Der letzte Akt im Leben des großen Gerhart Hauptmann
Der berühmte alte Mann, Nobelpreisträger, verlässt mit seiner Frau das Sanatorium in Dresden und wird mit militärischem Begleitschutz zum Zug gebracht. Doch es ist März 1945; Gerhart und Margarete Hauptmann möchten zurück nach Schlesien, in ihre Villa 'Wiesenstein', ein prächtiges Anwesen im Riesengebirge. Dort wollen sie ihr luxuriöses Leben weiterleben, in einer hinreißend schönen Landschaft, mit Zofe, Butler und Gärtner, Köchin und Sekretärin - inmitten der Barbarei. Können sie aber noch unbehelligt leben, jetzt, da der Krieg verloren ist, russische Truppen und polnische Milizen kommen? Und das alte Schlesien untergeht?
Der berühmte alte Mann, Nobelpreisträger, verlässt mit seiner Frau das Sanatorium in Dresden und wird mit militärischem Begleitschutz zum Zug gebracht. Doch es ist März 1945; Gerhart und Margarete Hauptmann möchten zurück nach Schlesien, in ihre Villa 'Wiesenstein', ein prächtiges Anwesen im Riesengebirge. Dort wollen sie ihr luxuriöses Leben weiterleben, in einer hinreißend schönen Landschaft, mit Zofe, Butler und Gärtner, Köchin und Sekretärin - inmitten der Barbarei. Können sie aber noch unbehelligt leben, jetzt, da der Krieg verloren ist, russische Truppen und polnische Milizen kommen? Und das alte Schlesien untergeht?
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 27.01.2018Villa
Abseits
Hans Pleschinski erzählt in seinem
neuen Roman „Wiesenstein“
vom alten Gerhart Hauptmann
der Jahre 1945/46
VON JÖRG MAGENAU
Es gibt Sätze, die man definitiv nicht mehr schreiben darf. Zum Beispiel: „Und in der Ferne bellte ein Hund.“ Gerhard Henschel hat sich schon vor Jahren gründlich mit diesem Phänomen befasst, als er bellende Hunde bei Rosamunde Pilcher, Marion Zimmer Bradley, Ralph Giordano, Robert Harris und vielen anderen aufspürte. Selbst Astrid Lindgren schrieb in „Kalle Blomquist“: „In der Ferne bellte ein Hund auf, und danach war die Stille noch tiefer als zuvor.“ In Hans Pleschinskis Roman „Wiesenstein“ um den altersschwachen Literaturnobelpreisträger Gerhart Hauptmann findet sich der bellende Hund auf Seite 241. „Viel später, bereits früh, zog er die Bettdecke über sich“, heißt es da. „In der Ferne schlug ein Hund an.“
Der bellende Hund in der Literatur ist etwa das, was in biedermeierlichen Wohnzimmern der röhrende Hirsch gewesen ist. Und so lässt Pleschinski seine Kapitel auch gerne mit Sätzen beginnen, die klingen wie zu Sprache geronnene Landschaftsmalerei des 19. Jahrhunderts. „Sommerluft bauschte die Tüllvorhänge des Galeriezimmers.“ Oder: „In phantastischer Vielfalt rankten sich Eisblumen über die Fensterscheiben.“ Oder, wenn es historisch konkret werden soll: „Vor den Fenstern wellten und falteten sich Bettlaken, weiße Fahnen in Regen und Wind.“ Bettlaken, die sich selber falten, lassen womöglich auf ein Zauberschloss schließen. Es handelt sich aber um die Villa Wiesenstein im schlesischen Riesengebirge, die von keinem Zauberer, sondern von dem leicht senilen Gerhart Hauptmann und seiner Entourage bewohnt wird. Noch. Denn wir schreiben das Jahr 1945, der Krieg ist verloren, die Zukunft ungewiss.
Die historische Zäsur, die mit der Vertreibung der Deutschen und der Neuansiedlung der aus dem Osten ihrerseits vertriebenen Polen endete, ist der Handlungsraum dieses historischen Romans, und immer da, wo es um den Zeithintergrund geht, ist „Wiesenstein“ trotz aller kolportagehaften Elemente eindrucksvoll. Das Thema der Vertreibung ist ja immer noch heikel. Die Westdeutschen wollten, als sie die Flüchtlinge aus Schlesien aufnehmen mussten, von deren Schicksal nicht viel wissen, und später stand die Auseinandersetzung mit dem Leid der Vertriebenen unter Revanchismusverdacht.
Die Ostverträge Willy Brandts und die Anerkennung der Oder-Neiße-Grenze zementierten die Nachkriegsordnung, aber erst nach 1989 wurde ein anderer Blick auf die Thematik möglich. Günter Grass erprobte den Wandel als Erster 1992 in seiner Erzählung „Unkenrufe“.
Hans Pleschinski erzählt direkt und plastisch vom Kriegsende und den Monaten danach. Schlesien war lange Zeit eine noch unberührte Oase am Rande des Geschehens. Die Rote Armee zog direkt in Richtung Berlin und ließ diese Gegend erst einmal links liegen. Erst nach der bedingungslosen Kapitulation wurde auch Schlesien besetzt – mit den üblichen Konsequenzen: Vergewaltigungen, Plünderungen, Morde und Selbstmorde und sehr bald dann auch mit der Aufforderung, Häuser und Dörfer zu verlassen. Das Chaos, die Vergeltung, die Rache, die Unsicherheit und all die Angst ums nackte Leben schildert Pleschinski packend und so, dass man tatsächlich begreift, was damals geschah.
Dabei kommt er nie in die Versuchung, das Leiden der Vertriebenen auszuschlachten und Täter und Opfer zu verwechseln. Nie verliert er den Gesamtzusammenhang aus den Augen und betont immer wieder, was diesem Schrecken vorausging. Nur die Villa Wiesenstein oben auf dem Berg und die Berühmtheit des Nobelpreisträgers standen noch eine Zeit lang unter besonderem Schutz der Sowjets. Als die polnische Verwaltung dann die Umsiedlung durchsetzen wollte, starb Gerhart Hauptmann im Juli 1946. Er hatte schon zuvor klargemacht, dass man ihn mit den Füßen voraus aus dem Gebäude tragen müsse. Auf Hiddensee, wo er ein Sommerhaus besaß, wurde er bestattet.
Die vom Architekten Hans Grisebach entworfene Villa Wiesenstein war ein wuchtiger Außenposten des Dichter-und-Denker-Deutschlands. Ihre Größe und Massivität, die schroffe Abgeschiedenheit und demonstrative Pracht entsprachen den Zumutungen der Geschichte, gegen die Hauptmann sich wappnete.
Hier schrieb er, der zuvor kein Freund des deutschen Kaisers und eher pazifistisch eingestellt war, 1914 unsägliche Verse zum Lob des Krieges: „Diesen Leib den halt ich hin / Flintenkugeln und Granaten: / Eh ich nicht durchlöchert bin, / Kann der Feldzug nicht geraten.“ Hier duckte er sich vor dem Nationalsozialismus und dem Zweiten Weltkrieg weg, so gut es ging, zog sich in Mystizismus, Heimatliebe und in sein Arbeitszimmer im Turm zurück, der „die Dämonen schrecken und der Welt von Feinden Trotz bieten“ sollte.
Eine „mystische Schale seiner Seele“ war ihm das Gebäude – seine Seele hatte die Schale wohl nötig. Noch 1942 ließ er sich zum 80. Geburtstag von Gauleiter Karl Hanke in Breslau feiern. 1945 empfing er den sowjetischen Oberst Sokolow und erhielt Besuch von Johannes R. Becher, der den greisen Dichter für die Sache des Kommunismus gewinnen wollte. „Ja, ich werde zurückkommen“, soll er zu ihm gesagt haben, war aber schon zu erschöpft, um das Gespräch fortzusetzen. Pleschinski widmet diesem eher gespenstischen Besuch ein eigenes Kapitel.
Hätte er es dabei belassen und Hauptmann allein in die Nachkriegsgegenwart gestellt, hätte „Wiesenstein“ ein großer, zeithistorischer Roman werden können. Doch er wollte zugleich auch eine umfassende Biografie schreiben, Leben und Werk Hauptmanns aufblättern – ein Werk, das – abgesehen vielleicht von dem revolutionären Sozialdrama „Die Weber“ und dem Lustspiel „Der Biberpelz“ – in ein großes Vergessen versunken ist. Was Pleschinski zitiert – und er zitiert sehr viel –, ist nicht dazu angetan, Hauptmann wiederzuentdecken und Lust auf seine Schriften zu machen.
Der Tonfall seiner den Jambus bevorzugenden Lyrik und seiner in Hexametern gehaltenen Versepik ist allzu sehr Imitat der Klassik. Doch wo er Goethe überbieten wollte, klingt er bloß wie Stefan George.
Hauptmann hielt sich für den Nachfolger Goethes und sah auch ganz so aus. Mit seinem wehenden weißen Haar ist er auf manchen Bildern kaum von seinem Vorbild zu unterscheiden, und auch Pleschinski lässt diese Pointe nicht aus, wenn er immer wieder auf das imponierende Haupthaar des Dichterfürsten zu sprechen kommt. Sein Antipode dagegen war Thomas Mann, mit dem Pleschinski sich in seinem vorigen Roman „Königsallee“ befasst hat. Hauptmann nannte ihn despektierlich „Dr. Spitz“, weil er es ihm übel nahm, im „Zauberberg“ als schwafelnder, trinkender Kaffeekönig Mynheer Peeperkorn verspottet worden zu sein.
Wenn Thomas Mann seinen Peeperkorn gerne „Schwamm drüber“ sagen ließ, sagt Pleschinskis Hauptmann nun: „Egal“. Darin liegt seine letzte Weisheit. Zu langen Reden ist er sowieso nur noch an besseren Tagen fähig. Dann diktiert er seiner Sekretärin Korrekturen zu seinen Dramen und revidiert die Romane.
Pleschinski nutzt die Gelegenheit, uns auf diese Weise auch Seltsamkeiten wie die matriarchale Utopie „Insel der großen Mutter“ näherzubringen. Der Dichter streicht viele „ja“-Füllsel und verbessert nach längerem Nachdenken ein „je“ in ein „desto“. An dieser Arbeit teilnehmen zu müssen ist mühsam, zumal Pleschinski Hauptmanns Stottern nicht bloß erwähnt, sondern über die gesamte Romanlänge abbildet, indem er seine Wo-Wo-Worte aufsprengt. Da ist man dann froh, wenn endlich die Russen kommen.
Der alte Hauptmann ist umgeben von seiner Frau Margarete und von Diener, Gärtner, Masseur, Köchin, Krankenschwester, Archivar und Sekretärin. Sie alle sind zwar historisch verbürgt, literarisch aber nur dazu da, um über Hauptmann zu sprechen. Sie sind Handpuppen, die Informationen vermitteln müssen. Schon die Fahrt aus dem zerstörten Dresden zurück nach Hirschberg, mit der Pleschinski den Roman eröffnet, setzt ein langatmiges Gespräch zwischen dem Masseur und der Sekretärin Annie Pollak in Szene, in dem sie ihm das Leben des Dichters und die wichtigsten Werke näherbringt. Und wenn Hauptmann zwischendurch aus seinem Dämmerschlaf erwacht, referiert er auch gleich aus seinen Dramen und sagt über seinen „Hamlet in Wittenberg“: „Ist mir nicht ganz gelungen – das Wesen des Zau-Zauderers rätselhaft zu gestalten. Zu viel Aktion, Duelle und Gezeche statt Melancholie.“
„Wiesenstein“ leidet nicht an zu viel Aktion, sondern an zu viel papierenem Gespräch, an einer hölzernen Konstruktion und an Figuren, die jenseits ihrer Hauptmannerörterungen ganz uninteressant sind, vor allem aber an zu vielen altväterlichen Sätzen: „Er gewahrte behagliches Feuer im Kamin.“ „Für das Schilf am Teichrand griff er gleichfalls zur Sense.“ „Auf der Balustrade schellte das Telefon.“
Ist das die Sprache Pleschinskis? Imitiert er damit den Sprachduktus der Hauptmann-Zeit? Oder Hauptmann selbst? Egal, würde Hauptmann sagen. Schwamm drüber. Mit der Sprache ist es wie mit den Figuren und dem in der Ferne bellenden Hund. Das Romanhafte ist dem Geschehen bloß als dünnes, durchscheinendes Mäntelchen übergeworfen. Darunter aber wird eine Epoche voller Schmerz und Schrecken sichtbar. Und deshalb lohnt es sich, „Wiesenstein“ zu lesen.
Pleschinski erzählt direkt
und plastisch vom Kriegsende
und den Monaten danach
Eine „mystische Schale seiner
Seele“ war die Villa in
Agnetendorf für den Dichter
Wenn Hauptmann aus seinem
Dämmerschlaf erwacht,
referiert er aus seinen Werken
Gerhart Hauptmann mit Annie Pollak, seiner Sekretärin, in der Villa Wiesenstein. Im Hintergrund das Gemälde „Margarete Hauptmann in großer Abendrobe (1906)“ von Dora Hitz.
Foto: bpk / Staatsbibliothek zu BerLIN
Hans Pleschinski:
Wiesenstein. Roman.
C.H. Beck Verlag, München 2018. 552 Seiten, 24 Euro. E-Book 19,99 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Abseits
Hans Pleschinski erzählt in seinem
neuen Roman „Wiesenstein“
vom alten Gerhart Hauptmann
der Jahre 1945/46
VON JÖRG MAGENAU
Es gibt Sätze, die man definitiv nicht mehr schreiben darf. Zum Beispiel: „Und in der Ferne bellte ein Hund.“ Gerhard Henschel hat sich schon vor Jahren gründlich mit diesem Phänomen befasst, als er bellende Hunde bei Rosamunde Pilcher, Marion Zimmer Bradley, Ralph Giordano, Robert Harris und vielen anderen aufspürte. Selbst Astrid Lindgren schrieb in „Kalle Blomquist“: „In der Ferne bellte ein Hund auf, und danach war die Stille noch tiefer als zuvor.“ In Hans Pleschinskis Roman „Wiesenstein“ um den altersschwachen Literaturnobelpreisträger Gerhart Hauptmann findet sich der bellende Hund auf Seite 241. „Viel später, bereits früh, zog er die Bettdecke über sich“, heißt es da. „In der Ferne schlug ein Hund an.“
Der bellende Hund in der Literatur ist etwa das, was in biedermeierlichen Wohnzimmern der röhrende Hirsch gewesen ist. Und so lässt Pleschinski seine Kapitel auch gerne mit Sätzen beginnen, die klingen wie zu Sprache geronnene Landschaftsmalerei des 19. Jahrhunderts. „Sommerluft bauschte die Tüllvorhänge des Galeriezimmers.“ Oder: „In phantastischer Vielfalt rankten sich Eisblumen über die Fensterscheiben.“ Oder, wenn es historisch konkret werden soll: „Vor den Fenstern wellten und falteten sich Bettlaken, weiße Fahnen in Regen und Wind.“ Bettlaken, die sich selber falten, lassen womöglich auf ein Zauberschloss schließen. Es handelt sich aber um die Villa Wiesenstein im schlesischen Riesengebirge, die von keinem Zauberer, sondern von dem leicht senilen Gerhart Hauptmann und seiner Entourage bewohnt wird. Noch. Denn wir schreiben das Jahr 1945, der Krieg ist verloren, die Zukunft ungewiss.
Die historische Zäsur, die mit der Vertreibung der Deutschen und der Neuansiedlung der aus dem Osten ihrerseits vertriebenen Polen endete, ist der Handlungsraum dieses historischen Romans, und immer da, wo es um den Zeithintergrund geht, ist „Wiesenstein“ trotz aller kolportagehaften Elemente eindrucksvoll. Das Thema der Vertreibung ist ja immer noch heikel. Die Westdeutschen wollten, als sie die Flüchtlinge aus Schlesien aufnehmen mussten, von deren Schicksal nicht viel wissen, und später stand die Auseinandersetzung mit dem Leid der Vertriebenen unter Revanchismusverdacht.
Die Ostverträge Willy Brandts und die Anerkennung der Oder-Neiße-Grenze zementierten die Nachkriegsordnung, aber erst nach 1989 wurde ein anderer Blick auf die Thematik möglich. Günter Grass erprobte den Wandel als Erster 1992 in seiner Erzählung „Unkenrufe“.
Hans Pleschinski erzählt direkt und plastisch vom Kriegsende und den Monaten danach. Schlesien war lange Zeit eine noch unberührte Oase am Rande des Geschehens. Die Rote Armee zog direkt in Richtung Berlin und ließ diese Gegend erst einmal links liegen. Erst nach der bedingungslosen Kapitulation wurde auch Schlesien besetzt – mit den üblichen Konsequenzen: Vergewaltigungen, Plünderungen, Morde und Selbstmorde und sehr bald dann auch mit der Aufforderung, Häuser und Dörfer zu verlassen. Das Chaos, die Vergeltung, die Rache, die Unsicherheit und all die Angst ums nackte Leben schildert Pleschinski packend und so, dass man tatsächlich begreift, was damals geschah.
Dabei kommt er nie in die Versuchung, das Leiden der Vertriebenen auszuschlachten und Täter und Opfer zu verwechseln. Nie verliert er den Gesamtzusammenhang aus den Augen und betont immer wieder, was diesem Schrecken vorausging. Nur die Villa Wiesenstein oben auf dem Berg und die Berühmtheit des Nobelpreisträgers standen noch eine Zeit lang unter besonderem Schutz der Sowjets. Als die polnische Verwaltung dann die Umsiedlung durchsetzen wollte, starb Gerhart Hauptmann im Juli 1946. Er hatte schon zuvor klargemacht, dass man ihn mit den Füßen voraus aus dem Gebäude tragen müsse. Auf Hiddensee, wo er ein Sommerhaus besaß, wurde er bestattet.
Die vom Architekten Hans Grisebach entworfene Villa Wiesenstein war ein wuchtiger Außenposten des Dichter-und-Denker-Deutschlands. Ihre Größe und Massivität, die schroffe Abgeschiedenheit und demonstrative Pracht entsprachen den Zumutungen der Geschichte, gegen die Hauptmann sich wappnete.
Hier schrieb er, der zuvor kein Freund des deutschen Kaisers und eher pazifistisch eingestellt war, 1914 unsägliche Verse zum Lob des Krieges: „Diesen Leib den halt ich hin / Flintenkugeln und Granaten: / Eh ich nicht durchlöchert bin, / Kann der Feldzug nicht geraten.“ Hier duckte er sich vor dem Nationalsozialismus und dem Zweiten Weltkrieg weg, so gut es ging, zog sich in Mystizismus, Heimatliebe und in sein Arbeitszimmer im Turm zurück, der „die Dämonen schrecken und der Welt von Feinden Trotz bieten“ sollte.
Eine „mystische Schale seiner Seele“ war ihm das Gebäude – seine Seele hatte die Schale wohl nötig. Noch 1942 ließ er sich zum 80. Geburtstag von Gauleiter Karl Hanke in Breslau feiern. 1945 empfing er den sowjetischen Oberst Sokolow und erhielt Besuch von Johannes R. Becher, der den greisen Dichter für die Sache des Kommunismus gewinnen wollte. „Ja, ich werde zurückkommen“, soll er zu ihm gesagt haben, war aber schon zu erschöpft, um das Gespräch fortzusetzen. Pleschinski widmet diesem eher gespenstischen Besuch ein eigenes Kapitel.
Hätte er es dabei belassen und Hauptmann allein in die Nachkriegsgegenwart gestellt, hätte „Wiesenstein“ ein großer, zeithistorischer Roman werden können. Doch er wollte zugleich auch eine umfassende Biografie schreiben, Leben und Werk Hauptmanns aufblättern – ein Werk, das – abgesehen vielleicht von dem revolutionären Sozialdrama „Die Weber“ und dem Lustspiel „Der Biberpelz“ – in ein großes Vergessen versunken ist. Was Pleschinski zitiert – und er zitiert sehr viel –, ist nicht dazu angetan, Hauptmann wiederzuentdecken und Lust auf seine Schriften zu machen.
Der Tonfall seiner den Jambus bevorzugenden Lyrik und seiner in Hexametern gehaltenen Versepik ist allzu sehr Imitat der Klassik. Doch wo er Goethe überbieten wollte, klingt er bloß wie Stefan George.
Hauptmann hielt sich für den Nachfolger Goethes und sah auch ganz so aus. Mit seinem wehenden weißen Haar ist er auf manchen Bildern kaum von seinem Vorbild zu unterscheiden, und auch Pleschinski lässt diese Pointe nicht aus, wenn er immer wieder auf das imponierende Haupthaar des Dichterfürsten zu sprechen kommt. Sein Antipode dagegen war Thomas Mann, mit dem Pleschinski sich in seinem vorigen Roman „Königsallee“ befasst hat. Hauptmann nannte ihn despektierlich „Dr. Spitz“, weil er es ihm übel nahm, im „Zauberberg“ als schwafelnder, trinkender Kaffeekönig Mynheer Peeperkorn verspottet worden zu sein.
Wenn Thomas Mann seinen Peeperkorn gerne „Schwamm drüber“ sagen ließ, sagt Pleschinskis Hauptmann nun: „Egal“. Darin liegt seine letzte Weisheit. Zu langen Reden ist er sowieso nur noch an besseren Tagen fähig. Dann diktiert er seiner Sekretärin Korrekturen zu seinen Dramen und revidiert die Romane.
Pleschinski nutzt die Gelegenheit, uns auf diese Weise auch Seltsamkeiten wie die matriarchale Utopie „Insel der großen Mutter“ näherzubringen. Der Dichter streicht viele „ja“-Füllsel und verbessert nach längerem Nachdenken ein „je“ in ein „desto“. An dieser Arbeit teilnehmen zu müssen ist mühsam, zumal Pleschinski Hauptmanns Stottern nicht bloß erwähnt, sondern über die gesamte Romanlänge abbildet, indem er seine Wo-Wo-Worte aufsprengt. Da ist man dann froh, wenn endlich die Russen kommen.
Der alte Hauptmann ist umgeben von seiner Frau Margarete und von Diener, Gärtner, Masseur, Köchin, Krankenschwester, Archivar und Sekretärin. Sie alle sind zwar historisch verbürgt, literarisch aber nur dazu da, um über Hauptmann zu sprechen. Sie sind Handpuppen, die Informationen vermitteln müssen. Schon die Fahrt aus dem zerstörten Dresden zurück nach Hirschberg, mit der Pleschinski den Roman eröffnet, setzt ein langatmiges Gespräch zwischen dem Masseur und der Sekretärin Annie Pollak in Szene, in dem sie ihm das Leben des Dichters und die wichtigsten Werke näherbringt. Und wenn Hauptmann zwischendurch aus seinem Dämmerschlaf erwacht, referiert er auch gleich aus seinen Dramen und sagt über seinen „Hamlet in Wittenberg“: „Ist mir nicht ganz gelungen – das Wesen des Zau-Zauderers rätselhaft zu gestalten. Zu viel Aktion, Duelle und Gezeche statt Melancholie.“
„Wiesenstein“ leidet nicht an zu viel Aktion, sondern an zu viel papierenem Gespräch, an einer hölzernen Konstruktion und an Figuren, die jenseits ihrer Hauptmannerörterungen ganz uninteressant sind, vor allem aber an zu vielen altväterlichen Sätzen: „Er gewahrte behagliches Feuer im Kamin.“ „Für das Schilf am Teichrand griff er gleichfalls zur Sense.“ „Auf der Balustrade schellte das Telefon.“
Ist das die Sprache Pleschinskis? Imitiert er damit den Sprachduktus der Hauptmann-Zeit? Oder Hauptmann selbst? Egal, würde Hauptmann sagen. Schwamm drüber. Mit der Sprache ist es wie mit den Figuren und dem in der Ferne bellenden Hund. Das Romanhafte ist dem Geschehen bloß als dünnes, durchscheinendes Mäntelchen übergeworfen. Darunter aber wird eine Epoche voller Schmerz und Schrecken sichtbar. Und deshalb lohnt es sich, „Wiesenstein“ zu lesen.
Pleschinski erzählt direkt
und plastisch vom Kriegsende
und den Monaten danach
Eine „mystische Schale seiner
Seele“ war die Villa in
Agnetendorf für den Dichter
Wenn Hauptmann aus seinem
Dämmerschlaf erwacht,
referiert er aus seinen Werken
Gerhart Hauptmann mit Annie Pollak, seiner Sekretärin, in der Villa Wiesenstein. Im Hintergrund das Gemälde „Margarete Hauptmann in großer Abendrobe (1906)“ von Dora Hitz.
Foto: bpk / Staatsbibliothek zu BerLIN
Hans Pleschinski:
Wiesenstein. Roman.
C.H. Beck Verlag, München 2018. 552 Seiten, 24 Euro. E-Book 19,99 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 05.04.2018Der Opel Blitz kroch über die Mordgrundbrücke
Der letzte große Geist des deutschen Geniekults: Hans Pleschinski erzählt das Leben des Dramatikers Gerhart Hauptmanns
Mit dem Roman "Königsallee" hatte Hans Pleschinski 2013 großen Erfolg. Eigentlich ging es nur um eine Nebensache: Thomas Manns "letzte Leidenschaft" beim fiktiven unverhofften Wiedersehen mit einem Geliebten. Wie unversehens aber ließ die Kunst des witzigen und geschichtsbewussten Erzählers auch das Lebensgefühl der frühen Bundesrepublik erstehen.
Nun legt Hans Pleschinski einen Roman über Gerhart Hauptmann vor, den anderen Anwärter auf den Thron des deutschen Dichterkönigs im zwanzigsten Jahrhundert. Ein Gegenstück zu "Königsallee" konnte daraus aber nicht werden, dazu sind die Voraussetzungen zu verschieden. Thomas Manns Ruhm als Romancier wie als politisch engagierter Akteur der europäisch-amerikanischen Geschichte strahlt nach wie vor hell. Dagegen wurde in Hauptmanns Fall schon anlässlich der zum 150. Geburtstag 2012 von Peter Sprengel vorgelegten Biographie gefragt, ob der Dichter nicht schon weitgehend vergessen sei.
Unzweifelhaft ist Hauptmann als Autor im Habitus des deutschen Geniekults längst historisch geworden. Den meisten Jüngeren ist der Name nicht mehr geläufig. Das schmälert Hauptmanns Verdienste nicht. Manchen Avantgardisten hat der Schimmel noch früher ereilt. Ein Dramatiker muss für das Publikum seiner Zeit schreiben, wenn er Erfolg haben will, und das wollte Hauptmann zweifellos.
Hans Pleschinski hat angesichts dieser Lage der Rezeption ein Verfahren entwickelt, das historische Distanz kenntlich machen soll, gleichzeitig aber Vergegenwärtigung ermöglichen. Das zeigt sich bereits in dem verblüffenden ersten Satz der Erzählung. "Der Opel Blitz kroch über die Mordgrundbrücke." Der Erzähler schildert den einstmals legendären Krankentransporter als ein Dingsymbol, an dem die raumzeitliche Ausgangssituation entfaltet wird. Das Gefährt ist notdürftig instand gesetzt, mangels Benzin läuft es mit einem Holzvergaser.
Es ist März 1945, und Deutschland ist am Ende. Der Wagen ist mit Sondergenehmigung der Gauleitung von Pirna nach Dresden gekommen, um einen berühmten Mann abzuholen. Einer der jungen Fahrzeugführer kennt ein Drama des Dichters, "Die Weber"; für seine Mutter, so berichtet er, ist der Nobelpreisträger "der letzte große Geist Deutschlands". Etwas von solcher Verehrung, wenngleich nicht ohne kritische Töne, erkennt der Leser von vornherein in Hans Pleschinskis Text.
Gerhart Hauptmann und seine Frau Margarete haben sich einer Kur in einem noblen Sanatorium unterzogen. Währenddessen wurde Dresden zerstört, aus Schlesien hat die Flucht eingesetzt. Trotzdem wollen die Hauptmanns unbedingt dorthin zurück, in ihre Villa im Riesengebirge. So führt sie der Weg durch das ganze grausame Elend in Schlesien, über einen "mit Leichen gedüngten Boden", den Pleschinski in beinahe barocker Fülle beschreibt.
Dabei gerät die Handlungsführung zeitweise außer Proportion. Zu gewaltig erscheint die Kulisse im Verhältnis zu denen, die nach Hause wollen. Daher könnte es so scheinen, als sollte den exzentrischen Hauptmanns das Bedürfnis nach gutem Leben als Schuld drastisch vor Augen geführt werden.
Empörte Schuldzuweisung ist aber so wenig Pleschinskis Absicht wie eine neue Deutung der Rolle Hauptmanns im Nationalsozialismus. Es bleibt bei dem Motivkomplex der partiellen Übereinstimmung mit nationalsozialistischer Ideologie, der mythisch unterlegten Heimatbindung und des Opportunismus aus Sorge um den Lebensstandard. Auf der anderen Seite aber steht ein Werk, das den Nazis gar nicht passte und auch eine wie immer heimliche Verweigerung des Mitmachens.
Gegen jede Wahrscheinlichkeit erreichen die Hauptmanns ihr Anwesen, eigentlich eher eine "Schutz- und Trutzburg", gebautes Rückzugsbedürfnis. Der als Dramatiker der Unterschicht berühmt und vermögend wurde, führte hinter dicken Mauern ein aristokratisches Leben mit Dienstboten und strenger Etikette, zum Diner hatten die Gäste Abendkleidung zu tragen.
Zum Charakter dieser Villa Wiesenstein gehört auch die Lage in der schlesischen Landschaft. Hauptmanns mythisch aufgeladenes Landschaftserlebnis, in dem jeder Grashalm das Deutsche repräsentiere, spielte zweifellos auch eine Rolle bei seiner Entscheidung, Deutschland nicht zu verlassen. Nicht zufällig hat der Erzähler von Manns "Doktor Faustus" die Romantisierung der Landschaft als bedenklichen vernunftwidrigen Zug des deutschen Wesens beschrieben. Zu Recht nennt Pleschinski den Roman "Wiesenstein": In dem Haus spiegelt sich umfassend Hauptmanns feierliches Lebensgefühl, in dem sich eine mythische Siegesgewissheit mit Angst vor der Welt paaren konnte. Seine letzten Worte vor seinem Tod im Juni 1946 sollen gelautet haben: "Bin ich noch in meinem Haus?"
Pleschinski erzählt die Geschichte des "liebend irrenden" Dichters mit offensichtlicher Entdeckerfreude, gerade was das mythisch beseelte Spätwerk angeht. Daran will er den Leser in langen Zitaten teilhaben lassen, wofür der Erzählanlass oft künstlich geschaffen wird. Auch wollte er nicht darauf verzichten, aus den unveröffentlichten Tagebüchern der Hauptmanns zu zitieren. Auch war es Pleschinskis Ehrgeiz, die Figurenrede weitgehend aus authentischen Dokumenten zu entwickeln, die einmontiert oder in wörtlicher Rede nachgeahmt werden bis hin zum Stottern des Dichters. Das klingt dann gelegentlich ziemlich hölzern. Bei der Kürze der erzählten Zeit, nur etwas mehr als Hauptmanns letztes Jahr, musste schließlich die Möglichkeit für die Episoden aus dem früheren Leben Hauptmanns in manchmal recht konstruiert wirkenden Zusammenkünften von Nebenfiguren je neu geschaffen werden.
Die gewählte Konzeption fordert also dem Leser einiges an Konzentration und Geduld ab und beeinträchtigt die Lesbarkeit und Flüssigkeit der Erzählung, die Pleschinskis Bücher bisher ausgezeichnet hat. Der Roman basiert auf einer gewaltigen Recherche- und Energieleistung, und der Leser wird Respekt davor haben, dass Pleschinski es sich in der Rekonstruktion von Hauptmanns Welt und Zeit nicht einfach gemacht hat. Im Übrigen gibt es in "Wiesenstein" viele Episoden, in denen man den gewitzten, warmherzigen und unterhaltsamen Erzähler Hans Pleschinski wiedererkennt.
FRIEDMAR APEL
Hans Pleschinski:
"Wiesenstein".
Roman.
Verlag C. H. Beck, München 2018. 552 S., geb., 24,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Der letzte große Geist des deutschen Geniekults: Hans Pleschinski erzählt das Leben des Dramatikers Gerhart Hauptmanns
Mit dem Roman "Königsallee" hatte Hans Pleschinski 2013 großen Erfolg. Eigentlich ging es nur um eine Nebensache: Thomas Manns "letzte Leidenschaft" beim fiktiven unverhofften Wiedersehen mit einem Geliebten. Wie unversehens aber ließ die Kunst des witzigen und geschichtsbewussten Erzählers auch das Lebensgefühl der frühen Bundesrepublik erstehen.
Nun legt Hans Pleschinski einen Roman über Gerhart Hauptmann vor, den anderen Anwärter auf den Thron des deutschen Dichterkönigs im zwanzigsten Jahrhundert. Ein Gegenstück zu "Königsallee" konnte daraus aber nicht werden, dazu sind die Voraussetzungen zu verschieden. Thomas Manns Ruhm als Romancier wie als politisch engagierter Akteur der europäisch-amerikanischen Geschichte strahlt nach wie vor hell. Dagegen wurde in Hauptmanns Fall schon anlässlich der zum 150. Geburtstag 2012 von Peter Sprengel vorgelegten Biographie gefragt, ob der Dichter nicht schon weitgehend vergessen sei.
Unzweifelhaft ist Hauptmann als Autor im Habitus des deutschen Geniekults längst historisch geworden. Den meisten Jüngeren ist der Name nicht mehr geläufig. Das schmälert Hauptmanns Verdienste nicht. Manchen Avantgardisten hat der Schimmel noch früher ereilt. Ein Dramatiker muss für das Publikum seiner Zeit schreiben, wenn er Erfolg haben will, und das wollte Hauptmann zweifellos.
Hans Pleschinski hat angesichts dieser Lage der Rezeption ein Verfahren entwickelt, das historische Distanz kenntlich machen soll, gleichzeitig aber Vergegenwärtigung ermöglichen. Das zeigt sich bereits in dem verblüffenden ersten Satz der Erzählung. "Der Opel Blitz kroch über die Mordgrundbrücke." Der Erzähler schildert den einstmals legendären Krankentransporter als ein Dingsymbol, an dem die raumzeitliche Ausgangssituation entfaltet wird. Das Gefährt ist notdürftig instand gesetzt, mangels Benzin läuft es mit einem Holzvergaser.
Es ist März 1945, und Deutschland ist am Ende. Der Wagen ist mit Sondergenehmigung der Gauleitung von Pirna nach Dresden gekommen, um einen berühmten Mann abzuholen. Einer der jungen Fahrzeugführer kennt ein Drama des Dichters, "Die Weber"; für seine Mutter, so berichtet er, ist der Nobelpreisträger "der letzte große Geist Deutschlands". Etwas von solcher Verehrung, wenngleich nicht ohne kritische Töne, erkennt der Leser von vornherein in Hans Pleschinskis Text.
Gerhart Hauptmann und seine Frau Margarete haben sich einer Kur in einem noblen Sanatorium unterzogen. Währenddessen wurde Dresden zerstört, aus Schlesien hat die Flucht eingesetzt. Trotzdem wollen die Hauptmanns unbedingt dorthin zurück, in ihre Villa im Riesengebirge. So führt sie der Weg durch das ganze grausame Elend in Schlesien, über einen "mit Leichen gedüngten Boden", den Pleschinski in beinahe barocker Fülle beschreibt.
Dabei gerät die Handlungsführung zeitweise außer Proportion. Zu gewaltig erscheint die Kulisse im Verhältnis zu denen, die nach Hause wollen. Daher könnte es so scheinen, als sollte den exzentrischen Hauptmanns das Bedürfnis nach gutem Leben als Schuld drastisch vor Augen geführt werden.
Empörte Schuldzuweisung ist aber so wenig Pleschinskis Absicht wie eine neue Deutung der Rolle Hauptmanns im Nationalsozialismus. Es bleibt bei dem Motivkomplex der partiellen Übereinstimmung mit nationalsozialistischer Ideologie, der mythisch unterlegten Heimatbindung und des Opportunismus aus Sorge um den Lebensstandard. Auf der anderen Seite aber steht ein Werk, das den Nazis gar nicht passte und auch eine wie immer heimliche Verweigerung des Mitmachens.
Gegen jede Wahrscheinlichkeit erreichen die Hauptmanns ihr Anwesen, eigentlich eher eine "Schutz- und Trutzburg", gebautes Rückzugsbedürfnis. Der als Dramatiker der Unterschicht berühmt und vermögend wurde, führte hinter dicken Mauern ein aristokratisches Leben mit Dienstboten und strenger Etikette, zum Diner hatten die Gäste Abendkleidung zu tragen.
Zum Charakter dieser Villa Wiesenstein gehört auch die Lage in der schlesischen Landschaft. Hauptmanns mythisch aufgeladenes Landschaftserlebnis, in dem jeder Grashalm das Deutsche repräsentiere, spielte zweifellos auch eine Rolle bei seiner Entscheidung, Deutschland nicht zu verlassen. Nicht zufällig hat der Erzähler von Manns "Doktor Faustus" die Romantisierung der Landschaft als bedenklichen vernunftwidrigen Zug des deutschen Wesens beschrieben. Zu Recht nennt Pleschinski den Roman "Wiesenstein": In dem Haus spiegelt sich umfassend Hauptmanns feierliches Lebensgefühl, in dem sich eine mythische Siegesgewissheit mit Angst vor der Welt paaren konnte. Seine letzten Worte vor seinem Tod im Juni 1946 sollen gelautet haben: "Bin ich noch in meinem Haus?"
Pleschinski erzählt die Geschichte des "liebend irrenden" Dichters mit offensichtlicher Entdeckerfreude, gerade was das mythisch beseelte Spätwerk angeht. Daran will er den Leser in langen Zitaten teilhaben lassen, wofür der Erzählanlass oft künstlich geschaffen wird. Auch wollte er nicht darauf verzichten, aus den unveröffentlichten Tagebüchern der Hauptmanns zu zitieren. Auch war es Pleschinskis Ehrgeiz, die Figurenrede weitgehend aus authentischen Dokumenten zu entwickeln, die einmontiert oder in wörtlicher Rede nachgeahmt werden bis hin zum Stottern des Dichters. Das klingt dann gelegentlich ziemlich hölzern. Bei der Kürze der erzählten Zeit, nur etwas mehr als Hauptmanns letztes Jahr, musste schließlich die Möglichkeit für die Episoden aus dem früheren Leben Hauptmanns in manchmal recht konstruiert wirkenden Zusammenkünften von Nebenfiguren je neu geschaffen werden.
Die gewählte Konzeption fordert also dem Leser einiges an Konzentration und Geduld ab und beeinträchtigt die Lesbarkeit und Flüssigkeit der Erzählung, die Pleschinskis Bücher bisher ausgezeichnet hat. Der Roman basiert auf einer gewaltigen Recherche- und Energieleistung, und der Leser wird Respekt davor haben, dass Pleschinski es sich in der Rekonstruktion von Hauptmanns Welt und Zeit nicht einfach gemacht hat. Im Übrigen gibt es in "Wiesenstein" viele Episoden, in denen man den gewitzten, warmherzigen und unterhaltsamen Erzähler Hans Pleschinski wiedererkennt.
FRIEDMAR APEL
Hans Pleschinski:
"Wiesenstein".
Roman.
Verlag C. H. Beck, München 2018. 552 S., geb., 24,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main