'Thelma und Louise' mitten in Paris
Als die Pariser Buchhändlerin Jeanne die Diagnose Brustkrebs bekommt, verlässt sie ihr Mann, weil er das Leid seiner Frau nicht erträgt. Den Rat ihrer Ärzte, sich Unterstützung zu suchen, setzt sie auf überraschende Weise um: Ihre engsten Verbündeten im Kampf gegen den Krebs werden Brigitte, Assia und Mélody, allesamt Frauen, denen das Schicksal nicht wohlgesinnt war. Und so zögert Jeanne nicht lang, als ihre Mithilfe gefragt ist bei einem gewagten Coup: Geplant ist ein Überfall auf den größten Juwelier der Stadt, im Herzen von Paris.
Als die Pariser Buchhändlerin Jeanne die Diagnose Brustkrebs bekommt, verlässt sie ihr Mann, weil er das Leid seiner Frau nicht erträgt. Den Rat ihrer Ärzte, sich Unterstützung zu suchen, setzt sie auf überraschende Weise um: Ihre engsten Verbündeten im Kampf gegen den Krebs werden Brigitte, Assia und Mélody, allesamt Frauen, denen das Schicksal nicht wohlgesinnt war. Und so zögert Jeanne nicht lang, als ihre Mithilfe gefragt ist bei einem gewagten Coup: Geplant ist ein Überfall auf den größten Juwelier der Stadt, im Herzen von Paris.
Dem französischen Schriftsteller Sorj Chalandon ist ein Kunststück gelungen: als Mann ein durch und durch einfühlsames Buch über Frauen mit Krebs zu schreiben. Die Presse 20201129
Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Rezensent Niklas Bender wird nicht froh mit Sorj Chalandons Roman. Für einen Krimi ist ihm die Geschichte um eine krebskranke Frau, die sich mit Hilfe einer Bande anderer Frauen zur Juwelendiebin mausert, zu rührselig, für eine ernste Erkundung eines Schicksalsschlages ist sie zu packend erzählt, zumindest stellenweise. Gute Unterhaltung aber kommt laut Bender vor allem nicht durchweg auf, weil sich der Autor einer Sprache bedient, die dem Rezensenten aus Mitleid feuchte Augen macht.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 23.01.2021Kein billiger Trost
Sorj Chalandon erzählt von vier todkranken Frauen
Brigitte, Assia, Mélody und Jeanne heißen die vier Insassen in dem schlecht geparkten Auto vor einer Luxusschmuckladen am Pariser Platz Vendôme. Drei von ihnen verbergen ihren kahlen Schädel unter einer Kunsthaarperücke. „Wie ist denn dein Name?“ hatte im Warteraum beim ersten Chemo-Termin die leutselige Brigitte ihre Nachbarin gefragt und zur Antwort ein scheues „Jeanne, Pardon“ bekommen. Jeanne Pardon, das klingt putzig und ist seither für alle ihr Name geworden. Sie entschuldigt sich ja tatsächlich für alles. Dafür, dass sie früh ihr einziges Kind verloren hat, dass es auch mit ihrem Mann nicht mehr recht läuft und dass sie nun Krebs hat. Sie ist die erzählende Hauptfigur dieses Romans.
Die Rasselbande um Brigitte, mit der die schüchterne Jeanne sich allmählich anfreundet, verhilft ihr zu ersten Akten der Auflehnung. Das beginnt auf dem Friseurstuhl. Die Dinge sollen nicht mehr einfach immer nur passiv hingenommen werden. Ihren verbleibenden Haaren will Jeanne mit der Schere „ein Schnippchen schlagen“, wie Brigitte das nennt.
So sitzt sie vor dem mit einem Rollvorhang verhüllten Spiegel im Friseursalon, während die letzten Locken vor ihr auf den Boden fallen. Die drei Komplizinnen auf den Wartesitzen reden ermunternd auf sie ein. Und in der heiteren Runde nimmt das Trotzen gegen das Unabwendbare dann spaßend, spöttelnd, manchmal keifend immer wildere Züge an.
Der 68-jährige Autor Chalandon, der bei seiner Frau und bei sich selber die Erfahrung einer Krebsdiagnose gemacht hat, schildert mit routiniertem Blick alle Details von Klinikatmosphäre, medizinischen Handgriffen, aufdringlichem Mitgefühl auf der Straße, plötzlichen Schweißausbrüchen, innerer Panik und erfrischendem Galgenhumor.
Er ist auch erfahren genug, Anflüge von Pathos, billigem Trost oder hysterischer Trotzeuphorie zu vermeiden. Jeannes plötzliche Vision im Haschrausch beim Anblick ihrer Komplizinnen, barfuß im Pyjama mit ihren kahlen Schädeln – „Ghetto, Lager“ – wird von Brigitte sofort abgeblockt: „Bitte nicht das jetzt“. Und auch wenn Jeanne plötzlich ein Foto hervorzieht von einer Frau mit aufgerissener Bluse, einem Hakenkreuz auf der Stirn und Haarbüscheln am Boden, umringt von Männern mit Schere, und mit der Inschrift auf der Rückseite „Deutschflittchen, 3. September 1944, Place Bellecour in Lyon“, ist das nur Anlass zu einem kurzen, heftigen Streit. Von Jeannes Anspruch auf besondere Empfindlichkeit gegenüber nackter Kopfhaut, weil der Mann mit der Schere auf dem Foto ihr Großvater war, wollen die anderen nichts wissen.
Chalandon versteht es, Figuren zu zeichnen und Situationen zu schildern. Doch ging ihm das Thema dieses Buchs zu nahe, als dass sein journalistischer Weitwinkelblick diesmal hätte zum Zug kommen können? Alle Anläufe, die Einigelung in die durch den eigenen Körper sich fressende Krankheit zu durchbrechen und durch Nebenhandlungen so etwas wie Welt drum herum zu schaffen, bleiben stecken. Mit dem Raubzug der vier Frauen im gestohlenen Auto zur Pariser Bijouterie kommt zwar etwas Fahrt in den eintönigen Patientinnenalltag.
Der Roman knickt da aber in eine ganz andere Story ab. Die hübsche Quintessenz liegt dann darin, dass ausgerechnet die Kranken mit einer falschen Geschichte die Gesunden vor der Wahrheit schonen.
JOSEPH HANIMANN
Sorj Chalandon:
Wilde Freude. Roman.
Aus dem Französischen von Brigitte Grosse.
dtv Verlagsgeellschaft, München 2020.
285 Seiten, 22 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Sorj Chalandon erzählt von vier todkranken Frauen
Brigitte, Assia, Mélody und Jeanne heißen die vier Insassen in dem schlecht geparkten Auto vor einer Luxusschmuckladen am Pariser Platz Vendôme. Drei von ihnen verbergen ihren kahlen Schädel unter einer Kunsthaarperücke. „Wie ist denn dein Name?“ hatte im Warteraum beim ersten Chemo-Termin die leutselige Brigitte ihre Nachbarin gefragt und zur Antwort ein scheues „Jeanne, Pardon“ bekommen. Jeanne Pardon, das klingt putzig und ist seither für alle ihr Name geworden. Sie entschuldigt sich ja tatsächlich für alles. Dafür, dass sie früh ihr einziges Kind verloren hat, dass es auch mit ihrem Mann nicht mehr recht läuft und dass sie nun Krebs hat. Sie ist die erzählende Hauptfigur dieses Romans.
Die Rasselbande um Brigitte, mit der die schüchterne Jeanne sich allmählich anfreundet, verhilft ihr zu ersten Akten der Auflehnung. Das beginnt auf dem Friseurstuhl. Die Dinge sollen nicht mehr einfach immer nur passiv hingenommen werden. Ihren verbleibenden Haaren will Jeanne mit der Schere „ein Schnippchen schlagen“, wie Brigitte das nennt.
So sitzt sie vor dem mit einem Rollvorhang verhüllten Spiegel im Friseursalon, während die letzten Locken vor ihr auf den Boden fallen. Die drei Komplizinnen auf den Wartesitzen reden ermunternd auf sie ein. Und in der heiteren Runde nimmt das Trotzen gegen das Unabwendbare dann spaßend, spöttelnd, manchmal keifend immer wildere Züge an.
Der 68-jährige Autor Chalandon, der bei seiner Frau und bei sich selber die Erfahrung einer Krebsdiagnose gemacht hat, schildert mit routiniertem Blick alle Details von Klinikatmosphäre, medizinischen Handgriffen, aufdringlichem Mitgefühl auf der Straße, plötzlichen Schweißausbrüchen, innerer Panik und erfrischendem Galgenhumor.
Er ist auch erfahren genug, Anflüge von Pathos, billigem Trost oder hysterischer Trotzeuphorie zu vermeiden. Jeannes plötzliche Vision im Haschrausch beim Anblick ihrer Komplizinnen, barfuß im Pyjama mit ihren kahlen Schädeln – „Ghetto, Lager“ – wird von Brigitte sofort abgeblockt: „Bitte nicht das jetzt“. Und auch wenn Jeanne plötzlich ein Foto hervorzieht von einer Frau mit aufgerissener Bluse, einem Hakenkreuz auf der Stirn und Haarbüscheln am Boden, umringt von Männern mit Schere, und mit der Inschrift auf der Rückseite „Deutschflittchen, 3. September 1944, Place Bellecour in Lyon“, ist das nur Anlass zu einem kurzen, heftigen Streit. Von Jeannes Anspruch auf besondere Empfindlichkeit gegenüber nackter Kopfhaut, weil der Mann mit der Schere auf dem Foto ihr Großvater war, wollen die anderen nichts wissen.
Chalandon versteht es, Figuren zu zeichnen und Situationen zu schildern. Doch ging ihm das Thema dieses Buchs zu nahe, als dass sein journalistischer Weitwinkelblick diesmal hätte zum Zug kommen können? Alle Anläufe, die Einigelung in die durch den eigenen Körper sich fressende Krankheit zu durchbrechen und durch Nebenhandlungen so etwas wie Welt drum herum zu schaffen, bleiben stecken. Mit dem Raubzug der vier Frauen im gestohlenen Auto zur Pariser Bijouterie kommt zwar etwas Fahrt in den eintönigen Patientinnenalltag.
Der Roman knickt da aber in eine ganz andere Story ab. Die hübsche Quintessenz liegt dann darin, dass ausgerechnet die Kranken mit einer falschen Geschichte die Gesunden vor der Wahrheit schonen.
JOSEPH HANIMANN
Sorj Chalandon:
Wilde Freude. Roman.
Aus dem Französischen von Brigitte Grosse.
dtv Verlagsgeellschaft, München 2020.
285 Seiten, 22 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 07.04.2021Der Diebstahl des Heiligen Feuers
Sorj Chalandon versucht sich mit seinem neuen Roman "Wilde Freude" an einer Hybriderzählung aus Krimi und Krankengeschichte.
Ein Krankheitsroman, der zum packenden Krimi wird: "Wilde Freude" beweist das erzählerische Geschick von Sorj Chalandon, muss jedoch mit seinen Schwächen in Psychologie und Sprache leben. Die Geschichte der reservierten Buchhändlerin Jeanne Hervineau, die mit vierzig Jahren durch Brustkrebs aus ihrer ruhigen Existenz gerissen wird, eine Bande frecher Frauen um die Bretonin Brigitte trifft und mit ihnen einen Juwelier ausraubt, ist gut konstruiert und streckenweise rasant erzählt. Zusammen ergeben die Bestandteile eine Emanzipationsgeschichte, das brave Bürgermädchen wird zur starken Frau. Vor allem bedeutet das Unterhaltung, denn dazu dienen Krimis zunächst - und Krankheitsromane offensichtlich auch. Letztere stellen heutzutage ein eigenes, existentiell mitreißendes, aber nicht immer hochliterarisches Genre dar, in Frankreich vor allem bedient durch Delphine de Vigan.
Chalandon, der es mit dem Bergarbeiterroman "Am Tag davor" auf die "Spiegel"-Bestsellerliste geschafft hat, geht in die Vollen: Es wird mutiert, therapiert, geheilt, gestorben. Jeanne geht vorbelastet ins Rennen, fünf Jahre zuvor haben ihr Gatte Matt und sie den siebenjährigen Sohn Jules verloren: "Als unser Kind die Augen schloss, hörten unsere auf zu glänzen." Der Satz hat gegenperformative Kraft, er bringt tränenfeuchtes Leuchten in die Augen der Leser - bei rührseligen aus Mitleid mit der Figur, bei anspruchsvollen aus Mitleid mit der Sprache. Damit wäre geklärt, was Chalandon nicht kann: kitschfrei schreiben. Trotz gelungener Passagen bleibt ein Geheimnis, wie das Urteil in die Welt kam, diese Buch erlaubte sich keine Sentimentalitäten.
Matt hält Jeannes Erkrankung nicht aus und lässt sie fallen wie eine heiße Kartoffel. Freilich muss man angesichts des Ehelebens - er spricht nur von sich, und im Bett sieht Jeanne nur "Matts Rücken. Mein nächtlicher Anblick seit Jules' Tod" - eher von einem Katalysatorereignis sprechen, das den schleichenden Verfall sichtbar macht und beschleunigt: Der Verlust wiegt nur insofern, als er die Isolation vergrößert. Wie zu erwarten, berichtet der Krankenroman vom Kampf mit Symptomen und sozialen Folgen, also Einsamkeit und Stigmatisierung; ihre Arbeit in der Buchhandlung "Livres à Vous" muss Jeanne ruhen lassen. Die Erzählung hat einen bedrückenden biographischen Hintergrund: Im Januar 2018 wurde erst bei Chalandons Frau und elf Tage darauf bei ihm selbst Krebs diagnostiziert, der Roman nimmt beider Erfahrungen auf.
Während der Chemotherapie wird Jeanne von Brigitte angesprochen, einer rockigen Fünfzigjährigen, die eine Crêperie betreibt und mit ihrer Lebensgefährtin Assia eine WG begründet hat. Mit von der Partie ist die ebenfalls krebskranke Mélody, deren Tochter Eva von ihrem russischen Vater nach Wolgograd entführt wurde. Jeanne zieht in die WG, die Damen teilen ihr Schicksal - üble Typen, verlorene Kinder - sowie diverse Flaschen und Joints; man muss Chalandon lassen, dass er den Trotz der Bande mit ruppigem Schnodder darstellt. Als Mélodys Ehemaliger angeblich anbietet, die Tochter für Lösegeld zu überlassen, wird der Überfall auf einen Juwelier an der Place Vendôme geplant, um das Medaillon "Heiliges Feuer" und das Collier "Quetzal impérial" zu rauben.
Aus "Wilde Freude" wird ein packender Krimi: Das Quartett spioniert das exquisite Geschäft aus, Assia hat ihren großen Auftritt als zickige Saudi-Prinzessin, und Brigitte mimt die serbische Bandenkriminelle, um eine falsche Fährte zu legen. Jeanne blüht auf, wird angesichts der Gefahr endgültig die Rolle des braven Opfers los und denkt mit Genuss an den überwältigten Wachmann: "Die kleine Jeanne, das kleine Frauchen, das kleine Nichts, zur Kriegerin erhoben durch den Kameliengeneral. Ich, die schon als Kind die Augen niederschlug und ihr Herz bezwang, um niemanden zu verletzen, hatte ihn in der Hand. Ich, das Inbild des Sieges." Na, das ist mal wirklich eine Wilde. Chalandon erzählt den Krimi-Teil mit Freude am Detail, der Spannungsbogen gelingt, ebenso die Kehrtwende am Ende (den Kniff kennen Chalandon-Leser aus "Am Tag davor"). Denn Mélody hat gar kein Kind und ist nicht die, die sie zu sein vorgibt; die Frauensolidarität bekommt einen ordentlichen Knacks.
Die Lösung des Ganzen hingegen ist verdruckst, wie insgesamt der Eindruck überwiegt, dass der Roman nicht recht zu wählen weiß. Gute Unterhaltung? Dafür werden zu lang Trauer und teils wehleidige Introspektion betrieben, Handlung und Figuren treten auf der Stelle. Und: Muss Jeanne noch Mann und Sohn verlieren, immer tiefer im Schlamm weiblichen Elends und männlicher Widerwärtigkeit versinken? Eine überzeugende psychologische Studie wird so ebenfalls nicht daraus, zu flach die Figuren, zu innovationsarm die Sprache, zu viele Stereotype allerorten.
Eine Ente charakterisiert die Schwächen treffend. Im Bois de Vincennes folgt sie Schwänen, und Jeanne, die den Schwimmvogel Gavroche getauft hat, nach dem Straßenkind aus Victor Hugos "Die Elenden", identifiziert sich mit ihm: "Allein, übel zugerichtet, tollpatschig und hässlich angesichts der stolzen weißen Vögel, aber lebendig, ohne Hass, ohne Zorn und ohne vor irgendetwas Angst zu haben." Gavroches Apotheose liefert den krönenden Schluss, ein Märchenmotiv, Version vierzigjährige Buchhändlerin im Gangstermodus: nicht ganz daneben, aber auch nicht wirklich gut.
NIKLAS BENDER
Sorj Chalandon: "Wilde Freude". Roman.
Aus dem Französischen von Brigitte Große. dtv, München 2020. 286 S., geb., 22,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Sorj Chalandon versucht sich mit seinem neuen Roman "Wilde Freude" an einer Hybriderzählung aus Krimi und Krankengeschichte.
Ein Krankheitsroman, der zum packenden Krimi wird: "Wilde Freude" beweist das erzählerische Geschick von Sorj Chalandon, muss jedoch mit seinen Schwächen in Psychologie und Sprache leben. Die Geschichte der reservierten Buchhändlerin Jeanne Hervineau, die mit vierzig Jahren durch Brustkrebs aus ihrer ruhigen Existenz gerissen wird, eine Bande frecher Frauen um die Bretonin Brigitte trifft und mit ihnen einen Juwelier ausraubt, ist gut konstruiert und streckenweise rasant erzählt. Zusammen ergeben die Bestandteile eine Emanzipationsgeschichte, das brave Bürgermädchen wird zur starken Frau. Vor allem bedeutet das Unterhaltung, denn dazu dienen Krimis zunächst - und Krankheitsromane offensichtlich auch. Letztere stellen heutzutage ein eigenes, existentiell mitreißendes, aber nicht immer hochliterarisches Genre dar, in Frankreich vor allem bedient durch Delphine de Vigan.
Chalandon, der es mit dem Bergarbeiterroman "Am Tag davor" auf die "Spiegel"-Bestsellerliste geschafft hat, geht in die Vollen: Es wird mutiert, therapiert, geheilt, gestorben. Jeanne geht vorbelastet ins Rennen, fünf Jahre zuvor haben ihr Gatte Matt und sie den siebenjährigen Sohn Jules verloren: "Als unser Kind die Augen schloss, hörten unsere auf zu glänzen." Der Satz hat gegenperformative Kraft, er bringt tränenfeuchtes Leuchten in die Augen der Leser - bei rührseligen aus Mitleid mit der Figur, bei anspruchsvollen aus Mitleid mit der Sprache. Damit wäre geklärt, was Chalandon nicht kann: kitschfrei schreiben. Trotz gelungener Passagen bleibt ein Geheimnis, wie das Urteil in die Welt kam, diese Buch erlaubte sich keine Sentimentalitäten.
Matt hält Jeannes Erkrankung nicht aus und lässt sie fallen wie eine heiße Kartoffel. Freilich muss man angesichts des Ehelebens - er spricht nur von sich, und im Bett sieht Jeanne nur "Matts Rücken. Mein nächtlicher Anblick seit Jules' Tod" - eher von einem Katalysatorereignis sprechen, das den schleichenden Verfall sichtbar macht und beschleunigt: Der Verlust wiegt nur insofern, als er die Isolation vergrößert. Wie zu erwarten, berichtet der Krankenroman vom Kampf mit Symptomen und sozialen Folgen, also Einsamkeit und Stigmatisierung; ihre Arbeit in der Buchhandlung "Livres à Vous" muss Jeanne ruhen lassen. Die Erzählung hat einen bedrückenden biographischen Hintergrund: Im Januar 2018 wurde erst bei Chalandons Frau und elf Tage darauf bei ihm selbst Krebs diagnostiziert, der Roman nimmt beider Erfahrungen auf.
Während der Chemotherapie wird Jeanne von Brigitte angesprochen, einer rockigen Fünfzigjährigen, die eine Crêperie betreibt und mit ihrer Lebensgefährtin Assia eine WG begründet hat. Mit von der Partie ist die ebenfalls krebskranke Mélody, deren Tochter Eva von ihrem russischen Vater nach Wolgograd entführt wurde. Jeanne zieht in die WG, die Damen teilen ihr Schicksal - üble Typen, verlorene Kinder - sowie diverse Flaschen und Joints; man muss Chalandon lassen, dass er den Trotz der Bande mit ruppigem Schnodder darstellt. Als Mélodys Ehemaliger angeblich anbietet, die Tochter für Lösegeld zu überlassen, wird der Überfall auf einen Juwelier an der Place Vendôme geplant, um das Medaillon "Heiliges Feuer" und das Collier "Quetzal impérial" zu rauben.
Aus "Wilde Freude" wird ein packender Krimi: Das Quartett spioniert das exquisite Geschäft aus, Assia hat ihren großen Auftritt als zickige Saudi-Prinzessin, und Brigitte mimt die serbische Bandenkriminelle, um eine falsche Fährte zu legen. Jeanne blüht auf, wird angesichts der Gefahr endgültig die Rolle des braven Opfers los und denkt mit Genuss an den überwältigten Wachmann: "Die kleine Jeanne, das kleine Frauchen, das kleine Nichts, zur Kriegerin erhoben durch den Kameliengeneral. Ich, die schon als Kind die Augen niederschlug und ihr Herz bezwang, um niemanden zu verletzen, hatte ihn in der Hand. Ich, das Inbild des Sieges." Na, das ist mal wirklich eine Wilde. Chalandon erzählt den Krimi-Teil mit Freude am Detail, der Spannungsbogen gelingt, ebenso die Kehrtwende am Ende (den Kniff kennen Chalandon-Leser aus "Am Tag davor"). Denn Mélody hat gar kein Kind und ist nicht die, die sie zu sein vorgibt; die Frauensolidarität bekommt einen ordentlichen Knacks.
Die Lösung des Ganzen hingegen ist verdruckst, wie insgesamt der Eindruck überwiegt, dass der Roman nicht recht zu wählen weiß. Gute Unterhaltung? Dafür werden zu lang Trauer und teils wehleidige Introspektion betrieben, Handlung und Figuren treten auf der Stelle. Und: Muss Jeanne noch Mann und Sohn verlieren, immer tiefer im Schlamm weiblichen Elends und männlicher Widerwärtigkeit versinken? Eine überzeugende psychologische Studie wird so ebenfalls nicht daraus, zu flach die Figuren, zu innovationsarm die Sprache, zu viele Stereotype allerorten.
Eine Ente charakterisiert die Schwächen treffend. Im Bois de Vincennes folgt sie Schwänen, und Jeanne, die den Schwimmvogel Gavroche getauft hat, nach dem Straßenkind aus Victor Hugos "Die Elenden", identifiziert sich mit ihm: "Allein, übel zugerichtet, tollpatschig und hässlich angesichts der stolzen weißen Vögel, aber lebendig, ohne Hass, ohne Zorn und ohne vor irgendetwas Angst zu haben." Gavroches Apotheose liefert den krönenden Schluss, ein Märchenmotiv, Version vierzigjährige Buchhändlerin im Gangstermodus: nicht ganz daneben, aber auch nicht wirklich gut.
NIKLAS BENDER
Sorj Chalandon: "Wilde Freude". Roman.
Aus dem Französischen von Brigitte Große. dtv, München 2020. 286 S., geb., 22,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main