Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 15.07.2016Boulevard mit internationalen Adressen
Die Geschichte der Wilhelmstraße lässt manchen politischen Streit der Gegenwart provinziell erscheinen. Autorin Erika Noack hat der Straße ein ganzes Buch gewidmet.
Von Ewald Hetrodt
WIESBADEN. In der aktuellen Debatte über die Frage, ob an der unteren Wilhelmstraße ein Hotel gebaut werden soll, haben die Befürworter ein historisches Argument auf ihrer Seite. An derselben Stelle hatte in den beiden zurückliegenden Jahrhunderten schon einmal eine Luxusherberge gestanden. Allerdings fühlten sich im "Viktoria" nicht alle Gäste gut behandelt. So klagte ein gewisser Fjodor Dostojewskij im Sommer 1865 in einem Brief an seine nach Paris abgereiste Geliebte, dass ihm in Wiesbaden kein Mittagessen mehr serviert werde und er sich nur noch von Tee ernähre. Er hatte im Spielcasino an der "Rue" 3000 Goldrubel verloren und konnte seine Rechnungen nicht begleichen. Schließlich streckte ihm der Pope der Russisch Orthodoxen Kirche das für die Rückkehr in seine Heimat nötige Geld vor. Dort schrieb der berühmte Schriftsteller, getrieben von der Geldnot, seinen Roman "Der Spieler".
Die Darstellung entstammt einem schwergewichtigen Buch, in dem die Wiesbadenerin Erika Noack die Geschichte der Wilhelmstraße erzählt. Der Name des Boulevards zwischen dem historischen Fünfeck und dem östlichen Kur- und Villengebiet wird oft auf Wilhelm II. zurückgeführt. Dem Kaiser werden zwar 28 Aufenthalte in der Stadt zugeschrieben, doch die "Wilhelmstraße" geht auf den einstigen Herzog von Nassau zurück. So heißt sie übrigens seit einer Namensänderung vor genau 200 Jahren. Bis 1816 war stets von der Alleestraße die Rede.
Noack hat als Immobilienmaklerin berufsbedingt eine besondere Beziehung zur Entwicklung und zur Architektur der Stadt. Sie präsentiert eine Fülle von Fakten, die sie mit zahlreichen historischen Aufnahmen und vielen Anekdoten angereichert hat. Auf ihrem Weg durch die von den Wiesbadenern als "Rue" bezeichnete Einkaufs- und Prachtstraße widmet sie sich ausführlich den einzelnen Gebäuden. Vom einstigen Hotel Viktoria wendet sie sich der mehr als 125 Jahre alten Wilhelms-Apotheke auf der anderen Straßenseite zu. Nach dem Zweiten Weltkrieg lebte die Familie des Pharmazierats Maximilian-Wilhelm Mück angesichts der allgemeinen Wohnungsnot in den Geschäftsräumen. Spielerisch hätten die Kinder gelernt, Pillen zu drehen und Zäpfchen zu gießen, berichtet Noack.
Seit 1978 ist die Apotheke in den Händen der Familie Dornheim. Bis heute werden dort nicht nur Einheimische, sondern auch Kunden aus dem Ausland beraten. Gelegentlich ist das ein gutes Geschäft. Einen unvergessenen Großeinkauf tätigte einst der Vater einer arabischen Prinzessin. Bis der reiche Mann aus dem Orient wieder abreiste, ließ er die Ware in seinem Hotel am oberen Ende der Straße lagern. Im Luxushotel "Nassauer Hof" stand dafür eine ganze Etage bereit.
Mit Händen zu greifen sind die Verbindungen zu vielen Teilen der Erde im Teppichhaus Michel. Dessen Geschichte nahm ihren Lauf, als Kaiser Wilhelm II. im Jahr 1898 in Jerusalem den in Bethlehem geborenen Kaufmann Kalil Michel traf. Er meinte, dass ein Angebot an orientalischen Kunstgegenständen auch eine Bereicherung für das von ihm so geschätzte Wiesbaden sei. Michel folgte der Bitte und zog nach Wiesbaden. Auch sein Urenkel Thomas, der heutige Geschäftsinhaber, ist ein vielbeschäftigter Mann. Er steht ehrenamtlich an der Spitze der Bürgerstiftung und nimmt regelmäßig weite Reisen auf sich - um Teppiche aus aller Herren Ländern herbeizuschaffen. Wenn er vor die Tür seines Geschäfts tritt, blickt er auf "das schönste Kurhaus der Welt". So hat der Kaiser die monumentale Verkörperung der Wiesbadener Internationalität charakterisiert. Noack widmet ihr 14 Seiten und vergisst nicht zu erwähnen, dass gekrönte Häupter, Angehörige des Geldadels, aber auch Intellektuelle und Künstler in der einstigen Weltkurstadt verkehrten.
Die Autorin beschränkt sich auf eine Reise in die Vergangenheit, die auf subjektive Wertungen verzichtet. Dass die große, internationale Geschichte der Wilhelmstraße manche politische Auseinandersetzung der Gegenwart arg provinziell erscheinen lässt, liegt nicht an dem Buch, sondern am Lauf der Zeit.
Erika Noack: Wiesbadener Straßengeschichten. Die Wilhelmstraße. Thorsten Reiß Verlag, 340 Seiten. 29,80 Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Die Geschichte der Wilhelmstraße lässt manchen politischen Streit der Gegenwart provinziell erscheinen. Autorin Erika Noack hat der Straße ein ganzes Buch gewidmet.
Von Ewald Hetrodt
WIESBADEN. In der aktuellen Debatte über die Frage, ob an der unteren Wilhelmstraße ein Hotel gebaut werden soll, haben die Befürworter ein historisches Argument auf ihrer Seite. An derselben Stelle hatte in den beiden zurückliegenden Jahrhunderten schon einmal eine Luxusherberge gestanden. Allerdings fühlten sich im "Viktoria" nicht alle Gäste gut behandelt. So klagte ein gewisser Fjodor Dostojewskij im Sommer 1865 in einem Brief an seine nach Paris abgereiste Geliebte, dass ihm in Wiesbaden kein Mittagessen mehr serviert werde und er sich nur noch von Tee ernähre. Er hatte im Spielcasino an der "Rue" 3000 Goldrubel verloren und konnte seine Rechnungen nicht begleichen. Schließlich streckte ihm der Pope der Russisch Orthodoxen Kirche das für die Rückkehr in seine Heimat nötige Geld vor. Dort schrieb der berühmte Schriftsteller, getrieben von der Geldnot, seinen Roman "Der Spieler".
Die Darstellung entstammt einem schwergewichtigen Buch, in dem die Wiesbadenerin Erika Noack die Geschichte der Wilhelmstraße erzählt. Der Name des Boulevards zwischen dem historischen Fünfeck und dem östlichen Kur- und Villengebiet wird oft auf Wilhelm II. zurückgeführt. Dem Kaiser werden zwar 28 Aufenthalte in der Stadt zugeschrieben, doch die "Wilhelmstraße" geht auf den einstigen Herzog von Nassau zurück. So heißt sie übrigens seit einer Namensänderung vor genau 200 Jahren. Bis 1816 war stets von der Alleestraße die Rede.
Noack hat als Immobilienmaklerin berufsbedingt eine besondere Beziehung zur Entwicklung und zur Architektur der Stadt. Sie präsentiert eine Fülle von Fakten, die sie mit zahlreichen historischen Aufnahmen und vielen Anekdoten angereichert hat. Auf ihrem Weg durch die von den Wiesbadenern als "Rue" bezeichnete Einkaufs- und Prachtstraße widmet sie sich ausführlich den einzelnen Gebäuden. Vom einstigen Hotel Viktoria wendet sie sich der mehr als 125 Jahre alten Wilhelms-Apotheke auf der anderen Straßenseite zu. Nach dem Zweiten Weltkrieg lebte die Familie des Pharmazierats Maximilian-Wilhelm Mück angesichts der allgemeinen Wohnungsnot in den Geschäftsräumen. Spielerisch hätten die Kinder gelernt, Pillen zu drehen und Zäpfchen zu gießen, berichtet Noack.
Seit 1978 ist die Apotheke in den Händen der Familie Dornheim. Bis heute werden dort nicht nur Einheimische, sondern auch Kunden aus dem Ausland beraten. Gelegentlich ist das ein gutes Geschäft. Einen unvergessenen Großeinkauf tätigte einst der Vater einer arabischen Prinzessin. Bis der reiche Mann aus dem Orient wieder abreiste, ließ er die Ware in seinem Hotel am oberen Ende der Straße lagern. Im Luxushotel "Nassauer Hof" stand dafür eine ganze Etage bereit.
Mit Händen zu greifen sind die Verbindungen zu vielen Teilen der Erde im Teppichhaus Michel. Dessen Geschichte nahm ihren Lauf, als Kaiser Wilhelm II. im Jahr 1898 in Jerusalem den in Bethlehem geborenen Kaufmann Kalil Michel traf. Er meinte, dass ein Angebot an orientalischen Kunstgegenständen auch eine Bereicherung für das von ihm so geschätzte Wiesbaden sei. Michel folgte der Bitte und zog nach Wiesbaden. Auch sein Urenkel Thomas, der heutige Geschäftsinhaber, ist ein vielbeschäftigter Mann. Er steht ehrenamtlich an der Spitze der Bürgerstiftung und nimmt regelmäßig weite Reisen auf sich - um Teppiche aus aller Herren Ländern herbeizuschaffen. Wenn er vor die Tür seines Geschäfts tritt, blickt er auf "das schönste Kurhaus der Welt". So hat der Kaiser die monumentale Verkörperung der Wiesbadener Internationalität charakterisiert. Noack widmet ihr 14 Seiten und vergisst nicht zu erwähnen, dass gekrönte Häupter, Angehörige des Geldadels, aber auch Intellektuelle und Künstler in der einstigen Weltkurstadt verkehrten.
Die Autorin beschränkt sich auf eine Reise in die Vergangenheit, die auf subjektive Wertungen verzichtet. Dass die große, internationale Geschichte der Wilhelmstraße manche politische Auseinandersetzung der Gegenwart arg provinziell erscheinen lässt, liegt nicht an dem Buch, sondern am Lauf der Zeit.
Erika Noack: Wiesbadener Straßengeschichten. Die Wilhelmstraße. Thorsten Reiß Verlag, 340 Seiten. 29,80 Euro.
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