Die siebzehnjährige Tracy lebt mit Vater und Bruder in der Wildnis Alaskas. Sie hilft bei der Zucht und beim Training der Schlittenhunde und verbringt viel Zeit mit der Jagd im Wald. Eines Tages wird sie auf einem Streifzug von einem Fremden überfallen. Tracy wehrt sich und zückt ihr Messer, danach kann sie sich an nichts mehr erinnern. Zu Hause wagt sie nicht, von dem Vorfall zu berichten. Als ein mysteriöser jugendlicher Ausreißer bei der Familie auftaucht und behauptet, von einem Mann verfolgt zu werden, entsteht in Tracy der Verdacht, dass es sich dabei um den verletzten Unbekannten handelt. Immer mehr zu Jesse hingezogen, wird sie von panischer Angst vor dem Fremden im Wald erfasst. Ihr entgleitet alles, und sie zieht erneut ihr Messser ... In einem außergewöhnlichen Genremix entwickelt Jamey Bradbury eine dramatische Geschichte um ihre jugendliche Hauptfigur, deren animalisches Wesen zugleich fasziniert und verstört. John Irving charakterisiert den Roman als "ungewöhnliche Liebesgeschichte und gruseligen Horrorthriller, der sowohl an die Brontë-Schwestern wie an Stephen King gemahnt".
Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Ein Spiel mit Genres und Geschlechtern ist für Rezensent Hannes Hintermeier der Roman von Jamey Bradbury. Im Mittelpunkt steht die Siebzehnjährige Tracy Sue, die nicht nur für ihren Schlittenhunde züchtenden Vater eine burschikose Ausnahmeerscheinung ist. Eher vorsichtig umschreibt Hintermeier seine Kritik an der Geschichte um einen mutmaßlichen Schatz, Verfolgungsängste, viel Blut und das Erwachsenwerden in einer rauen Welt. Nicht unerwähnt lässt Hintermeier, dass Bradbury einige Jahre als Assistentin von John Irving gearbeitet hat, und ein Debüt vorlegt, in dem der komplette Bruch mit der Zivilisation ein "schwebender Erzählstrom" voller Metamorphosen sei.
© Perlentaucher Medien GmbH
© Perlentaucher Medien GmbH
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 06.02.2023Blut tut ihr gut
Jamey Bradbury verschwindet in Alaskas Wäldern
"In meinen wildesten Träumen hätte ich mir ein Mädchen wie dich nicht ausdenken können", sagt der Vater zu seiner Tochter am nächtlichen Lagerfeuer. Tatsächlich braucht man für eine Figur wie Tracy Sue Petrikoff sehr viel Phantasie. Die Siebzehnjährige ist klein, muskulös, intelligent, wild, gefährlich - und mit allen Techniken, die es zum Überleben in der Wildnis Alaskas braucht, ausgestattet. Ein Menschentier, das am liebsten im Wald verschwindet und das Blut seiner Beutetiere trinkt.
Das hat sie von ihrer Mutter geerbt. Diese ist seit bald zwei Jahren tot. Ein rätselhafter Unfall, von einem Lkw überfahren. Was tat sie nachts allein auf der Landstraße? Der Vater züchtet Schlittenhunde, hält sich und seine Kinder Tracy und Scott mit Holzarbeit und Schneeräumen finanziell gerade so über Wasser. Der jüngere Bruder stützt die keine Auseinandersetzung scheuende Schwester, hält sich aber - anders als sie, die durchdreht, wenn sie nicht allein oder mit den Hunden losziehen kann - lieber mit Büchern im Warmen auf.
Mit der Wahrheit hat es Tracy nicht, und so verschweigt sie, was ihr im Wald widerfährt: "Ein Mann wie ein Baum" stürzt sich auf sie, nur mit Einsatz ihres Messers kann sich Tracy seiner erwehren. Später taucht der Verletzte am Hof der Petrikoffs auf, der Vater bringt ihn ins Krankenhaus. Von nun an wird dieser Tom Hatch zu Tracys Obsession. Sie entwickelt einen Verfolgungswahn, weil sie glaubt, Hatch werde kommen, um sich seinen Rucksack mit den viertausend Dollar, den sie im Wald fand, zu holen und um Rache zu nehmen. Mit dem Geld meldet sie sich heimlich beim Iditarod an, dem härtesten Schlittenhunderennen der Welt. Ihr Vater hat es bestritten, Tracy will, da sie achtzehn Jahre wird, zweimal antreten in einem Jahr, in der Junior- und in der Erwachsenenausgabe.
Der Rächer bleibt aus. Anstelle von Hatch erscheint ein Streuner namens Jesse Goodwin, ungefähr im gleichen Alter wie Tracy, der sich als Hilfsarbeiter verdingt und Lügengeschichten erzählt, die Tracy durchschaut, weil sie das Abenteuerbuch auswendig kennt, aus dem er seine Storys nimmt. Als sie herausfindet, dass Jesse obendrein nur vorgibt, ein Junge zu sein, wird die Geschichte richtig kompliziert. Und die Mauer, die Tracy gegenüber der Welt errichtet, erhält ihren Schlussstein.
Die in Ohio geborene, in Illinois aufgewachsene Jamey Bradbury ging nach einem Studium an der University of North Carolina als Freiwillige nach Afrika. Zwei Jahre arbeitete sie als Assistentin des amerikanischen Schriftstellers John Irving, bei einem weiteren Freiwilligeneinsatz blieb sie in Alaska hängen. Seit zwanzig Jahren lebt sie in Anchorage. Ihr 2018 erschienenes Debüt "The Wild Inside" ist nun unter dem simplifizierenden Titel "Wild" in deutscher Übersetzung erschienen. Irving, der den Schreibprozess begleitet hat, steuert eine Leseempfehlung bei, in der er den Roman zwischen den Brontë-Schwestern und Stephen King ansiedelt.
"Wenn man teilt, was im Blut ist, ist man einem anderen Menschen so nah, wie es überhaupt nur geht." Von Beginn an legt es Bradbury darauf an, die Spur zu verwischen, ob hier Tracy als Icherzählerin oder eine auktoriale Stimme am Werk ist, die Sätze wie diesen produziert: "Ich schätze, es macht keinen Sinn, eine Geschichte zu lesen, wo die Hauptfigur am Ende genauso wie am Anfang ist." Bradbury spielt mit einer unbeholfenen Syntax, so als könne Tracy kein besseres Englisch - schließlich ist sie wegen körperlicher Gewalt Mitschülern gegenüber der Schule verwiesen worden und leidet nun unter dem Hausarrest nebst Hundeverbot. Die Übersetzung von Lydia Dimitrow schießt gelegentlich übers Ziel hinaus. Das Präteritum "schleifte" bedeutet einfach etwas anderes als das Schärfen eines Messers.
Die Grenzen zwischen Mensch, Tier und Vampir lässt Bradbury verschwimmen; ihre Protagonistin ist ein radikaler Gegenentwurf zu jeder Form zivilisatorischer Regeln. Der Roman kümmert sich nicht um Genregrenzen, und er spielt mit Geschlechterfragen. Vor dem Setting einer übermächtigen Natur und eines Landes im Vor-Digitalzeitalter entsteht ein Wechselspiel zwischen "inside" und "outside", ein schwebender Erzählstrom, von Metamorphosen getrieben. Bis Tracy ihre Bestimmung findet, fließt viel Blut. HANNES HINTERMEIER
Jamey Bradbury: "Wild". Roman.
Aus dem Amerikanischen von Lydia Dimitrow.
Lenos Verlag, Basel 2022.
390 S., br., 26.- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Jamey Bradbury verschwindet in Alaskas Wäldern
"In meinen wildesten Träumen hätte ich mir ein Mädchen wie dich nicht ausdenken können", sagt der Vater zu seiner Tochter am nächtlichen Lagerfeuer. Tatsächlich braucht man für eine Figur wie Tracy Sue Petrikoff sehr viel Phantasie. Die Siebzehnjährige ist klein, muskulös, intelligent, wild, gefährlich - und mit allen Techniken, die es zum Überleben in der Wildnis Alaskas braucht, ausgestattet. Ein Menschentier, das am liebsten im Wald verschwindet und das Blut seiner Beutetiere trinkt.
Das hat sie von ihrer Mutter geerbt. Diese ist seit bald zwei Jahren tot. Ein rätselhafter Unfall, von einem Lkw überfahren. Was tat sie nachts allein auf der Landstraße? Der Vater züchtet Schlittenhunde, hält sich und seine Kinder Tracy und Scott mit Holzarbeit und Schneeräumen finanziell gerade so über Wasser. Der jüngere Bruder stützt die keine Auseinandersetzung scheuende Schwester, hält sich aber - anders als sie, die durchdreht, wenn sie nicht allein oder mit den Hunden losziehen kann - lieber mit Büchern im Warmen auf.
Mit der Wahrheit hat es Tracy nicht, und so verschweigt sie, was ihr im Wald widerfährt: "Ein Mann wie ein Baum" stürzt sich auf sie, nur mit Einsatz ihres Messers kann sich Tracy seiner erwehren. Später taucht der Verletzte am Hof der Petrikoffs auf, der Vater bringt ihn ins Krankenhaus. Von nun an wird dieser Tom Hatch zu Tracys Obsession. Sie entwickelt einen Verfolgungswahn, weil sie glaubt, Hatch werde kommen, um sich seinen Rucksack mit den viertausend Dollar, den sie im Wald fand, zu holen und um Rache zu nehmen. Mit dem Geld meldet sie sich heimlich beim Iditarod an, dem härtesten Schlittenhunderennen der Welt. Ihr Vater hat es bestritten, Tracy will, da sie achtzehn Jahre wird, zweimal antreten in einem Jahr, in der Junior- und in der Erwachsenenausgabe.
Der Rächer bleibt aus. Anstelle von Hatch erscheint ein Streuner namens Jesse Goodwin, ungefähr im gleichen Alter wie Tracy, der sich als Hilfsarbeiter verdingt und Lügengeschichten erzählt, die Tracy durchschaut, weil sie das Abenteuerbuch auswendig kennt, aus dem er seine Storys nimmt. Als sie herausfindet, dass Jesse obendrein nur vorgibt, ein Junge zu sein, wird die Geschichte richtig kompliziert. Und die Mauer, die Tracy gegenüber der Welt errichtet, erhält ihren Schlussstein.
Die in Ohio geborene, in Illinois aufgewachsene Jamey Bradbury ging nach einem Studium an der University of North Carolina als Freiwillige nach Afrika. Zwei Jahre arbeitete sie als Assistentin des amerikanischen Schriftstellers John Irving, bei einem weiteren Freiwilligeneinsatz blieb sie in Alaska hängen. Seit zwanzig Jahren lebt sie in Anchorage. Ihr 2018 erschienenes Debüt "The Wild Inside" ist nun unter dem simplifizierenden Titel "Wild" in deutscher Übersetzung erschienen. Irving, der den Schreibprozess begleitet hat, steuert eine Leseempfehlung bei, in der er den Roman zwischen den Brontë-Schwestern und Stephen King ansiedelt.
"Wenn man teilt, was im Blut ist, ist man einem anderen Menschen so nah, wie es überhaupt nur geht." Von Beginn an legt es Bradbury darauf an, die Spur zu verwischen, ob hier Tracy als Icherzählerin oder eine auktoriale Stimme am Werk ist, die Sätze wie diesen produziert: "Ich schätze, es macht keinen Sinn, eine Geschichte zu lesen, wo die Hauptfigur am Ende genauso wie am Anfang ist." Bradbury spielt mit einer unbeholfenen Syntax, so als könne Tracy kein besseres Englisch - schließlich ist sie wegen körperlicher Gewalt Mitschülern gegenüber der Schule verwiesen worden und leidet nun unter dem Hausarrest nebst Hundeverbot. Die Übersetzung von Lydia Dimitrow schießt gelegentlich übers Ziel hinaus. Das Präteritum "schleifte" bedeutet einfach etwas anderes als das Schärfen eines Messers.
Die Grenzen zwischen Mensch, Tier und Vampir lässt Bradbury verschwimmen; ihre Protagonistin ist ein radikaler Gegenentwurf zu jeder Form zivilisatorischer Regeln. Der Roman kümmert sich nicht um Genregrenzen, und er spielt mit Geschlechterfragen. Vor dem Setting einer übermächtigen Natur und eines Landes im Vor-Digitalzeitalter entsteht ein Wechselspiel zwischen "inside" und "outside", ein schwebender Erzählstrom, von Metamorphosen getrieben. Bis Tracy ihre Bestimmung findet, fließt viel Blut. HANNES HINTERMEIER
Jamey Bradbury: "Wild". Roman.
Aus dem Amerikanischen von Lydia Dimitrow.
Lenos Verlag, Basel 2022.
390 S., br., 26.- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
"Ein großer Roman über Identität und ihre Grenzen." (Canal+) "Eine Hymne auf die Natur, aber auch ein phantastischer Roman und ein Thriller, der seinem Titel alle Ehre macht." (Libération)