»Völlig bescheuert« nannte Bundeskanzler Scholz die Aktionen der Klimaaktivisten »Letzte Generation«. Andere verurteilen den zivilen Ungehorsam der Umweltschützer gar als »Terror«, mittlerweile wird gegen den verhassten Protest sogar mit Präventivhaft vorgegangen. Entgegen der landläufigen Meinung, die solche wilden Protestformen als antidemokratisch abkanzelt, macht der Rechtswissenschaftler Tim Wihl in seiner präzisen Analyse deutlich, dass gerade diese Aktionen entscheidend zur Stärkung und Legitimierung der Demokratie beitragen.Wihl untersucht verschiedene Protestformen von Adbusting über Massendemonstrationen bis hin zu Besetzungen und Blockaden. Er vergleicht die Chancen politischer Freiheit in Deutschland, Frankreich, den USA oder Chile. Und er zeigt, dass das deutsche Protestrecht wesentlich an die Verfassung der Kaiserzeit anknüpft - und nicht etwa an das fortschrittliche Erbe der Revolution von 1918. Entschieden plädiert Wihl dafür, einem alternativen Verfassungsdenken zum Durchbruch zu verhelfen. Denn ziviler Ungehorsam ist keine Straftat, sondern eine demokratische Errungenschaft.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 30.04.2024Wohin mit der Protestative?
An Ehrgeiz mangelt es nicht, an argumentativer Solidität dagegen sehr: Tim Wihl skizziert eine äußerst leichtgewichtige Demokratietheorie.
Der Titel von Tim Wihls neuem Buch zitiert eine wirkmächtige Formulierung des politischen Philosophen Claude Lefort aus den 1970er-Jahren. Nur eine "wilde Demokratie", so meinte der damals, sei eine wahre Demokratie. Unermüdlich begebe sie sich auf die Suche nach ihrer "Grundlage" und "Rechtfertigung", getragen sei sie von Menschen, die sich streiten und gegenseitig herausfordern. Die "wilde Demokratie" setzte Lefort gegen die "gezähmte Demokratie", gegen Verbürgerlichung und Verwaltung. Sein Plädoyer passte in eine Zeit, in der ein Bundeskanzler mehr Demokratie wagen wollte, Hannah Arendt den protestierenden Studenten in den USA zurief: "Acting is fun!" - und die Band Steppenwolf den Hit "Born to Be Wild" landete.
Vieles von dem, was Lefort seinerzeit schrieb, passt sogar noch ins Jahr 2024: seine Warnung vor der "geschwächten Lebenskraft" der Demokratie, vor der politischen "Apathie" privatisierender Bürger, vor autoritären und totalitären Tendenzen. Und doch wirkt der Ausdruck "wilde Demokratie" heute wie ein politischer Jungbrunnen, von dem der Lack ab ist. Man ist schon froh, wenn möglichst viel mit rechten Dingen zugeht und wenn die Demokratie - ob nun wild oder zahm - nicht mit dem Rücken zur Wand steht. Manche denken bei "wilder Demokratie" vielleicht sogar an den Mann, der mit Fellmütze, Büffelhörnern und Speer am 6. Januar 2021 das Kapitol stürmte (und dann zu dreieinhalb Jahren Gefängnis verurteilt wurde).
Obwohl Tim Wihl als Jurist die Achtung der Institutionen mit der Staatsexamensmilch eingesaugt hat, lässt er sich von jenen Warnsignalen nicht schrecken und entscheidet sich für die Vorwärtsverteidigung der "wilden Demokratie". Mit dem Blick zurück auf Lefort hält er sich leider nicht auf - nur ein paar beiläufige Hinweise sind ihm vergönnt. Stattdessen skizziert er auf eigene Faust eine neue Demokratietheorie, die man nach Gusto erfrischend, ehrgeizig oder erratisch nennen mag. Vielleicht ist sie auch all dies zusammen.
Die beste Idee, die in diesem Buch steckt, ist die Unterscheidung zwischen "demokratischer 'Herrschaftsform' und 'Lebensform'". Wihl erinnert daran, dass Demokratie nicht nur in Regeln und Verfahren der Machtausübung besteht, sondern gelebt werden will - von Menschen in "Präsenz", öffentlich und körperlich. Es ist erfrischend, wie Wihl jene Doppelung weiterdenkt, also die Teilhabe und auch den Widerstand der Bürger nicht als Randbedingung des Regierungssystems, sondern als Hauptsache der Demokratie zur Geltung bringt.
In drei Kapiteln zur Demokratie als sozialer Bewegung - "Widersprechen, Sich-Widersetzen, Neu-Verfassen" - mischt Wihl engagierte Kommentare zur juristischen Kasuistik (Hassrede, Whistleblowing und so fort) mit politisch-philosophischen Großtheorien. Sein Ehrgeiz richtet sich auf Letztere. So übersetzt er den Gegensatz zwischen Herrschaftsform und Lebensform zunächst in denjenigen zwischen Repräsentation (der Regierung) und Präsenz (der Bürger, der Masse, des Volkes), und schließlich steigert er ihn zum Dualismus von "Transzendenz" und "Immanenz".
Beim Umgang mit all diesen Begriffen aus der Klasse des Superschwergewichts entpuppt sich Wihl aber leider als Leichtgewichtler. Auf drei Buchseiten spielt er damit herum, wie Hegel und Spinoza "die Immanenz der Kräfte und die Transzendenz der Worte" zusammenbringen - "vielleicht auch umgekehrt" -, um dann die "immanente Transzendenz" als Happy-End aus dem Hut zu zaubern. Oder er schreibt: "Um die Rolle einer protestativen Gewalt in der Verfassung vollständig zu ermessen, gilt es, die Institutionenordnung hin zum absoluten Geist zu überschreiten." Wer Ehrgeiz zeigt, sollte nicht mit Klugheit geizen.
Bei der "protestativen Gewalt" oder - kurz - der sogenannten Protestative handelt es sich um einen Neologismus, mit dem Wihl der alteingesessenen Trias Exekutive-Legislative-Judikative einheizen will. Als Provokation trägt das Wort dick auf, als Idee ist es dünn. Den "politischen Protest von Bürger:innen 'auf der Straße'" bezeichnet er als integralen Bestandteil gelungener Demokratie - als wäre es egal, wer sich "auf der Straße" herumtreibt. Vom Staat erwartet er, allem "Etatismus" abzusagen und "Garant von Unordnung" zu werden, doch weiß auch er, dass Protest nicht immer demokratisch auftritt. Das heißt aber, dass die "Protestative" unmöglich - wie Wihl dies einplant - als vierte Gewalt der "demokratischen Lebensform" zuzuschlagen ist.
Stattdessen müsste man eine Phänomenologie des Protests entwickeln, mit der sich verschiedene Erscheinungsformen von Demonstration, Widerstand, Revolte, Gewalt, riot, shitstorm, flashmob und so fort sortieren lassen. Das Spektrum in Geschichte und Gegenwart umfasst unter anderen Freikorps-Mitglieder und SA-Trupps in der Weimarer Republik, Südtiroler und baskische Separatisten, Halbstarke in Nachkriegsdeutschland, sogenannte Chavs in England, Friedensbewegte, Haus- und Waldbesetzer, Gelbwesten, MeToo- und Black-Lives- Matter-Aktivisten, Klimakleber, blockierende Bauern, Reichsbürger, Pegida-Demonstranten.
Wihl begnügt sich damit, nach einem flüchtigen Blick in diesen Topf ein paar vermeintliche Fehlerbeispiele herauszupicken - wie zum Beispiel "herrschaftsverhaftete Proteste" oder aber Proteste, die "in der Rebellion steckenbleiben". Wenig hilfreich zur Beantwortung der Frage, wie der Protest zur Demokratie passt, ist Wihls neue Theorie der "Öffentlichkeit", für die er vier Typen - "Gewimmel", "Widerspiegelung", "Masse" und "Vernunft" - aus dem Ärmel schüttelt.
Sie bleibt ebenso erratisch wie die These, bei der "Demonstrationsfreiheit" handle es sich um "ein Recht aufgeklärter, gebrochener Objektivität, die das Nichtidentische zulässt und sich nicht autoritär auf externe Wahrheitsansprüche versteift, also die soziologisch informierte gemeinsame Suche nach Vernunfturteilen, ohne das Gemeinwesen von einer institutionellen Entscheidung zu dispensieren". Alles klar?
Die Rechtssprechung kennt das Wort vom "Lebenssachverhalt". Als interdisziplinär kundiger Jurist ist Wihl wie geschaffen dafür, Lebenssachverhalte mit Rechtsnormen, das soziale Leben mit Staat und Verfassung zusammenzubringen. In seinem neuen Buch nimmt er diese wichtige Aufgabe auf die leichte Schulter und leistet damit der "wilden Demokratie", der er sich verschreibt, einen Bärendienst. So taugt es nur zur Erinnerung daran, dass die Demokratie nicht durch die ängstliche Verteidigung von Besitzständen und das Pochen auf Paragraphen in Schwung bleibt, sondern durch die Kraft zur Selbstbehauptung und den Mut zur Veränderung. DIETER THOMÄ
Tim Wihl: "Wilde Demokratie". Das Recht auf Protest.
Wagenbach Verlag,
Berlin 2024.
142 S., br., 16,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
An Ehrgeiz mangelt es nicht, an argumentativer Solidität dagegen sehr: Tim Wihl skizziert eine äußerst leichtgewichtige Demokratietheorie.
Der Titel von Tim Wihls neuem Buch zitiert eine wirkmächtige Formulierung des politischen Philosophen Claude Lefort aus den 1970er-Jahren. Nur eine "wilde Demokratie", so meinte der damals, sei eine wahre Demokratie. Unermüdlich begebe sie sich auf die Suche nach ihrer "Grundlage" und "Rechtfertigung", getragen sei sie von Menschen, die sich streiten und gegenseitig herausfordern. Die "wilde Demokratie" setzte Lefort gegen die "gezähmte Demokratie", gegen Verbürgerlichung und Verwaltung. Sein Plädoyer passte in eine Zeit, in der ein Bundeskanzler mehr Demokratie wagen wollte, Hannah Arendt den protestierenden Studenten in den USA zurief: "Acting is fun!" - und die Band Steppenwolf den Hit "Born to Be Wild" landete.
Vieles von dem, was Lefort seinerzeit schrieb, passt sogar noch ins Jahr 2024: seine Warnung vor der "geschwächten Lebenskraft" der Demokratie, vor der politischen "Apathie" privatisierender Bürger, vor autoritären und totalitären Tendenzen. Und doch wirkt der Ausdruck "wilde Demokratie" heute wie ein politischer Jungbrunnen, von dem der Lack ab ist. Man ist schon froh, wenn möglichst viel mit rechten Dingen zugeht und wenn die Demokratie - ob nun wild oder zahm - nicht mit dem Rücken zur Wand steht. Manche denken bei "wilder Demokratie" vielleicht sogar an den Mann, der mit Fellmütze, Büffelhörnern und Speer am 6. Januar 2021 das Kapitol stürmte (und dann zu dreieinhalb Jahren Gefängnis verurteilt wurde).
Obwohl Tim Wihl als Jurist die Achtung der Institutionen mit der Staatsexamensmilch eingesaugt hat, lässt er sich von jenen Warnsignalen nicht schrecken und entscheidet sich für die Vorwärtsverteidigung der "wilden Demokratie". Mit dem Blick zurück auf Lefort hält er sich leider nicht auf - nur ein paar beiläufige Hinweise sind ihm vergönnt. Stattdessen skizziert er auf eigene Faust eine neue Demokratietheorie, die man nach Gusto erfrischend, ehrgeizig oder erratisch nennen mag. Vielleicht ist sie auch all dies zusammen.
Die beste Idee, die in diesem Buch steckt, ist die Unterscheidung zwischen "demokratischer 'Herrschaftsform' und 'Lebensform'". Wihl erinnert daran, dass Demokratie nicht nur in Regeln und Verfahren der Machtausübung besteht, sondern gelebt werden will - von Menschen in "Präsenz", öffentlich und körperlich. Es ist erfrischend, wie Wihl jene Doppelung weiterdenkt, also die Teilhabe und auch den Widerstand der Bürger nicht als Randbedingung des Regierungssystems, sondern als Hauptsache der Demokratie zur Geltung bringt.
In drei Kapiteln zur Demokratie als sozialer Bewegung - "Widersprechen, Sich-Widersetzen, Neu-Verfassen" - mischt Wihl engagierte Kommentare zur juristischen Kasuistik (Hassrede, Whistleblowing und so fort) mit politisch-philosophischen Großtheorien. Sein Ehrgeiz richtet sich auf Letztere. So übersetzt er den Gegensatz zwischen Herrschaftsform und Lebensform zunächst in denjenigen zwischen Repräsentation (der Regierung) und Präsenz (der Bürger, der Masse, des Volkes), und schließlich steigert er ihn zum Dualismus von "Transzendenz" und "Immanenz".
Beim Umgang mit all diesen Begriffen aus der Klasse des Superschwergewichts entpuppt sich Wihl aber leider als Leichtgewichtler. Auf drei Buchseiten spielt er damit herum, wie Hegel und Spinoza "die Immanenz der Kräfte und die Transzendenz der Worte" zusammenbringen - "vielleicht auch umgekehrt" -, um dann die "immanente Transzendenz" als Happy-End aus dem Hut zu zaubern. Oder er schreibt: "Um die Rolle einer protestativen Gewalt in der Verfassung vollständig zu ermessen, gilt es, die Institutionenordnung hin zum absoluten Geist zu überschreiten." Wer Ehrgeiz zeigt, sollte nicht mit Klugheit geizen.
Bei der "protestativen Gewalt" oder - kurz - der sogenannten Protestative handelt es sich um einen Neologismus, mit dem Wihl der alteingesessenen Trias Exekutive-Legislative-Judikative einheizen will. Als Provokation trägt das Wort dick auf, als Idee ist es dünn. Den "politischen Protest von Bürger:innen 'auf der Straße'" bezeichnet er als integralen Bestandteil gelungener Demokratie - als wäre es egal, wer sich "auf der Straße" herumtreibt. Vom Staat erwartet er, allem "Etatismus" abzusagen und "Garant von Unordnung" zu werden, doch weiß auch er, dass Protest nicht immer demokratisch auftritt. Das heißt aber, dass die "Protestative" unmöglich - wie Wihl dies einplant - als vierte Gewalt der "demokratischen Lebensform" zuzuschlagen ist.
Stattdessen müsste man eine Phänomenologie des Protests entwickeln, mit der sich verschiedene Erscheinungsformen von Demonstration, Widerstand, Revolte, Gewalt, riot, shitstorm, flashmob und so fort sortieren lassen. Das Spektrum in Geschichte und Gegenwart umfasst unter anderen Freikorps-Mitglieder und SA-Trupps in der Weimarer Republik, Südtiroler und baskische Separatisten, Halbstarke in Nachkriegsdeutschland, sogenannte Chavs in England, Friedensbewegte, Haus- und Waldbesetzer, Gelbwesten, MeToo- und Black-Lives- Matter-Aktivisten, Klimakleber, blockierende Bauern, Reichsbürger, Pegida-Demonstranten.
Wihl begnügt sich damit, nach einem flüchtigen Blick in diesen Topf ein paar vermeintliche Fehlerbeispiele herauszupicken - wie zum Beispiel "herrschaftsverhaftete Proteste" oder aber Proteste, die "in der Rebellion steckenbleiben". Wenig hilfreich zur Beantwortung der Frage, wie der Protest zur Demokratie passt, ist Wihls neue Theorie der "Öffentlichkeit", für die er vier Typen - "Gewimmel", "Widerspiegelung", "Masse" und "Vernunft" - aus dem Ärmel schüttelt.
Sie bleibt ebenso erratisch wie die These, bei der "Demonstrationsfreiheit" handle es sich um "ein Recht aufgeklärter, gebrochener Objektivität, die das Nichtidentische zulässt und sich nicht autoritär auf externe Wahrheitsansprüche versteift, also die soziologisch informierte gemeinsame Suche nach Vernunfturteilen, ohne das Gemeinwesen von einer institutionellen Entscheidung zu dispensieren". Alles klar?
Die Rechtssprechung kennt das Wort vom "Lebenssachverhalt". Als interdisziplinär kundiger Jurist ist Wihl wie geschaffen dafür, Lebenssachverhalte mit Rechtsnormen, das soziale Leben mit Staat und Verfassung zusammenzubringen. In seinem neuen Buch nimmt er diese wichtige Aufgabe auf die leichte Schulter und leistet damit der "wilden Demokratie", der er sich verschreibt, einen Bärendienst. So taugt es nur zur Erinnerung daran, dass die Demokratie nicht durch die ängstliche Verteidigung von Besitzständen und das Pochen auf Paragraphen in Schwung bleibt, sondern durch die Kraft zur Selbstbehauptung und den Mut zur Veränderung. DIETER THOMÄ
Tim Wihl: "Wilde Demokratie". Das Recht auf Protest.
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Berlin 2024.
142 S., br., 16,- Euro.
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Perlentaucher-Notiz zur ZEIT-Rezension
Tim Wihl bringt mit seinem Band frischen Winde in die Debatte über die Verteidigung der Demokratie, freut sich Rezensent Lennart Bade. Dabei bereitet Wihl, so Bade, ein "assoziatives Ideennetz" von Rousseau bis Rosa Luxemburg aus, das mit neuen Gedanken zur Demokratie besticht. Wihl betont besonders deren "wilde", unvorhersehbare Seite, die mehr eine "Lebensform" denn eine Regierungsform ist, und stellt die Frage nach einer neuen Form von Protests, die Gleichheit einfordern soll, stellt der Kritiker heraus. Allerdings ist das Buch eher ein wissenschaftlicher Beitrag und hält "keine To-go-Ergebnisse" oder gar Antworten bereit, schreibt der Kritiker. Doch die Lektüre lohnt sich auf jeden Fall - auch aufgrund der Anreicherung des Bandes mit Bezügen zur Rechtsgeschichte - und ist ein "wilder Ritt durch die ziellose Ideenwelt", schließt Bade.
© Perlentaucher Medien GmbH
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