Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 02.04.2015Das Bilderbuch wird zunehmend zum Schauplatz einer Welt, in der die kindlichen Gefühle im Mittelpunkt stehen.
In der Kindsein mehr bedeutet, als zu einem wertvollen Mitglied der Gesellschaft erzogen zu werden. Besonders in diesem Frühjahr finden sich wieder, wie in den 70er- und 80er-Jahren, pädagogische Utopien, als entlastendes Spiel für Freiheit und Selbstbestimmung
Genug ist genug
Eine pädagogische Utopie
Illustration aus Emily Hughes: Wild
Wild, einfach nur wild und glücklich wächst das kleine Mädchen im Wald auf, lernt alles von den Tieren, in diesem Paradies, gemalt als ein üppiger bunter Dschungel. Ein wunderbarer Platz zum Großwerden und Leben. Bis diese komischen Tiere auftauchen, ein Menschenpaar, das den Wildling in die Zivilisation entführt. Statt Waldidylle Anpassung und Lernen. Entsetzte große Augen schauen nun aus den Bildern: „Sie sprachen falsch, sie aßen falsch, sie spielten falsch.“ Bis zum endgültigen Satz: „Sie machten alles falsch.“ Dieses vernichtende Urteil des kleinen Mädchens deutet konsequent schon auf den ungewöhnlichen Ausgang des Bilderbuchs Wild von Emily Hughes hin.
Denn die Autorin ist weit davon entfernt, das Wolfskind oder Mogli als literarische Vorbilder zu nehmen. Auch der Vergleich mit Sendaks wilden Kerlen, den der Klappentext des Bilderbuches zieht, ist falsch. Denn anders als in Wo die wilden Kerle wohnen gibt es für dieses wilde Kind keine Rückkehr in das Kinderzimmer, wo das Essen noch warm ist. Zu weit ist in dieser pädagogischen Utopie die Welt der ursprünglichen autonomen Kindheit von den Dressur- und Erziehungsaktionen der Erwachsenen-Zivilisation entfernt.
Eine Entfernung, die im realen Erziehungsalltag mit Anpassung endet und in dieser Geschichte eine ungeheuere Wut freisetzt. Mit dem Schlachtruf „Genug ist genug“ beginnt eine Zerstörungsorgie, die von der Zivilisation nichts mehr übrig lässt, und die Rückkehr zur Freude aller – auch der gescheiterten Erwachsenen – in den Wald einleitet. Sogar die Haustiere, Hund und Katze, die ziemlich verstört diese Domestizierungsversuche erleben, begleiten das Mädchen in die Idylle auf den letzten zwei großen Doppelseiten.
Lässt dieses Bilderbuch die erwachsenen Vorleser ratlos zurück? Der Schlusssatz „Denn man kann nicht zähmen, was so wild und glücklich ist“, sollte von ihnen nicht vergessen werden. (ab 4 Jahre)
ROSWITHA BUDEUS-BUDDE
Emily Hughes: Wild. Aus dem Englischen von Stephanie Menge. Sauerländer 2015. 32 Seiten, 14,99 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
In der Kindsein mehr bedeutet, als zu einem wertvollen Mitglied der Gesellschaft erzogen zu werden. Besonders in diesem Frühjahr finden sich wieder, wie in den 70er- und 80er-Jahren, pädagogische Utopien, als entlastendes Spiel für Freiheit und Selbstbestimmung
Genug ist genug
Eine pädagogische Utopie
Illustration aus Emily Hughes: Wild
Wild, einfach nur wild und glücklich wächst das kleine Mädchen im Wald auf, lernt alles von den Tieren, in diesem Paradies, gemalt als ein üppiger bunter Dschungel. Ein wunderbarer Platz zum Großwerden und Leben. Bis diese komischen Tiere auftauchen, ein Menschenpaar, das den Wildling in die Zivilisation entführt. Statt Waldidylle Anpassung und Lernen. Entsetzte große Augen schauen nun aus den Bildern: „Sie sprachen falsch, sie aßen falsch, sie spielten falsch.“ Bis zum endgültigen Satz: „Sie machten alles falsch.“ Dieses vernichtende Urteil des kleinen Mädchens deutet konsequent schon auf den ungewöhnlichen Ausgang des Bilderbuchs Wild von Emily Hughes hin.
Denn die Autorin ist weit davon entfernt, das Wolfskind oder Mogli als literarische Vorbilder zu nehmen. Auch der Vergleich mit Sendaks wilden Kerlen, den der Klappentext des Bilderbuches zieht, ist falsch. Denn anders als in Wo die wilden Kerle wohnen gibt es für dieses wilde Kind keine Rückkehr in das Kinderzimmer, wo das Essen noch warm ist. Zu weit ist in dieser pädagogischen Utopie die Welt der ursprünglichen autonomen Kindheit von den Dressur- und Erziehungsaktionen der Erwachsenen-Zivilisation entfernt.
Eine Entfernung, die im realen Erziehungsalltag mit Anpassung endet und in dieser Geschichte eine ungeheuere Wut freisetzt. Mit dem Schlachtruf „Genug ist genug“ beginnt eine Zerstörungsorgie, die von der Zivilisation nichts mehr übrig lässt, und die Rückkehr zur Freude aller – auch der gescheiterten Erwachsenen – in den Wald einleitet. Sogar die Haustiere, Hund und Katze, die ziemlich verstört diese Domestizierungsversuche erleben, begleiten das Mädchen in die Idylle auf den letzten zwei großen Doppelseiten.
Lässt dieses Bilderbuch die erwachsenen Vorleser ratlos zurück? Der Schlusssatz „Denn man kann nicht zähmen, was so wild und glücklich ist“, sollte von ihnen nicht vergessen werden. (ab 4 Jahre)
ROSWITHA BUDEUS-BUDDE
Emily Hughes: Wild. Aus dem Englischen von Stephanie Menge. Sauerländer 2015. 32 Seiten, 14,99 Euro.
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