Wittgensteins "Philosophische Bemerkungen" und seine "Philosophische Grammatik" basieren auf den zwischen 1929 und 1932 entstandenen Manuskriptbänden I-X. Diese Texte wurden erstmals vollständig und absolut werktreu in der "Wiener Ausgabe" veröffentlicht: ein netzwerkartiges Gedankengeflecht, in dem der Leser, kreuz und quer wandernd, eigene Pfade der Erkenntnis erkunden kann.Die "Studien Texte" sind seitengleich mit den jeweiligen Texten der Gesamtausgabe und somit komplett in die "Wiener Ausgabe" mitsamt ihren Apparaten und zukünftigen Kommentaren integriert. Band 1 enthält die Manuskriptbände I und II - Mss 105 und 106, geschrieben zwischen 2. Februar 1929 und Anfang Oktober 1929.
Hinweis: Dieser Artikel kann nur an eine deutsche Lieferadresse ausgeliefert werden.
Hinweis: Dieser Artikel kann nur an eine deutsche Lieferadresse ausgeliefert werden.
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 08.09.2001Zettelträume
Wittgensteins „Big Typescript”
in der Wiener Ausgabe
Von keinem anderen großen Philosophen des 20. Jahrhunderts geht eine ähnlich große persönliche Faszination wie von Ludwig Wittgenstein aus. Das ist begründet in einem Leben, das an Radikalität und zugleich Rätselhaftigkeit unter den Meisterdenkern seinesgleichen nicht hat. Die Aura, die Wittgenstein selbst im skeptischen, auf Witz und Ironie weit mehr als auf tiefere Bedeutung trainierten Cambridge umgab, war die eines Genies und Asketen von höchstem moralischen und geistigen Rigorismus, eines intellektuellen Heiligen, wie ihn manchmal auch die entzauberte Neuzeit noch zu brauchen scheint.
Umgetrieben war dieses Leben freilich, wie nach der großen Wittgenstein-Biografie von Ray Monk nicht mehr zweifelhaft ist, von der existentiellen Tragödie eines Mannes, der in asketischer Selbstkasteiung, in indirekten Selbsttötungsversuchen, in Selbstekel und Selbstbezichtigung Befreiung von tiefsitzenden Schuldgefühlen suchte. Sie hingen vor allem mit Wittgensteins homoerotischen Neigungen zusammen.
Der Bewältigungsversuch war das philosophische Werk. Der „Tractatus logico-philosophicus”, dieses größte Denk-Kunstwerk des 20. Jahrhunderts, zeigt, wie das triebhaft und schuldhaft gepeinigte Leben sich vor sich selber in die Reinheit einer strengen Komposition zu retten versucht; wie das Chaos in luzide Ordnung, das Dunkle und Vieldeutige in das Klare und Distinkte transformiert wird. Und auf dieser Folie wird auch die ungeheure Spannung in Wittgensteins philosophischen Konstruktionen verständlich: zwischen Mathematik und Mystik, Positivismus und Metaphysik, zwischen Russell und Tolstoi oder auch Schopenhauer, Sprachkritik und Ethik, zwischen dem noch Aussprechbaren und dem „Unaussprechlichen”. Was sich überhaupt sagen ließ, sollte sich klar sagen lassen. Vom Rest musste man dem zu Tode zitierten Schlusssatz des „Tractatus” zufolge schweigen – er musste sich zeigen. Wittgenstein, das ist ein einziger Widerspruch.
Natürlich konnte auch die philosophische Hinterlassenschaft davon nicht unberührt bleiben. Dem Endgültigkeit anstrebenden „Tractatus”, neben dem Wittgenstein selber gerade eine Rezension, einen Aufsatz und das „Wörterbuch für Volksschulen” veröffentlicht hat, steht ein riesiges Nachlasskonvolut von Manuskripten, Typoskripten, Notizbüchern und Zetteln gegenüber, in ungefähr 20000 Seiten, das Vielfache des Publizierten, wobei Wittgenstein noch alles das, was bloß Entwurf und Vorarbeit war, selber weitgehend vernichtet hat.
Auf goldenem Zweig
Was sich überhaupt sagen ließ, ließ sich offenbar doch nicht so klar sagen, dass nichts mehr zu sagen übrig blieb. Den Nachlassverwaltern vertraute Wittgenstein die Aufgabe an, so viel herauszugeben, wie sie für geeignet hielten, nach dem verschwiegenen Motto: „Was man nicht selber publizieren kann, das muss man edieren lassen.” Die oft über Gebühr kritisieren Nachlassverwalter haben sich denn auch mit Erfolg bemüht, lesbare, benutzbare Ausgaben zu schaffen. Aber sie haben die philologische Texttreue der Lesbarkeit untergeordnet. Sie haben ausgewählt, arrangiert und interpretiert – das konnte nach Lage der Dinge zunächst gar nicht anders sein.
Freilich durfte das bei einem Denker vom Range Wittgensteins auch nicht das letzte editorische Wort sein. Der „Tractatus” ist inzwischen durch eine historisch-kritische Edition erschlossen worden. Und die von Michael Nedo, dem Leiter des Cambridger Wittgenstein-Archivs, besorgte Wiener Ausgabe, die in den letzten Jahren mit einem bewundernswerten editorischen und verlegerischen Aufwand vorangetrieben worden ist, hat sich mit Erfolg auf den Nachlass der Jahre 1929 bis 1933 konzentriert.
Jetzt liegt mit dem elften Band, der das sogenannte „Big Typescript” zuverlässig dokumentiert, eine Art von Summe vor. Es handelt sich um eine Zusammenfassung der philosophischen Überlegungen Wittgensteins seit seiner Rückkehr nach Cambridge im Anschluss an seine Volksschullehrerjahre in Niederösterreich und seine Wiener Architekten- und Künstlerjahre. 1929 war das Jahr seiner Promotion in Cambridge, bei der er eher die Prüfer prüfte als von ihnen examiniert wurde.
Wittgenstein, der „mittlere Wittgenstein”, befasst sich in diesen Jahren bereits mit jenen Fragen, die auch seine Spätphilosophie umtreiben werden, aber auch stärker als bisher angenommen den Anschluss an den „Tractatus” herstellen. Wittgenstein war viel zu eigensinnig, um ein sich unablässig und total wandelnder Denker zu sein. Es geht um die Logik und Grammatik der Sprache, aber auch um die Psychologie, immer wieder um die Mathematik, um die Methodik der Philosophie und, mit umfänglichen Exzerpten aus James George Frazers Monumentalwerk „The Golden Bough”, „Der Goldene Zweig”, um das Mythologische in der Philosophie.
Auch die Wiener Wittgenstein-Ausgabe wächst langsam zu einer Art von „Golden Bough”. Wer sie studiert, ist gut beraten, sich aus Wittgensteins „Vermischten Bemerkungen” von 1949 seine Maxime zu eigen zu machen: „Der Gruß der Philosophen untereinander sollte sein: ,Laß dir Zeit!‘” In der Tat: Es lohnt!
LUDGER LÜTKEHAUS
LUDWIG WITTGENSTEIN: Wiener Ausgabe. Herausgegeben von Michael Nedo. Band 11: The Big Typescript. Springer Verlag, Wien / New York 2001. 546 Seiten, 305 Mark.
SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung exklusiv über www.diz-muenchen.de
Wittgensteins „Big Typescript”
in der Wiener Ausgabe
Von keinem anderen großen Philosophen des 20. Jahrhunderts geht eine ähnlich große persönliche Faszination wie von Ludwig Wittgenstein aus. Das ist begründet in einem Leben, das an Radikalität und zugleich Rätselhaftigkeit unter den Meisterdenkern seinesgleichen nicht hat. Die Aura, die Wittgenstein selbst im skeptischen, auf Witz und Ironie weit mehr als auf tiefere Bedeutung trainierten Cambridge umgab, war die eines Genies und Asketen von höchstem moralischen und geistigen Rigorismus, eines intellektuellen Heiligen, wie ihn manchmal auch die entzauberte Neuzeit noch zu brauchen scheint.
Umgetrieben war dieses Leben freilich, wie nach der großen Wittgenstein-Biografie von Ray Monk nicht mehr zweifelhaft ist, von der existentiellen Tragödie eines Mannes, der in asketischer Selbstkasteiung, in indirekten Selbsttötungsversuchen, in Selbstekel und Selbstbezichtigung Befreiung von tiefsitzenden Schuldgefühlen suchte. Sie hingen vor allem mit Wittgensteins homoerotischen Neigungen zusammen.
Der Bewältigungsversuch war das philosophische Werk. Der „Tractatus logico-philosophicus”, dieses größte Denk-Kunstwerk des 20. Jahrhunderts, zeigt, wie das triebhaft und schuldhaft gepeinigte Leben sich vor sich selber in die Reinheit einer strengen Komposition zu retten versucht; wie das Chaos in luzide Ordnung, das Dunkle und Vieldeutige in das Klare und Distinkte transformiert wird. Und auf dieser Folie wird auch die ungeheure Spannung in Wittgensteins philosophischen Konstruktionen verständlich: zwischen Mathematik und Mystik, Positivismus und Metaphysik, zwischen Russell und Tolstoi oder auch Schopenhauer, Sprachkritik und Ethik, zwischen dem noch Aussprechbaren und dem „Unaussprechlichen”. Was sich überhaupt sagen ließ, sollte sich klar sagen lassen. Vom Rest musste man dem zu Tode zitierten Schlusssatz des „Tractatus” zufolge schweigen – er musste sich zeigen. Wittgenstein, das ist ein einziger Widerspruch.
Natürlich konnte auch die philosophische Hinterlassenschaft davon nicht unberührt bleiben. Dem Endgültigkeit anstrebenden „Tractatus”, neben dem Wittgenstein selber gerade eine Rezension, einen Aufsatz und das „Wörterbuch für Volksschulen” veröffentlicht hat, steht ein riesiges Nachlasskonvolut von Manuskripten, Typoskripten, Notizbüchern und Zetteln gegenüber, in ungefähr 20000 Seiten, das Vielfache des Publizierten, wobei Wittgenstein noch alles das, was bloß Entwurf und Vorarbeit war, selber weitgehend vernichtet hat.
Auf goldenem Zweig
Was sich überhaupt sagen ließ, ließ sich offenbar doch nicht so klar sagen, dass nichts mehr zu sagen übrig blieb. Den Nachlassverwaltern vertraute Wittgenstein die Aufgabe an, so viel herauszugeben, wie sie für geeignet hielten, nach dem verschwiegenen Motto: „Was man nicht selber publizieren kann, das muss man edieren lassen.” Die oft über Gebühr kritisieren Nachlassverwalter haben sich denn auch mit Erfolg bemüht, lesbare, benutzbare Ausgaben zu schaffen. Aber sie haben die philologische Texttreue der Lesbarkeit untergeordnet. Sie haben ausgewählt, arrangiert und interpretiert – das konnte nach Lage der Dinge zunächst gar nicht anders sein.
Freilich durfte das bei einem Denker vom Range Wittgensteins auch nicht das letzte editorische Wort sein. Der „Tractatus” ist inzwischen durch eine historisch-kritische Edition erschlossen worden. Und die von Michael Nedo, dem Leiter des Cambridger Wittgenstein-Archivs, besorgte Wiener Ausgabe, die in den letzten Jahren mit einem bewundernswerten editorischen und verlegerischen Aufwand vorangetrieben worden ist, hat sich mit Erfolg auf den Nachlass der Jahre 1929 bis 1933 konzentriert.
Jetzt liegt mit dem elften Band, der das sogenannte „Big Typescript” zuverlässig dokumentiert, eine Art von Summe vor. Es handelt sich um eine Zusammenfassung der philosophischen Überlegungen Wittgensteins seit seiner Rückkehr nach Cambridge im Anschluss an seine Volksschullehrerjahre in Niederösterreich und seine Wiener Architekten- und Künstlerjahre. 1929 war das Jahr seiner Promotion in Cambridge, bei der er eher die Prüfer prüfte als von ihnen examiniert wurde.
Wittgenstein, der „mittlere Wittgenstein”, befasst sich in diesen Jahren bereits mit jenen Fragen, die auch seine Spätphilosophie umtreiben werden, aber auch stärker als bisher angenommen den Anschluss an den „Tractatus” herstellen. Wittgenstein war viel zu eigensinnig, um ein sich unablässig und total wandelnder Denker zu sein. Es geht um die Logik und Grammatik der Sprache, aber auch um die Psychologie, immer wieder um die Mathematik, um die Methodik der Philosophie und, mit umfänglichen Exzerpten aus James George Frazers Monumentalwerk „The Golden Bough”, „Der Goldene Zweig”, um das Mythologische in der Philosophie.
Auch die Wiener Wittgenstein-Ausgabe wächst langsam zu einer Art von „Golden Bough”. Wer sie studiert, ist gut beraten, sich aus Wittgensteins „Vermischten Bemerkungen” von 1949 seine Maxime zu eigen zu machen: „Der Gruß der Philosophen untereinander sollte sein: ,Laß dir Zeit!‘” In der Tat: Es lohnt!
LUDGER LÜTKEHAUS
LUDWIG WITTGENSTEIN: Wiener Ausgabe. Herausgegeben von Michael Nedo. Band 11: The Big Typescript. Springer Verlag, Wien / New York 2001. 546 Seiten, 305 Mark.
SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung exklusiv über www.diz-muenchen.de
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 17.09.2001Hinweis
EINGEDAMPFT. Karl Popper hat die große, seit 1994 erscheinende Wiener Ausgabe des Wittgensteinschen Nachlasses als "die wesentlichste Buchedition des Jahrhunderts" bezeichnet. Etwas bescheidener lobte unsere Besprechung der ersten beiden Bände die "ausgezeichnete typographische Gestaltung" einer Edition, in der die verschiedenen Formulierungsentwürfe der Manuskriptbände möglichst gleichrangig vor den Leser gestellt werden. Die "Philosophischen Bemerkungen", die "Betrachtungen" und die "Philosophische Grammatik" der Jahre 1929 bis 1932, die die ersten fünf Bände der Ausgabe boten, zeigen Wittgenstein auf dem Weg von der frühen "Tractatus"-Theorie der Sprache als Abbildung der Welt hin zu seiner großen Meditation über Sprachgebrauch und Regeln, den "Philosophischen Untersuchungen". Wer überprüfen will, ob er wie Bertrand Russell inbrünstig hoffen muß, Wittgensteins Überlegungen seien falsch, weil sie die Mathematik und Logik nahezu unvorstellbar schwierig machten, kann dies nun auch anhand eines preiswerten einbändigen Reprints tun. (Ludwig Wittgenstein: "Wiener Ausgabe". Studien Texte Band 1-5. Ausgabe in einem Band. Hrsg. von Michael Nedo. Zweitausendeins Verlag, Frankfurt am Main 2001. 1300 S., br., 29,95 DM.)
F.A.Z.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
EINGEDAMPFT. Karl Popper hat die große, seit 1994 erscheinende Wiener Ausgabe des Wittgensteinschen Nachlasses als "die wesentlichste Buchedition des Jahrhunderts" bezeichnet. Etwas bescheidener lobte unsere Besprechung der ersten beiden Bände die "ausgezeichnete typographische Gestaltung" einer Edition, in der die verschiedenen Formulierungsentwürfe der Manuskriptbände möglichst gleichrangig vor den Leser gestellt werden. Die "Philosophischen Bemerkungen", die "Betrachtungen" und die "Philosophische Grammatik" der Jahre 1929 bis 1932, die die ersten fünf Bände der Ausgabe boten, zeigen Wittgenstein auf dem Weg von der frühen "Tractatus"-Theorie der Sprache als Abbildung der Welt hin zu seiner großen Meditation über Sprachgebrauch und Regeln, den "Philosophischen Untersuchungen". Wer überprüfen will, ob er wie Bertrand Russell inbrünstig hoffen muß, Wittgensteins Überlegungen seien falsch, weil sie die Mathematik und Logik nahezu unvorstellbar schwierig machten, kann dies nun auch anhand eines preiswerten einbändigen Reprints tun. (Ludwig Wittgenstein: "Wiener Ausgabe". Studien Texte Band 1-5. Ausgabe in einem Band. Hrsg. von Michael Nedo. Zweitausendeins Verlag, Frankfurt am Main 2001. 1300 S., br., 29,95 DM.)
F.A.Z.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main