paar ins Kaffeehaus, die Ringstraße entlang, ins Burgtheater, zur Sportveranstaltung, ins Kaufhaus und auf die Landpartie mitnimmt, beziehen aus der Tatsache, dass auch Hirschfelds Alter Ego zu zweit, nämlich verheiratet ist, erzählerischen Witz. Im "Shopping" überschriebenen Abschnitt lässt der einkaufsunlustige Erzähler seine Gattin in die Innere Stadt fahren, um "Rapporte aus allen Mode- und Luxusgebieten" zu sammeln, woraufhin sie ihn mit ihren Einkäufen fast in den Bankrott treibt. Daher empfiehlt er den Reisenden, "Shopping" eher als "Anschauen" denn als Einkauf zu praktizieren. In einem Kapitel über Freibäder bringt Hirschfeld den Wien-Besuchern die neue Praxis des Gemischtbadens nahe und ruft die im Schwinden begriffenen Schwimmbäder mit separierten Eingängen als "Zeit der Prüderie", aber auch des unmodern gewordenen "Genierens" in Erinnerung.
Heute liest sich Hirschfelds Buch nicht nur als Kompendium historisch gewordener Gewohnheiten wie dem "Linksgehen" auf dem Trottoir oder dem in Kaffeehäusern auf das Trinkgeld zuzuschlagenden "Separattrinkgeld", sondern auch als Chronik eines jüdischen Alltagslebens, das schon zehn Jahre nach Erscheinen des Reiseführers Vergangenheit war. Dabei registriert Hirschfeld das jüdische Wien eher wie nebenher und ohne die Absicht kulturhistorischer Belehrung. Etwa, wenn er einen Gang durchs Wiener Nachtleben zum Anlass nimmt, den Couplet-Dichter Fritz Grünbaum zu porträtieren, die Gegenwart des Bankiers Louis Rothschild im Theaterbetrieb beobachtet oder aufgrund des Ressentiments gegen Sigmund Freud den Rat erteilt: "Seien Sie während Ihres Wiener Aufenthalts nicht zu interessant und originell, sonst sind Sie hinter Ihrem Rücken plötzlich ein Jud."
Was sich in Hirschfelds Buch nur an den Rändern abzeichnet, traf ihn später mit unvorhergesehener Gewalt. Während des Austrofaschismus unbehelligt, wurde er 1938 kurzzeitig verhaftet und emigrierte mit seiner Frau Elly, der Tochter Eva und dem Sohn Herbert nach Frankreich. Im November 1942 wurde die Familie vom Zwischenlager Drancy nahe Paris aus nach Auschwitz deportiert, wo alle vier ermordet wurden. Martin Amanshauser, der in seinem Nachwort zur Neuausgabe die Lebensgeschichte Hirschfelds rekonstruiert, gelingt es, das Pittoreske von dessen Reiseprosa als Erscheinungsform einer versunkenen Freiheit kenntlich zu machen.
MAGNUS KLAUE
Ludwig Hirschfeld: "Wien".
Mit einem Nachwort von Martin Amanshauser.
Milena Verlag, Wien 2020. 256 S., Abb., geb., 23,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Ludwig Hirschfelds Wien-Führer von 1927 in einer neuen Ausgabe
Karl Kraus beschimpfte ihn als "den grauslichsten von allen Wohlstandsplauderern", Felix Salten pries ihn als "Schriftsteller von ausgesprochen journalistischem Temperament". Das Lob wie die Polemik zielten auf denselben Habitus, den der 1882 geborene Ludwig Hirschfeld, Chefredakteur der von Kraus verachteten "Neuen Freien Presse" sowie Verfasser populärer Schauspiele und Erzählungen, im Wien der zehner und zwanziger Jahre verkörperte. Als schriftstellernde Journalisten wurden damals solche Autoren qualifiziert, die sich mit Artikeln für die Tagespresse ein Einkommen sicherten, den Anspruch, Schriftsteller zu sein, aber nicht preisgaben, sondern im Feuilleton eine neue Ausdrucksmöglichkeit sahen.
Von solcher - je nach Sichtweise - Doppel- oder Halbbegabung ist der Prosaband "Wien" getragen, den Hirschfeld 1927 als Auftragsarbeit für die im Münchener Piper-Verlag erschienene Reihe "Was nicht im Baedeker steht" geschrieben hat und der nun mitsamt Originalillustrationen von Adalbert Sipos und Leopold Gedö neu herausgekommen ist. Die Buchreihe sollte den Gebrauchswert von Reiseführern mit einem auf eigene Erfahrung statt auf bloße Information vertrauenden Zugang verbinden. Entsprechend stellt sich Hirschfelds Buch als Sammlung feuilletonistischer Prosastücke dar, in denen ein plauderfreudiges Ich ein imaginäres Paar jenseits touristischer Pfade durch die Stadt führt. Diese Fiktion benötigt Hirschfeld, wie er erklärt, um sich mit seiner Aufgabe nicht zu langweilen. Weshalb er sich "eine nette Begleitung gesucht und erfunden (habe). Und das sind Sie, mein Herr Leser, und Sie, meine Frau Leserin. Sie sind zwei Fremde, die zum ersten Mal nach Wien kommen. Ein Herr und eine Dame, die gar nicht zusammengehören, aber ich (...) habe mir erlaubt, Sie für die Dauer dieses Buches ein bißchen miteinander zu verheiraten".
Die achtzehn Kapitel, in denen der Autor sein Paar ins Kaffeehaus, die Ringstraße entlang, ins Burgtheater, zur Sportveranstaltung, ins Kaufhaus und auf die Landpartie mitnimmt, beziehen aus der Tatsache, dass auch Hirschfelds Alter Ego zu zweit, nämlich verheiratet ist, erzählerischen Witz. Im "Shopping" überschriebenen Abschnitt lässt der einkaufsunlustige Erzähler seine Gattin in die Innere Stadt fahren, um "Rapporte aus allen Mode- und Luxusgebieten" zu sammeln, woraufhin sie ihn mit ihren Einkäufen fast in den Bankrott treibt. Daher empfiehlt er den Reisenden, "Shopping" eher als "Anschauen" denn als Einkauf zu praktizieren. In einem Kapitel über Freibäder bringt Hirschfeld den Wien-Besuchern die neue Praxis des Gemischtbadens nahe und ruft die im Schwinden begriffenen Schwimmbäder mit separierten Eingängen als "Zeit der Prüderie", aber auch des unmodern gewordenen "Genierens" in Erinnerung.
Heute liest sich Hirschfelds Buch nicht nur als Kompendium historisch gewordener Gewohnheiten wie dem "Linksgehen" auf dem Trottoir oder dem in Kaffeehäusern auf das Trinkgeld zuzuschlagenden "Separattrinkgeld", sondern auch als Chronik eines jüdischen Alltagslebens, das schon zehn Jahre nach Erscheinen des Reiseführers Vergangenheit war. Dabei registriert Hirschfeld das jüdische Wien eher wie nebenher und ohne die Absicht kulturhistorischer Belehrung. Etwa, wenn er einen Gang durchs Wiener Nachtleben zum Anlass nimmt, den Couplet-Dichter Fritz Grünbaum zu porträtieren, die Gegenwart des Bankiers Louis Rothschild im Theaterbetrieb beobachtet oder aufgrund des Ressentiments gegen Sigmund Freud den Rat erteilt: "Seien Sie während Ihres Wiener Aufenthalts nicht zu interessant und originell, sonst sind Sie hinter Ihrem Rücken plötzlich ein Jud."
Was sich in Hirschfelds Buch nur an den Rändern abzeichnet, traf ihn später mit unvorhergesehener Gewalt. Während des Austrofaschismus unbehelligt, wurde er 1938 kurzzeitig verhaftet und emigrierte mit seiner Frau Elly, der Tochter Eva und dem Sohn Herbert nach Frankreich. Im November 1942 wurde die Familie vom Zwischenlager Drancy nahe Paris aus nach Auschwitz deportiert, wo alle vier ermordet wurden. Martin Amanshauser, der in seinem Nachwort zur Neuausgabe die Lebensgeschichte Hirschfelds rekonstruiert, gelingt es, das Pittoreske von dessen Reiseprosa als Erscheinungsform einer versunkenen Freiheit kenntlich zu machen.
MAGNUS KLAUE
Ludwig Hirschfeld: "Wien".
Mit einem Nachwort von Martin Amanshauser.
Milena Verlag, Wien 2020. 256 S., Abb., geb., 23,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main